Platons Gleichnissen verbracht. Ihre Bedeutungen für aktuelle Wahrnehmungstheorien waren kaum zu unterschätzen. Wahrnehmung, ob direkt mit dem Auge oder indirekt mit irgendwelchen Messgeräten, war der Ausgangspunkt jeglicher physikalischen Theorie. Hier trafen sich der Physiker Maxim und der an den Grundgesetzen des Denkens interessierte Sokrates.
Im diesem Höhlengleichnis34 bot der Weg aus der Höhle ans Licht die Möglichkeit, Verschiedenes zu sehen, aber auch gleiche Dinge unterschiedlich zu sehen. Letzteres Detail fand Maxim besonders interessant. Wieder und wieder stellte sich die Wirklichkeit anders dar. Obwohl die Wirklichkeit - was auch immer sie war, er nannte es X – als immer gleich angenommen wurde, erschien sie auf viele verschiedene Sichtweisen.
Wurde eine Vase hochgehalten und deren Schatten wahrgenommen, war dies das eine. Die Vase an sich zu sehen, war das andere. Zwei Sichtweisen der selben Vase, nur gesehen unter unterschiedlichen Bedingungen. Wahrgenommene Wirklichkeit war eine Funktion von Ort und Zeit!
Eines Abends hatten die Freunde begonnen, das formal, mathematisch zu schreiben. Maxim stand am Screen:
„Zu einem Raumzeitpunkt35 i, statt einer Nummer nehmen wir hier ersatzweise den Buchstaben i, haben wir ein X, das in irgendeiner Sichtweise vom Beobachter B wahrgenommen wird.
Damit aus dem X eine Wahrnehmung, eine Sicht wird, muss mit dem X etwas gemacht werden. Solche Macher werden in der Fachsprache Operatoren genannt. Ein Operator V wirkt auf X, das Ergebnis sieht der Beobachter B.“
Er schrieb:
V[X] = > B
„So weit einfach“, meinte Sokrates und ergänzte: „Wenn wir mehrere Beobachter an unterschiedlichen Stellen haben, sehen sie alle jeweils die Sache anders. Der Operator V hängt vom Ort x,y,z des Beobachters und von der Zeit t ab.“
Maxim erweiterte auf dem Screen:
V(x,y,z,t) [X] = > B
Er fuhr fort: „Der Operator hängt natürlich auch vom Beobachter ab, stell dir vor, der hat eine Sonnenbrille auf.“
Die Formel wurde ergänzt:
V(x,y,z,t,B) [X] = > B
„Du hast den Raumzeitpunkt vergessen. Das X ist an einem bestimmten Raumzeitpunkt.“ Sokrates wies auf dieses wichtige Detail hin.
„Danke“, antwortete Maxim. Auf dem Schirm stand jetzt:
V(x,y,z,t,B) [X(i)] = > B
„Wann hier wo welcher Punkt im Raum und welche Zeit einzusetzen ist, klären wir noch. Die Sache ist diffizil, weil der Operator V für seine Arbeit ja ebenfalls Zeit benötigt. Lass uns das zunächst an einem Beispiel veranschaulichen. Im Moment sind wir weit weg vom Höhlengleichnis.“
„Was hast du im Kopf?“ fragte Sokrates.
Maxim antwortete:
„Nehmen wir einen Stuhl. Erster Fall: Du siehst den Stuhl in Form eines Schattens, der Operator Vi ist im physikalischen Sinn das Verfahren, mit einer Lichtquelle einen Schatten zu bilden.
Vi(x,y,z,t,B) [X(i)] = > B: Schattenbild
Zweiter Fall: Du siehst den Stuhl in Form einer dreidimensionalen, farbigen Gestalt, der Operator V2 ist deutlich komplizierter.
V2(x,y,z,t,B) [X(i)] = > B: dreidimensionales, farbiges Bild
Üblicherweise bezeichnen wir den zweiten Fall als die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das Höhlengleichnis lehrt uns, dass wir ja nicht wissen, wo wir sind. Gefesselt oder im Kino laufend oder auf dem Strip? Was die Wirklichkeit eigentlich ist, wissen und sehen wir nicht. Deswegen habe ich sie ja X genannt. Bist du soweit einverstanden?“
Das war eher eine rhetorische Frage an Sokrates. Maxim fuhr fort:
„Ich schlage zur Terminologie vor, dass wir statt Abbildung das Wort Manifestation benutzen, es scheint mir allgemeiner und besser passend zu sein. Eine Manifestation ist das, was wir wahrnehmen. Sie ergibt sich durch Anwendung eines Operators V auf das X.
