Ezra Klein

Der tiefe Graben


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Hilfe von Kompromissen innerhalb der jeweiligen Partei beigelegt.« Er warnte: »Unsere nationale Einheit würde geschwächt, sollten die theoretischen Differenzen verschärft werden.«[7]

      Dieser Punkt ist grundlegend genug, um sich einen Augenblick bei ihm aufzuhalten. Existiert eine Spaltung innerhalb einer Partei, gibt es zwei Möglichkeiten: Unterdrückung oder Kompromiss. Parteien wollen keinen internen Zwist. Existiert jedoch eine Spaltung zwischen Parteien, nimmt der Umgang mit ihr die Form eines Konfliktes an. Ohne Einhegung durch eine einheitliche Parteilinie eskalieren politische Streitigkeiten. Ein Beispiel dafür ist das Gesundheitswesen: Demokraten wie Republikaner geben Milliarden Dollar für Wahlspots aus, in denen sie ihre Differenzen in diesem Punkt betonen, weil sie hoffen, dass die Debatte ihre Unterstützer mobilisiert und die öffentliche Meinung gegen ihren politischen Gegner wendet. Der Vorteil daran ist, dass wichtige Probleme offen angesprochen und manchmal sogar gelöst werden. Der Nachteil ist, dass die sie umgebenden Spaltungen sich vertiefen und zunehmend wütender ausgetragen werden.

      Die Debatte erreichte 1964 explosionsartig die Öffentlichkeit, als Barry Goldwater die Rede hielt, in der er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen verkündete. Sie ging in die Geschichte ein, weil Goldwater darin das Versprechen abgab, »eine Wahl« anzubieten, »kein Echo«. Weniger bekannt, dafür aber wohl aufschlussreicher, sind die Gründe für seine Kandidatur, die er einige Absätze weiter oben benennt. Dort sagt er, und zwar nicht ganz ohne Abscheu: »Ich habe von keinem Republikaner, der seine Kandidatur angekündigt hat, eine Declaration of Conscience gehört, die dem amerikanischen Volk bei den nächsten Präsidentschaftswahlen eine klare Entscheidung ermöglichen würde.« Dies war Goldwaters Gewissenserklärung: Sollten die Republikaner ihn nominieren, dann würde die Wahl »kein Gefecht der Persönlichkeiten werden, sondern ein Gefecht der Prinzipien werden.« Goldwater gewann natürlich die Vorwahlen und wurde dann von Lyndon B. Johnson vernichtend geschlagen.

      Goldwaters Nominierung war eine Angelegenheit, bei der zwischen den parteiinternen Lagern nur so die Fetzen flogen und die konservativen Republikaner ihr Möglichstes taten, um den gemäßigten Flügel der Partei hinauszudrängen. Im Nachgang dazu schrieb George Romney, der damalige Gouverneur von Michigan und ein Hauptvertreter der gemäßigten Republikaner, einen zwölfseitigen Brief, in dem er seine Unstimmigkeiten mit Goldwater darlegte. »Dogmatische, ideologisch geprägte Parteien neigen dazu, das politische und soziale Gefüge einer Nation zu zersplittern, führen zu Regierungskrisen und Stillstand und verhindern die Kompromisse, die so häufig nötig sind, um Freiheit zu erhalten und Fortschritt zu erreichen«, schrieb er recht prophetisch.[8] (Jahrzehnte später sollte sein Sohn, der das Erbe seines Vaters als beliebter gemäßigter Gouverneur von Massachusetts weitertrug, die Nominierung der Republikaner als Präsidentschaftskandidat erhalten, indem er sich als »streng konservativ« neu erfand.)

      Goldwaters vernichtende Wahlniederlage etablierte die gängige Auffassung dieser Zeit: Ideologen verloren Wahlen. In seinem 1960 erschienenen Buch Parties and Politics in America schrieb Clinton Rossiter: »Es gibt keinen echten Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern, und es kann ihn auch nicht geben, denn die ungeschriebenen Gesetze der amerikanischen Politik verlangen, dass sich die Parteien in ihren Prinzipien, ihrer Politik, ihrem Charakter, ihrer Attraktivität und ihrem Zweck zu einem Großteil überlagern – oder sie hören auf, Parteien zu sein, die irgendwie darauf hoffen können, eine nationale Wahl zu gewinnen.«[9] Lieber ein Echo sein als unter »ferner liefen«.

      Das Parteien-Kuddelmuddel zieht sich bis in die jüngste Zeit. Morris Fiorina, Politikwissenschaftler an der Stanford University, stellt fest, dass, als Gerald Ford gegen Jimmy Carter antrat, lediglich 54 Prozent der Wähler glaubten, die Republikanische Partei sei konservativer als die Demokratische Partei. Knapp 30 Prozent waren der Auffassung, es gäbe zwischen den beiden Parteien keinerlei ideologische Differenzen.[10] Stellen Sie sich das mal vor! In einer Welt, in der die ideologischen Differenzen zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei so gering waren, dass die halbe Bevölkerung in Verwirrung gestürzt wurde, wie viel weniger Macht muss da Parteiidentität entfaltet haben.

