Prüfend sah Dr. Hyes mich an. »Du weißt nicht, wer ich bin?«
Ich betrachtete die Frau eingehend. Sie hatte grüne Augen wie ich. Ihr Make-up war für meinen Geschmack ein wenig zu dick aufgetragen. So waren ihre Lippen zum Beispiel mit lilafarbenem Lippenstift bemalt, was die Ärztin in meinen Augen irgendwie verwegen und lüstern erscheinen ließ.
Dr. Hyes und John schienen eng befreundet zu sein. Auch ich sollte Dr. Hyes gut kennen, wie ihre herzliche Begrüßung vermuten ließ. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dieser Frau heute das erste Mal gegenüber zu stehen.
»Tut mir leid«, sagte ich bedauernd. »Ich habe das Gefühl, Sie heute das erste Mal zu sehen.«
»Ich bin’s, Gwendolyn«, sagte die Frau mit Nachdruck. »Dr. Gwendolyn Hyes! Wir beide sind dicke Freunde. Wir haben all unsere Geheimnisse geteilt und hatten immer sehr viel Spaß miteinander. Das kannst du doch unmöglich alles vergessen haben!«
Ich machte eine hilflose Geste. »Es... es tut mir leid«, wiederholte ich mit schwankender Stimme. »In mir herrscht absolute Leere. Es ist richtig unheimlich, wenn ich versuche, mich an irgendetwas zu erinnern. Alles, was ich dann vor meinem geistigen Auge sehe, ist nachtschwarze Dunkelheit!«
»Kopf hoch, Brenda«, meinte Gwendolyn. »Es besteht kein Grund, deswegen in Panik auszubrechen. Ich bin mir sicher, wir kriegen das wieder hin. Du kannst mir vertrauen. Schließlich bin ich Ärztin und noch immer deine allerbeste Freundin.«
»Muss ich in ein Krankenhaus?«, fragte ich. Der Gedanke hatte durchaus etwas Tröstliches an sich. Ich würde endlich aus diesem düsteren, einsamen Castle herauskommen und müsste Johns aufdringliche Gegenwart nicht mehr länger ertragen. Wenn ich in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, könnte ich endlich in Ruhe über alles nachdenken, auch darüber, wie ich mich John, meinem Ehemann, in Zukunft gegenüber verhalten sollte...
»Das wird nicht nötig sein«, zerstörte Gwendolyn meine stille Hoffnung. »Im Gegenteil. Für dein Erinnerungsvermögen könnte ein Ortswechsel sogar verheerende Folgen haben. Dein Bewusstsein würde jeden Anhaltspunkt verlieren, der dir helfen könnte, dich zu erinnern. Ein dauerhafter Gedächtnisverlust könnte dir dadurch entstehen.«
Enttäuscht kniff ich die Lippen zusammen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, von Gwendolyn nicht für voll genommen zu werden. Zwar war sie Ärztin und wusste, was gut für mich war. Aber auf der anderen Seite war sie doch auch meine Freundin und hätte mich fragen können, was meine Wünsche waren. Stattdessen bestimmte sie einfach über mich, ohne zu berücksichtigen, wie ich mich fühlte und wie es zwischen mir und John stand.
»Gibt es denn wirklich nichts, an das du dich erinnern kannst?«, drang Gwendolyn erneut mit einer Frage auf mich ein.
Bevor ich etwas erwidern konnte, beantwortete John die Frage: »Ihr Wissen über Antiquitäten scheint Brenda behalten zu haben. Sie wusste genau, woher das Frühstücksgeschirr stammte und wie viel es wert war.«
»Das ist doch zumindest schon ein Anfang«, freute sich Gwendolyn. »An dieser Stelle sollten wir anknüpfen. Ich schlage vor, du zeigst Brenda ein paar von den Artefakten, die sie besonders gerne gemocht hatte. Vielleicht können wir ihrer Erinnerung auf diese Weise auf die Sprünge helfen!«
Besitzergreifend legte John einen Arm um meine Schulter und zog mich an sich. »Das hört sich doch gut an«, sagte er aufmunternd. »Am besten fangen wir sofort an. Ich habe auch schon eine Idee, was ich dir als erstes zeigen werde!«
Ich schüttelte Johns Arm ab. »Wenn du meinst«, sagte ich freudlos. »Ich wäre dir allerdings dankbar, wenn du dich mit deinen Zutraulichkeiten etwas zurückhalten würdest. Ich bin sehr verwirrt und muss mir über meine Gefühle erst im klaren sein.«
John machte ein gekränktes Gesicht. »Ich werde deinen Wunsch respektieren«, sagte er zerknirscht. »Aber dafür verlange ich, dass du Gwendolyns Anweisungen befolgst. Ich möchte, dass du dich so schnell wie möglich wieder an alles erinnerst, auch daran, wie sehr du mich geliebt hast!«
John sah mich eindringlich an. Ich drehte mich demonstrativ zur Seite und erstarrte.
