Heidrun Wolkenstein

Der Mann aus Samangan


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genauso wie die Liebe, die ich für Farid empfand.

      Am nächsten Tag meldete sich Farid schon um 9.00 Uhr Früh. Ich war überglücklich, als ich seinen Namen am Handy-Display sah. „Möchtest du mich wirklich nach Deutschland fahren?“, fragte er vorsichtig. „Ja natürlich!“, antwortete ich, ohne weiter darüber nachzudenken.

      „Okay“, sagte er weiter. „Dann komm zu dieser einen Grenze und warte auf der Deutschen Seite. Mein Cousin bringt mich zur österreichischen Grenze. Von da will ich allein zu Fuß über diese Brücke gehen und dann fahren wir zusammen weiter, okay?“ Selbstverständlich war das okay für mich. Sogar wenn er gesagt hätte, wir müssten zwei Stunden durch den Fluss schwimmen, wäre es für mich auch in Ordnung gewesen. Für jemanden, den man liebt, tut man alles.

      Also machte ich mich gleich auf den Weg, um rechtzeitig zu Mittag am vereinbarten Treffpunkt zu sein. Ich schnappte Felix und fuhr los.

      Bei der vereinbarten Grenze angekommen, fand ich keinen Parkplatz, also fuhr ich auf die österreichische Seite und fand gleich einen. Ich entschloss mich, dort zu warten. Die Zeit verging und er kam nicht. Er müsste eigentlich längst da sein und er schrieb mir auch, dass er bereits da war. Aber so wie es aussah, an einer anderen Stelle. Schließlich fanden wir doch zueinander. Ich war überglücklich, als er zusammen mit seinem Cousin aus dem grauen Toyota ausstieg. Zuerst verstauten wir seinen Rucksack im Kofferraum meines Wagens. „Warum bist du hier?“, fragte er. „Du solltest doch auf der anderen Seite warten?“ Er lachte, als ich ihm erklärte, dass es drüben keinen Parkplatz gab. Aber es gefiel ihm sichtlich, dass ich ohne Furcht war. Meine Liebe zu ihm war einfach stärker als die Angst vor dem Gesetz oder einem Staat, der mir meine Liebe nicht vergönnt war und mich ohnehin nur aussaugte. „Ich schlage vor, wir gehen erstmal was essen?“, sagte er fröhlich. Gute Idee! So konnte ich mehr Zeit mit ihm zusammen verbringen. Also suchten wir zu dritt nach einem Lokal und fanden schon bald eine kleine Pizzeria. Wir setzten uns in den Gastgarten. Es war warm in der Sonne und in diesem Moment spürte ich, dass seine Zuneigung zu mir ebenfalls immer stärker wurde. Aus Wertschätzung und Dankbarkeit entwickelte sich plötzlich bei ihm etwas. Sein Gefühl zu mir steigerte sich. Vielleicht fühlte er jetzt einen Bruchteil von dem, was ich für ihn empfand. Wenn er mich auch in diesem Moment sicher nicht genauso liebte wie ich ihn, hatte sich sein Herz trotzdem noch weiter für mich geöffnet. Wahrscheinlich hatte er selbst noch nie zuvor so gefühlt. Nach dem Essen machten wir uns wieder auf den Weg zurück zu den Autos. „Am besten, du fährst jetzt wieder mit mir nach Hause!“, schlug ich vor. Er sah mich entschlossen an und meinte: „Natürlich nicht! Mein Plan steht fest! Was soll ich noch länger in einem Land, das mich nicht haben will?“ Sein Cousin meinte auch, dass es besser wäre, wenn er noch hierbleiben würde und noch versuchen würde, ob es nicht doch noch irgendeine Möglichkeit gäbe. „Wirf eine Münze!“, schlug ich vor. „Wirf eine Münze und lass die Münze entscheiden, was du tun sollst!“ Er lachte über diesen Vorschlag. Ich holte eine € 2,-- Münze aus meiner Tasche und gab sie ihm. „Kopf, du kommst mit mir nach Hause, Zahl, wir fahren nach Deutschland“, erklärte ich. Farid warf die Münze zweimal, um sich des Ergebnisses sicher zu sein. Zweimal kam „Kopf“ zum Vorschein. „Egal“, sagte er nachdenklich. „Ich glaube an sowas nicht. Ich fahre trotzdem.“ Entrüstet sagte ich: „Aber du hast gesehen, dass die Münze zweimal Kopf gezeigt hat! Es ist besser, wenn du noch hierbleibst! Bis Mitte April darfst du doch sowieso bleiben!“ Es gelang mir nicht, ihn zu überzeugen. Auch sein Cousin schaffte es nicht. Schließlich gaben wir auf. Er wollte seinen Willen durchsetzen, also machten wir uns auf den Weg. Innig verabschiedete er sich von seinem Cousin und stieg in mein Auto ein. „Soll ich nicht doch lieber allein über diese Brücke gehen und dann steige ich auf der anderen Seite wieder zu dir ins Auto?“, fragte er besorgt. „Nein, warum?“, entgegnete ich entrüstet. „Na, weil ich mir Sorgen mache, dass dir etwas passieren könnte, wenn es eine Grenzkontrolle gibt und sie dich mit einem Flüchtling im Auto erwischen“, sagte er weiter. „Ah geh!“, wehrte ich ab. „Es passt schon.“ Dann starteten wir los und fuhren über eine wunderschöne, romantische Brücke. „Schau, so leicht war das – und so schön!“, rief ich begeistert. „Willkommen in Deutschland, Farid!“ Als wir ein paar Kilometer gefahren waren, bemerkte Farid plötzlich, dass er kein Internet mehr hatte. Es war ihm also nicht mehr möglich, seinen Freund nach der Adresse in München zu fragen. „Okay, dann fahren wir wieder zurück“, sagte ich geduldig. „Wir sind ja noch nicht weit gefahren.“ Bei der nächsten Gelegenheit wendete ich den Wagen und wir fuhren wieder zurück. Wieder über diese wunderschöne Brücke und dann standen wir wieder in Österreich. „Ah, jetzt habe ich wieder Internet“, sagte er belustigt. Wir lachten beide. Er erledigte die Konversation mit seinem Freund Emal in München und als uns die Adresse bekannt war, gab ich sie auch gleich in mein Navi ein. Anschließend fuhren wir noch ein weiteres Mal über die Brücke. Wir verstanden uns so gut und hatten trotz der schlimmen Situation, in der er sich befand, einen unglaublichen Spaß. Wahrscheinlich sollte man die schlimmsten Situationen im Leben einfach weglachen, damit sie nach und nach von selbst verschwinden, weil sie der positiven Energie, die beim Lachen entsteht, nicht länger standhalten können.

