einen Spalt breit offen, sodass ich Sir John sehen konnte, der am Ende einer langen Tafel saß und in einer Zeitung las.
Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich zu ihm zu gesellen und beschloss daher, mich erst einmal in meine m >Zuhause< umzusehen.
Ich verließ das Gebäude und trat auf den Burghof hinaus.
Aufmerksam sah ich mich um.
Bei Danmoor Castle handelte es sich um einen versch achtelten, ominösen Bau, der sehr düster und abweisend aussah. Das Haupthaus mit seinen unzähligen Erkern und Türmen war von einer soliden Burgmauer umgeben, die hier und da jedoch unverkennbare Verwitterungserscheinungen aufwies. Die Zeit hatte ihre Spuren ebenso hinterlassen, wie längst vergangene Schlachten, die um Danmoor Castle geschlagen worden waren. Einige Zinnen waren abgebrochen und in der Nähe des Aussichtsturmes klaffte gar ein großes Loch in der Mauerkrone.
Der Hof war schattig und groß. Er beinhaltete einen prächtigen Garten und moderne Stallungen für die Pferde. Auf einem Parkplatz neben dem wuchtigen Eingang stand ein chromblitzender Geländewagen und eine Mercedes-Limousine. Die Autos nahmen sich in dem düsteren Burghof neben dem eisenbeschlagenen Tor wie Fremdkörper aus. Sie gehörten in eine andere Welt und in eine andere Zeit.
Versonnen ließ ich meinen Blick schweifen. Aber ich wartete vergebens darauf, dass die unheimliche Burganlage irgendeine Erinnerung in mir wach rief. Es war, als würde ich das düstere, verwinkelte Bauwerk an diesem Morgen das erste Mal sehen. Auch wusste ich gar nicht, in welchem Teil von England ich mich befand.
Unbehaglich schaute ich zu de m wolkenverhangenen dunklen Himmel empor, der sich drohend über den Burghof spannte. Windböen fegten über die Burgzinnen hinweg, pfiffen um die Erker, stießen auf mich nieder und zerzausten mein Haar.
Da bemerkte ich auf der Burgmauer plötzlich eine Gestalt. Es war ein Junge mit schulterlangem, lockigem Haar und altertümlichen Klamotten. Sein langer, dunkler Mantel hatte eine doppelte Knopfleiste mit schimmernden Messingknöpfen daran. Er schien direkt einem der düsteren Gemälde des Castles entsprungen zu sein.
Stumm und starr stand der Junge auf dem Wehrgang und blickte auf mich herab, während der Wind mit seinem blonden Haar spielte und die Zipfel seines Brokatmantels flattern ließ.
Der Junge wirkte unnatürlich blass und seine Körperhaltung drückte eine seltsame Gleichgültigkeit aus. Er stand direkt neben dem klaffenden Loch in der Ringmauer, nur eine Handbreit von dem abgebrochenen Ende des Wehrganges entfernt. Wenn eine heftige Windböe den Jungen erfasste, würde er unweigerlich in die Tiefe stürzen!
»Vorsicht, Kleiner!«, rief ich. »Komm lieber wieder von der Burgzinne herunter. Du könntest abstürzen!«
Meine Worte hatten den Jungen offenbar erschreckt! Er tat einen unbedachten Schritt zurück direkt auf die Bruchkante des Wehrganges zu!
»Achtung!«, schrie ich entsetzt.
Doch es war zu spät. Der Junge ruderte haltlos mit den Armen und kippte dann über das Ende des Wehrganges in die Tiefe.
Entsetzt hielt ich mir mit der Hand den Mund zu. Was hatte ich nur getan! Mein warnender Ruf hatte genau das Gegenteil bewirkt. Der Junge stürzte, ohne dabei aber einen Laut auszustoßen.
Dann geschah etwas Unbegreifliches.
Bevor der Junge auf den gepflasterten Hof aufschlug, löste er sich plötzlich in Nebel auf. Eine Windböe erfasste den Nebelstreifen und blies ihn in alle Richtungen davon, sodass er schließlich ganz verschwand.
Fassungslos und von kaltem Grauen gepackt rannte ich zu der Stelle, wo der seltsame Junge eigentlich hätte aufschlagen müssen. Doch es war nichts Verdächtiges zu bemerken. Das Pflaster sah genau so grau und verwittert aus, wie an den anderen Stellen des Burghofs auch. Nichts deutete darauf hin, dass sich die Tragödie, die sich soeben vor meinen Augen abgespielt hatte, tatsächlich stattgefunden hatte!