An der Wand vor mir hing ein altes, stark gedunkeltes Gemälde, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Nun sah ich es um so deutlicher, zumal gerade ein verirrter Sonnenstrahl durch das Fenster drang und direkt auf das Bild fiel.
Auf dem Gemälde war ein blasser Junge dargestellt. Er trug einen altertümlichen Mantel mit einer Doppelreihe schimmernder Messingknöpfe. Sei n lockiges, schulterlanges Haar sah sehr gepflegt aus und glänzte vor Pomade.
Es bestand kein Zweifel. Der Junge auf dem Gemälde war mit dem gespenstischen Kind identisch, das ich heute morgen auf der Burgzinne gesehen hatte!
6
»Was hast du plötzlich, Brenda?«, erkundigte sich Gwendolyn besorgt. Sie wedelte mit der Hand vor meinen Augen herum, so als befürchtete sie, ich wäre geistig weggetreten.
»Es... es ist nichts«, behauptete ich und riss mich gewaltsam von dem Anblick des Knabenportraits los.
Gwendolyn warf John einen raschen Seitenblick zu, der mir nicht entging. Anscheinend machte sie sich plötzlich große Sorgen um mich.
»Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, fragte Gwendolyn.
»Du hast ausgesehen, als wäre dir gerade ein Gespenst über den Weg gelaufen.«
Unbehaglich zuckte ich mit den Achseln. Die seltsame Begebenheit auf dem Burghof stand mir wieder deutlich vor Augen. Noch immer war es mir unerklärlich, warum der Junge sich plötzlich in Nebel aufgelöst hatte, als er von dem Wehrgang stürzte.
Hatte ich bei dem Unfall mit meinem Pferd am Ende doch einen größeren Schaden davongetragen? Gwendolyns alarmierter Seitenblick, den sie John zugeworfen hatte, ließ mich vermuten, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.
»Es ist dieses Bild«, sagte ich gedehnt und richtete meinen Blick unwillkürlich wieder auf den blassgesichtigen Jungen auf dem Gemälde. »Der Junge, der darauf abgebildet ist, kommt mir bekannt vor.«
Noch war ich mir nicht sicher, ob ich Gwendolyn wirklich vertrauen konnte. Ich hielt es daher vorerst für besser, den mysteriösen Vorfall mit dem Jungen für mich zu behalten.
»Du kannst diesen Jungen unmöglich kennen«, platzte es aus John hervor. »Er ist seit über dreihundert Jahren tot!«
»Wer war dieser Junge?«, fragte ich.
»Sein Name lautet Charles Macer«, erklärte John, sichtlich um Geduld bemüht. »Er war der letzte Spross der Adelsfamilie, die Danmoor Castle bewohnte, bevor es von meiner Familie übernommen wurde.«
John legte mir eine Hand auf die Schulter. »Komm jetzt, Brenda«, sagte er bestimmend. »Ich werde dir jetzt ein paar Artefakte zeigen und du sagst mir, was du darüber weißt. Vielleicht kehrt deine Erinnerung dann ja Stück für Stück wieder zurück, wie Gwendolyn es gesagt hat.«
Ich nickte und wandte mich schaudernd von dem Gemälde ab. Nun, da ich wusste, wer der mysteriöse Junge war, kam es mir nur noch viel seltsamer vor, dass ich ihm im Burghof begegnet war.
Plötzlich hatte ich es eilig, den Blauen Salon zu verlassen. Der Junge auf dem Portrait war mir unheimlich. Noch viel unheimlicher als die Tatsache, dass ich alle Erinnerungen an mein Leben verloren hatte.
7
John hatte uns in die Bibliothek von Danmoor Castle geführt. Gwendolyn wollte mich genau beobachten, wie si e sagte und John unterstützen, damit ich meine Erinnerung so rasch wie möglich wieder zurückerlangte.
Dass ich genau darauf gar nicht so erpicht war, schienen die beiden überhaupt nicht zu bemerken. Gwendolyn und John hingegen versprachen sich von der bevorstehenden > Behandlung< offensichtlich sehr viel. Geschäftig eilten sie in der Bibliothek umher und bereiteten alles vor.
Leider war Gwendolyn für meine zwiespältigen Gefühle überhaupt