Damit können wir zum Beispiel eine Videokamera beschreiben. Sie erzeugt von einer Wirklichkeit X nach gewissen technischen Verfahren V ein Bild B, eine Manifestation MF.“
„War das der Grund, warum du den Buchstaben V als Symbol für den Operator gewählt hast? Damit man sich V = Verfahren oder Beispiel Videokamera merken kann?“ wollte Sokrates wissen.
„Eigentlich nicht“, antwortete Maxim. „Das kam aus meinem Kopf, vermutlich war mir der Buchstabe f für Funktion nicht passend, und da bin ich auf v verfallen.“
„Interessant“, murmelte Sokrates, „was im Unbewussten parallel abläuft. Zurück zu unserer ersten Formel!
V [X] = > MF
MFs, also Manifestationen können in biologischen Wesen, in technischen Geräten und mehr auftauchen. Wenn Frank davon hört, wird er seine Kybernetik umschreiben.“
„Ja“, meinte Maxim, „Pierre würde sagen: Jeder Fühler, der etwas registriert oder misst, erzeugt eine Manifestation. Für die Raumtemperaturreglung manifestiert der Temperaturfühler die aktuelle Temperatur.“
„Das scheint ein umfassendes Konzept zu sein. Diese neue Sichtweise wird uns sicherlich Überraschungen bereiten“, stellte Sokrates fest.
Maxim ergänzte: „Noch mal die Videokamera. Die Optik, das Objektiv, erzeugt ein Bild auf dem Sensor, eine Manifestation. Der Sensor wandelt das in elektrische Signale um, aus einer Manifestation wird eine andere. Diese Manifestation kann gespeichert und wieder abgerufen werden. Irgendwann haben wir den Film auf dem Screen, wieder eine andere Manifestation. Lange Rede, kurzer Sinn: Auch eine Manifestation kann die Quelle einer Manifestation sein.
Umgekehrt: Ob die vermutete Wirklichkeit X also wirklich ist oder nur eine Manifestation von etwas anderem, kann nicht entschieden werden. Vielleicht gilt ‚Alles ist eine Manifestation‘. Das bleibt nach diesem Ansatz eine rein spekulative Frage. Eventuell gibt es aber auch eine Art Ursuppe als Basis für alle Manifestationen. Wenn wir die manipulieren könnten, das wäre was!“
„Stopp, bleib auf dem Teppich“, meinte Sokrates, „wir schlafen erst einmal darüber. Das ist nicht nur ein theoretischer Ansatz, sondern auch ein in der Praxis anwendbares Verfahren. Wenn es eine ordentliche Theorie wird, müssen sich bisher unbekannte Formen der Anwendung voraussagen lassen. Das wird spannend.“
In seinem Kopf tauchte ein anderer Satz auf: ‚Wirklichkeit ist das, was eine Spur in deinem Kopf hinterläßt.‘
Sokrates überlegte kurz. ‚War die Spur eine Manifestation? Ja, das ging, aber der Begriff Wirklichkeit war hier vermutlich falsch. Sollte es nicht heißen: Manifestationen sind das, was eine Spur, eine andere Manifestation, in deinem Kopf hinterläßt? Das hört sich im ersten Moment besser an, hier muß ich noch nachdenken.‘
33 Platon, um 400 v.Chr., hat mehrfach Gleichnisse benutzt, um seine Ansichten zu verdeutlichen.
34 Platon: Politeia, Siebentes Buch 106. a) und 106. b); Übersetzer: Friedrich Schleiermacher, gekürzt aus: http://gutenberg.spiegel.de/buch/politeia-4885/1 (30.8.2017)
35 Mit einem Raumzeitpunkt ist ein Ort in einem Raum zu einer genau angegeben Zeit gemeint. Physikalisch grundsätzlich vorhandene Unschärfen werden vernachlässigt.
11 To-Do !?
Daphne hatte sich die Aufzeichnungen der Satelliten angesehen. La Ferme schien ein altes, kleines Landgut in der oberrheinischen Tiefebene zu sein. Ein einspuriger, mit einer alten Teerdecke befestigter Weg, führte zu einem Tor innerhalb eines Türmchens. Nach längerem Überlegen hatte sie beschlossen, dort unangekündigt vorbeizuschauen.
Leise surrend folgte ihr Elektro, vom Autopiloten gesteuert, dem Weg, den alte Platanen säumten. In La Ferme blinkten, in allen Räumen versteckt angebrachte, rote Leuchtdioden auf. Maxim, der sich gerade einen grünen Tee gemacht hatte, reagierte zuerst. Ein Blick auf den Screen neben der Tür zeigte, dass sich ein fremdes Fahrzeug dem Anwesen näherte.