Katrin Köhl

Windmühlentage


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zu. Am Abgang zur S-Bahn wollte Eva sich verabschieden, doch Ruben zog sie mit sich auf die Rolltreppe und legte seine Arme um sie. Es war das erste Mal, dass sie sich küssten, seit jener Nacht in Nürtingen.

      »Komm mit zu mir.«

      Er sagte es ganz leise. Sein Mund an ihrem Ohr, seine Locken kitzelten ihr Gesicht. Eva spürte, wie ihr Herz zu pochen begann. Am liebsten wäre sie wieder davongelaufen. Aber auf der langen Rolltreppe gab es kein Entrinnen.

      »Ich kann nicht, ich habe meinem Vater versprochen, morgen früh zu Hause zu sein.«

      Die Essenszeiten waren Bernd heilig. Was würde er sagen, wenn sie nicht rechtzeitig zum Frühstück unten in der Küche wäre? Ruben strich ihr übers Haar.

      »Jetzt ist nicht morgen früh. Die Nacht ist noch lang.«

      Als sie unten waren, kam die Bahn. Ruben lachte, zog Eva an der Hand.

      »Komm!«

      Ehe sie es sich anders überlegen konnte, hatten die Türen der S-Bahn sich hinter ihr geschlossen.

      Eine kleine Maisonette-Wohnung im Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Das erste, was Eva wahrnahm, als Ruben die Tür aufschloss, war der Geruch nach Terpentin. Er ging ihr voran und knipste das Licht an. Eine große schwarze Leuchte auf einem Stativ, die auf eine Leinwand gerichtet war. Eva machte ein paar Schritte in den Raum. Eine Tischplatte auf zwei Holzböcken, einige Klappstühle, bedeckt mit Papier, Leinwänden, Farbtuben, Malutensilien. Zwei lange Bambusrollos hingen vor den bodentiefen Fenstern. Durch eine offene Tür blickte Eva in ein winziges Badezimmer, auch hier sah sie Farbtuben, Pinsel, Malschwämme. In der Ecke neben den großen Fenstern befand sich die Kochnische. Daneben führte eine Treppe zur oberen Ebene. An der gegenüberliegenden Wand hatte Ruben mehrere weiß lackierte Metallschienen angebracht, an denen Skizzen und Zeichnungen mit Magneten befestigt waren. Gebäude, Zeichnungen von Bühnenbildern. Und sie selbst. In Bleistift, Kohle und Tusche. Im Profil an der Bar des Cortina, den Blick in die Ferne gerichtet. Mit offenen Haaren und geschlossenen Augen auf dem Sofa in Nürtingen. Unsicher schauend, den Mantelkragen hochgeklappt, an der Tür ihres Autos.

      »Möchtest du Tee?«

      Ruben hatte in der Ecke über dem Herd Licht gemacht und einen Wasserkocher angestellt. Die Wände in der kleinen Nische waren grün gestrichen. Auf einem Regal stapelten sich Teedosen, Gläser mit Vorräten, Geschirr.

      Ruben holte eine große bunte Dose vom Regal.

      »Hausmischung von meiner Oma in Spanien.«

      Er löffelte etwas Tee in eine alte blaue Kanne und goss Wasser darüber. Dann räumte er zwei der Klappstühle frei, stellte für Eva eine geblümte Tasse und für sich selbst ein Glas Rotwein auf eine Ecke des Tisches.

      »Voilà.«

      Eva stand noch immer vor der Wand mit den Magnetschienen.

      »Hast du die Zeichnungen aus dem Gedächtnis gemacht?«

      Er nickte.

      »Aus dem Gedächtnis und nach Gefühl.«

      »Sie sind schön. Aber auch irgendwie traurig.«

      »Du warst oft traurig, oder?«

      Eva schluckte. Sie fühlte sich verstanden. Gleichzeitig machte es ihr Angst, dass er so genau zu wissen schien, wie es ihr ging. Ruben goss Tee ein und reichte ihr die Tasse. Eva blies vorsichtig darüber. Sie zeigte auf die angeleuchtete Leinwand. Umrisse einer Hochhauskulisse in dunklen Farben.

      »Was malst du im Moment?«

      Ruben hob einen Stapel Fotos auf, der hinter der Staffelei auf dem Boden lag. Aufnahmen von jungen Männern, die über Mauern sprangen, Wände hochkletterten, einer schien auf den Händen eine Treppe hinauf zu gehen.

      »Ich war im letzten Frühjahr in Paris. Dort stieß ich auf diese Parkourgruppe. Die Herausforderung beim Parkour ist es, auf direktem Weg von einem Punkt zum anderen zu kommen und die Hindernisse, die im Weg stehen, nur mit der eigenen Körperkraft zu überwinden.«

      Er zeigte auf eines der Fotos.