      Es fühlte sich an, als würde ich mit ihm einfach in den Urlaub fahren. Immer wieder verdrängte ich die Tatsache, dass ich ihn an einen Ort bringen und dann allein wieder nach Hause fahren würde und ihn dann vielleicht nie wiedersah. Wir unterhielten uns die ganze Zeit und nebenbei spielte ich ihm meine Lieblingsmusik vor. Es begann ganz leicht zu regnen und irgendwann befanden wir uns plötzlich in einem Vorort von München, wo Farids Freund wohnte. Es dämmerte langsam und der Regen wurde stärker. Wir standen vor einem wunderschönen, großen Haus. Emal wartete schon auf uns. Er kam sofort aus dem Haus gerannt und zeigte mir, wo ich mein Auto parken konnte. Nachdem ich mein Auto abgestellt habe und wir beide ausgestiegen sind, wurde Farid von seinem Freund innig und herzlich umarmt. Emal freute sich sehr, dass er seinen Freund endlich wiedersehen konnte. Sie haben sich auf der Flucht von Afghanistan nach Europa kennengelernt.

      Farids Flucht dauerte mehr als drei Monate. Nachdem er die Aufforderung der Taliban ignoriert hat, einer von ihnen zu werden, wurde er bedroht. Seine Mutter fürchtete um das Leben ihres ältesten Sohnes und wollte, dass er das Land verlässt. Der Abschied von seiner Familie fiel ihm sehr schwer. Seine Schwestern weinten – vor allem seine jüngste Schwester. Seine Tante wollte ihn zum Flugplatz nach Kabul bringen, um ihm auf die Art einen letzten Dienst erweisen zu können, aber er schlug dieses Angebot ab. „Ab jetzt beginnt mein Kampf!“, sagte er zu seiner Familie und machte sich allein auf den Weg. Von Kabul aus, flog er in den Iran, musste dann die äußerst gefährliche Grenze zur Türkei meistern und kam dann auf dem Landweg über Serbien und Ungarn nach Österreich. Gefährliche Grenze deshalb, weil die Grenzwachen zwischen dem Iran und der Türkei auf die Flüchtlinge schießen. Immer wieder starben Menschen an diesen Grenzen. Insgesamt war die Flucht nach Europa extrem gefährlich, obwohl der Seeweg noch viel gefährlicher war. Wenn die Boote der Flüchtlinge mitten am Meer sind, dann kommt ein schwarzes Boot, mit schwarz gekleideten, völlig vermummten Männern. Anstatt den Flüchtlingen zu helfen, stechen diese dann mit Lanzen auf die Boote ein. Unglaublich, dass so etwas tatsächlich passiert – nur davon liest niemand in den Medien. Die schwarzen Boote gehören der Regierung. Es sind also offizielle Mörder, die den Auftrag der Regierung haben, die Flüchtlinge ertrinken zu lassen. Nicht nur erlaubter Mord an Tausenden, sondern sogar befohlener Mord, der aber trotzdem irgendwann gerächt wird.

      Die Gruppe, mit der Farid nach Europa gekommen war, wurde mit der Zeit immer kleiner. Wenn jemand zu schwach war, wurde er zurückgelassen. Manche sind einfach in Schluchten gestürzt und viele sind einfach zusammengebrochen. Sie mussten meistens den ganzen Tag lang gehen, ohne auch nur eine Pause machen zu dürfen. Einmal fuhren sie im Frachtraum eines LKWs mit. Immer wieder erstickten Menschen in solchen LKWs, weil sie keine Chance hatten, um sich aus dieser gefährlichen Falle zu befreien. Auch Farid und seiner Gruppe drohte beinahe der Erstickungstod. Doch glücklicherweise hatte der LKW eine Plane und keine feste Abdeckung. So konnten sie die Plane einfach aufschneiden, um Luft zu bekommen. Andere hatten da weniger Glück – wurden doch vor einigen Jahren mehr als siebzig Flüchtlinge erstickt in einem LKW gefunden. Eine ganz besondere Gefahr auf der Flucht war die Tatsache, dass es weder zu Essen noch zu Trinken gab. Sie aßen Beeren und Blätter und es war ihnen irgendwann egal, ob diese giftig waren. „Wenn du kraftlos vor lauter Hunger wirst, dann