»Ich... ich muss mir das alles nur eingebildet haben«, stammelte ich mit rauer Stimme. »Verliere ich jetzt etwa auch noch meinen Verstand?«
Schaudernd wandte ich mich ab und kehrte rasch in das Haupthaus zurück. Ich war total durcheinander und den Tränen nahe. Ich sehnte mich nach einem Menschen, dem ich mich anvertrauen konnte und der mir endlich erklärte, was mit mir los war.
Aber so einen Menschen gab es in meinem Leben nicht. Und wenn doch, so konnte ich mich nicht mehr an ihn erinnern.
4
Bevor ich den Speisesaal betrat, atmete ich einmal tief durch und versuchte, mein aufgewühltes Inneres etwas zu beruhigen. Dann erst öffnete ich die Tür und trat ein.
Bei dem Speisesaal handelte es sich um eine hohe Halle mit holzvertäfelten Wänden. Fenster gab es nur im oberen Drittel der Wände und sie waren nicht größer als Schießscharten. Schmale Lichtbalken fielen durch die Fenster schräg in die Halle und warfen eckige Lichtinseln auf die düstere Wandvertäfelung und auf den langen, wuchtigen Eichentisch, der in der Mitte der Halle stand.
Am Ende der riesigen Tafel waren zwei Gedecke aufgetischt. John, der auf einem thronartigen Stuhl saß, sah unwillig von seiner Morgenzeitung auf.
»Warum kommst du erst jetzt, Schatz?«
Seine Stimme hallte kalt und unheimlich in dem Speisesaal wider. John trug einen eleganten Anzug, der maßgeschneidert und bestimmt sehr teuer gewesen war. Mit seinem gepflegten graumelierten Haar und dem hageren Gesicht sah er sehr weltmännisch und aristokratisch aus. Doch seine Gesichtszüge waren auch hart und in seinen grauen Augen blitzte es kalt. Auf mich machte John den Eindruck eines berechnenden, egoistischen Burschen, vor dem man sich in acht nehmen musste.
»Ich... ich musste mich erst ein wenig orientieren«, entschuldigte ich mich. Ich hatte beschlossen, John nichts über den Jungen auf der Burgmauer zu erzählen.
John musterte mich von oben bis unten, während ich an der Tafel vorbei direkt auf ihn zuging. Sofort wurde mir wieder unbehaglich zumute.
Johns Blick war stechend und sezierend zugleich. Ich war froh, den beigefarbenen Hosenanzug gewählt zu haben, der mir ein schlichtes aber auch bestimmendes Aussehen verlieh. Meine weiblichen Reize waren unter dem Hosenanzug weitgehend verborgen. Trotzdem schien John mich mit seinen Blicken förmlich zu verschlingen.
Ich setzte mich und zwang mich zu einem unverbindlichen Lächeln. Dabei fiel mir auf, dass die Stühle, die um die Tafel gruppiert waren, alle sehr alt und wertvoll waren. Auch die Kristallleuchter, die an langen Ketten von der Decke hingen, mussten ein Vermögen gekostet haben.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte John, während er die Zeitung zusammenfaltete und beiseite legte.
»Doch«, erwiderte ich und richtete meine Aufmerksamkeit jetzt auf den Teller vor mir. Ein Toast und ein Spiegelei mit Speck lagen darauf. In der Tasse dampfte heißer Kaffee.
Verwundert schaute ich das Porzellan an. Es war handbemalt und kunstvoll verziert. Ich schätzte, dass das Gedeck über hundert Jahre alt war.
Unwillkürlich nahm ich den Teller auf und hob ih n hoch, bis ich auf die Unterseite sehen konnte, ohne dass das Spiegelei dabei herunterrutschte. Auf der Tellerunterseite war ein Spiegel angebracht.
Tief atmete ich ein und hielt die Luft für einen Moment an. Dem Spiegel nach zu urteilen handelte es sich bei dem Teller um ein höchst seltenes Stück aus einer alten Londoner Porzellanmanufaktur, die damals exklusiv für das Königshaus produziert hatte. Der Teller, den ich in der Hand hielt, stellte einen unschätzbaren Wert dar und hätte eigentlich in ein Museum gehört!
»Stimmt etwas mit deinem Essen nicht?«, erkundigte sich John, der mein Tun verwundert verfolgt hatte.
Vorsichtig stellte ich den Teller wieder hin. »Der Teller«, sagte ich verwirrt. »Er... er muss ein Vermögen gekostet haben!«
John zuckte mit den Schultern. »Ich habe nun einmal eine Vorliebe für Antiquitäten«, meinte er lapidar. Dann sah er mich prüfend an. »Du scheinst deine Erinnerung ja wenigstens teilweise wieder zurückgewonnen