      »Schau, sie springen über eine große Distanz ganz genau auf einen Punkt. Das hier – «, Ruben tippte auf eine kleine Gestalt in roter Wollmütze und weitem Sweatshirt,» – das ist ein Mädchen. Sie war vielleicht fünfzehn und rannte senkrecht die Wand hoch als wäre es eine normale Straße!«

      Er legte den Stapel beiseite, trank einen Schluck Wein.

      »Ich experimentiere gerade mit diesem Motiv. Der Stadt und diesen jungen Menschen, die sie als ihren Spielplatz nutzen. Steinlandschaften, Hochhausschluchten, Banlieues, die scheinbar keine Luft zum Atmen lassen – und Menschen, die einfach beschließen, darüber hinweg zu fliegen.«

      Eva schloss die Augen. Sie fühlte sich müde und schwer.

      »Manchmal wünschte ich mir auch, ich könnte fliegen.«

      Ruben nahm ihre Hand.

      »Es ist nicht so schwierig, wie du denkst.«

      Er schlief. Eva spürte seinen Atem an ihrem Hals, wagte nicht, sich zu bewegen. Sie wollte Ruben nicht wecken. Einen kurzen Moment würde sie noch hier liegen, in der warmen Stille verweilen, bevor sie nach Hause fuhr. Die breite Matratze lag auf dem Boden. Sie füllte den kleinen Raum unter dem Dach fast ganz aus. Eva schaute auf die Bücherstapel, die sich rings um Rubens Schlafplatz türmten. Bildbände über alle Epochen der Kunst, Ausstellungskataloge, ein Lexikon der Kunstgeschichte. Dazwischen Zeitschriften, einige Comicbände. Sie dachte an ihr eigenes Zimmer. Auch bei ihr gab es Stapel auf dem Boden. Wenn sie nachts aufwachte, beruhigte es sie, ihre Bücher um sich zu wissen. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, um im Dunkeln über den rauen Einband eines lateinischen Wörterbuchs zu streichen. Leskiens Handbuch der altbulgarischen Sprache lag am Kopfende, die russische Grammatik direkt daneben. In der Nacht, wenn die Konturen verschwammen, alle Gewissheiten des Tages sich aufzulösen drohten, waren die Bücher Evas Schutz. Sie bewahrten die Struktur. Jede Veränderung war in ihnen dokumentiert, erklärt, in einen sinnvollen Zusammenhang gesetzt. Nichts geschah einfach so. Nichts verschwand spurlos.

      Im Licht der kleinen Lampe neben Rubens Matratze sah Eva die Reihe bunter Turnschuhe, die an einer Seite standen. Daneben eine Kleiderstange, an der seine dunklen Hemden und ein paar Jeans hingen. Die schrägen hellen Holzdecken erinnerten Eva an das Kinderzimmer ihrer Freundin Tanja. Es war ebenfalls unter dem Dach gewesen. Ein sicherer Hafen, dem die Dunkelheit auf wundersame Weise nichts anhaben konnte. Ein Ort, der blieb. Keine Nacht der Welt machte ihn verschwinden. Wenn Eva in diesem schützenden Zelt ankam, wusste sie, dass sie gefahrlos die Augen schließen konnte. Sie blinzelte, versuchte, zu zählen, wie viele Turnschuhpaare Ruben besaß. Rot, grün, gelb …

      Der Duft von Kaffee zog ihr in die Nase. Sie öffnete die Augen. Die Wärme des Bettes, die schützende Dachschräge über ihr. Einen Moment fühlte Eva sich warm und geborgen. Dann schreckte sie hoch, schaute auf die Uhr. Kurz nach neun. Sie sollte längst zu Hause sein. Ihr Vater wusste nicht einmal, wo sie war. Schnell sammelte sie ihre Kleider vom Boden und zog sich an. Ruben stand am Fuß der Treppe, als sie nach unten kam.

      »Ich wollte gerade zum Bäcker radeln. Was soll ich dir mitbringen?«

      Eva schaute sich suchend nach ihrer Handtasche um, entdeckte sie schließlich an einem der Garderobenhaken an der Tür.

      »Ich muss los. Mein Vater wartet sicher schon. Wenn ich samstags nicht arbeite, frühstücken wir immer um neun zusammen.«

      »Ruf ihn doch an. Er ist sicher nicht böse, wenn du einmal nicht da bist.«

      Eva schüttelte den Kopf.

      »Du kennst ihn nicht. Bei Familienritualen ist er eigen.«

      Ruben schaute sie an. Einen Moment sagte er nichts, schien zu überlegen. Dann machte er einen Schritt auf Eva zu, strich ihr über die Wange.

      »Ich möchte nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst. Geh nur, wir können ja später noch telefonieren.«

      Eva