      Eigentlich müssen wir uns das gar nicht vorstellen. Wir können es sehen.

      Die Macht negativer Parteilichkeit

      Unter Wählern war lange Zeit ticket-splitting gang und gäbe: Vielleicht bevorzugte man ja den Demokraten Lyndon B. Johnson als Präsidenten, den Republikaner George Romney dagegen als Gouverneur. Und war man ein Ticketsplitter und die meisten von denen, die man kannte, ebenfalls, dann war es schwierig, sich allzu sehr mit einer der beiden Parteien zu identifizieren. Letztlich stimmte man gelegentlich für beide.

      In einer bestechenden Analyse mit dem Titel »All Politics Is National« zeigen Alan Abramowitz und Steven Webster, Politikwissenschaftler an der Emory University, wie dieses Verhalten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sich zusammenfiel und beim Übergang ins neue Jahrtausend offenbar gänzlich verschwand. Als sie sich Wahlbezirke ansahen, in denen die Sitze im Repräsentantenhaus sehr hart umkämpft waren, stellten sie fest, dass zwischen 1972 und 1980 das Verhältnis zwischen dem Stimmenanteil der Demokraten bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus und den Präsidentschaftswahlen 0,54 betrug. Zwischen 1982 und 1990 kletterte dieser Faktor auf 0,65. Und 2018 hatte er 0,97 erreicht![11] Innerhalb von 40 Jahren entwickelte sich die Unterstützung für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten von einem zwar hilfreichen, aber nicht wirklich verlässlichen Prognosefaktor zur Abschätzung der zu erwartenden Unterstützung des Kandidaten einer Partei bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus zu einer beinahe perfekten Richtschnur.

      Ticketsplitting setzt voraus, dass man sich mit beiden Parteien einigermaßen wohlfühlt. Die Ursache für den Niedergang dieses Verhaltens liegt darin, dass sich dieses Wohlgefühl verflüchtigt hat. Inmitten einer ganzen Reihe von Fragen, die die Amerikaner bei jeder Wahl von Prognoseinstituten gestellt bekommen, lauert etwas, das als »Gefühlsthermometer« bezeichnet wird. Bei dieser Frage werden Menschen gebeten, ihre Gefühle in Bezug auf die beiden politischen Parteien auf einer Gradskala von 1 bis 100 einzuordnen, wobei 1 »kalt« bedeutet und negativ ist, »100« dagegen »warm« und positiv. Seit den achtziger Jahren sind die Gefühle der Republikaner gegenüber der Demokratischen Partei und die Gefühle der Demokraten gegenüber der Republikanischen Partei regelrecht abgestürzt.

      Noch 1980 gaben Wähler der gegnerischen Partei eine Gradzahl von 45 – nicht so hoch wie die 72 Grad für ihre eigene Partei, dennoch aber ziemlich respektabel. Nach 1980 jedoch begannen die Zahlen zu fallen. 1992 bekam die gegnerische Partei nur noch 40 Grad, 1998 lediglich 38. Und 2016 schließlich magere 29. Gleichzeitig fiel die Gradzahl, die Parteien bei ihren eigenen Wählern erreichten, von 72 im Jahr 1980 auf 65 im Jahr 2016.[12]

      Aber es waren nicht nur Parteianhänger. In seinem wichtigen Aufsatz »Polarization and the Decline of the American Floating Voter« fand Corwin Smidt, Politikwissenschaftler an der Michigan State University, heraus, dass zwischen 2000 und 2004 selbsterklärte Unabhängige in ihrer Unterstützung einer Partei stabiler waren als selbsterklärte starke Parteianhänger von 1972 bis 1976.[13] Noch einmal: Die unabhängigen Wähler von heute stimmen verlässlicher für eine Partei und gegen die andere als die Parteianhänger von gestern. Dies ist eine bemerkenswerte Tatsache.

      Allerdings ist daran etwas seltsam, und zwar Folgendes: Im selben Zeitraum schüttelte das Wahlvolk seine treue Parteiengefolgschaft ab. Noch 1964 sagten etwa 80 Prozent der Wähler, sie seien entweder Demokraten oder Republikaner. Bis 2012 war diese Zahl auf 63 Prozent gefallen, »den niedrigsten Prozentsatz der politischen Selbstzuordnung in der Geschichte der American National Election Studies«, notieren Abramowitz und Webster – während der Anteil der selbsterklärten Unabhängigen stark zunahm.

      Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden Trends zu widersprechen: Wie kann das Wahlvolk zugleich parteilicher in seinem Abstimmungsverhalten und unabhängiger in seiner Parteienzugehörigkeit werden? Sollte denn die beständige Unterstützung einer Partei nicht zu einer engeren Bindung an diese Partei führen?

      Das Schlüsselkonzept, mit dem wir es hier zu tun haben, heißt »negative Parteibindung«. Parteiliches Verhalten ist nicht von positiven Gefühlen gegenüber der Partei motiviert, die man unterstützt, sondern von negativen Gefühlen gegenüber der Partei, die man ablehnt. Falls Sie sich je bei einer Wahl mit