Manfred Höhne

Meine irdischen und himmlischen Wege


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einen anderen im Gemeindeleben, der präsenter war als sie.

      Immer mit strengem Blick stand sie am Sonntagmorgen in der offenen Tür von St.Ulrich und zählte die ‚Seelen‘, die zum Gottesdienst kamen. Sie zählte die Pfennige und Groschen, später die Cent-Stücke in den Opferschalen, und den Klingelbeutel an seiner langen Stange hielt sie so lange vor die Gläubigen in den Sitzreihen, bis auch der Verstockteste seinen Obolus entrichtet hatte.

      Ich habe sie niemals lächeln gesehen. Jetzt lag auf ihren Zügen ein seltsam ätherischer Ausdruck, der ihrem Gesicht einen Anflug irdischen Entrücktseins verlieh, der fast schon etwas Schönes war.

      Auch den Mann zwischen uns erkannte ich wieder und wusste, warum er mir bisher so bekannt und doch so fremd war. Ich hatte ihn jahrzehntelang nur als gelähmt im Rollstuhl gesehen, wenn er abends seine Runde durch das Viertel drehte, immer von einem Hund begleitet.

      Jetzt lief er, wie wir alle.

      Wenn ich mich auch an beide erinnerte, ihre Namen konnte ich nicht finden. Vielleicht hatte ich sie ja auch nie gewusst.

      Jetzt fiel mir auch auf, was mir schon vor ‚Jahrzehnten‘ dieser Wanderung hätte auffallen müssen, mir aber erst durch die ständigen Fragen, die ich mir stellte, bewusst wurde, dass ich in unserem unendlichen Menschenzug keine Muslime sah, keine verschleierten Frauen, keine Juden mit ihren schwarzen Hüten und Bärten, ihren schwarzen Kaftanen, ihren Peies und Gebetsriemen.

      Ich sah keine Chinesen und Inder, überhaupt keine Asiaten. Keine Menschen aus Papua-Neuguinea, keine Aborigines. Ja, ich sah nicht einen einzigen Afrikaner!

      Sie alle mussten offenbar ihre eigenen Straßen haben; jeder Kulturkreis, jede Religion. Vielleicht jede Sekte? Jeder menschliche Irrweg der Interpretation des Göttlichen hatte wohl seinen eigenen Weg. Dieser mein Weg führte wo möglich nicht zum Tribunal des Schöpfers, sondern war nur eine Etappe dorthin. Ein Weg der Aufgaben, und mit diesen Aufgaben ein Weg des geistigen und moralischen Wachsens zur endlichen Vollendung der Schöpfung?

      Als irdischer Mensch hätte ich jetzt sicher einen ‚Anfall‘ von Ratlosigkeit bekommen und ich war dankbar, dass ich mir zwar diese Fragen stellen durfte, aber unter keinem Menetekel litt.

      Kamen am Ende alle diese Straßen der Völker und Kulturen zusammen zu einer ‚Heerstraße der Verdammten‘ auf dem Weg zur Erlösung? Spielte der Erzengel Gabriel, als ‚Schwert‘ des Allmächtigen hier ein mächtiges Planspiel, die Erbsünde Adams und Evas zu tilgen?

      Ich hatte Wesen und Sinn der Erbsünde nie verstanden! Hatte Gott den Menschen nicht nach seinem Ebenbild geschaffen? Das hieß doch nicht, dass wir so aussehen in Form und Gestalt, wie es die Kirche des Mittelalters darstellte. Das hieß doch, dass wir ihm im Geiste glichen. Dass wir die Eigenschaft, die alle Geschöpfe unter dem Himmel auszeichnet und den Homo sapiens erst zum Herrscher über die Erde gemacht hat, diese wichtigste Eigenschaft der Menschheit, die Neugier, von ihm übertragen bekamen. Konnte es dann Erbsünde sein, wenn Adam und Eva der Neugier folgten und vom Baum der Erkenntnis aßen? Ein Verdikt gegen die Neugier, das konnte nicht göttlich sein!

      Warum stellte ich mir nur diese Fragen, ohne eine schlüssige Antwort zu finden. Wie kann ein Himmel funktionieren ohne diese Antworten!

      Oder war jedem, ob schwarz oder weiß, rot oder gelb eine Aufgabe zugedacht, die dieser Antwort nicht mehr bedurfte? War es eine Aufgabe, die mit der Befriedung des Irdischen, des Friedens auf Erden zu tun hatte, mit einer Mobilisierung gegen die Kraft Luzifers aus eigener selbstgewonnener Überzeugung?

      Oder war es eine kosmische Aufgabe? Würden wir Teil der dunklen Energie, die 95% aller Energie ausmacht, um das expandierende Weltall nach dem letzten Urknall wieder in einem Punkt zusammenzuführen und über Abermillionen solcher Zyklen das immer wieder neue Weltall mit zu gestalten? Werden wir so Teil des göttlichen Lern- und Lenkungsprozesses?

      Die Frau ‚Gemeinderätin‘ war, ohne dass es mir gewahr wurde, einige Reihen nach vorn gekommen, von Reihe zu Reihe. Was hatte das zu bedeuten?

      Die beiden ‚Schächer‘ hatte ich überhaupt nicht mehr gesehen. Sie waren urplötzlich nicht mehr an ihrem Platz. Ihre Reihe, die sie allein besetzt hatten, war leer. Wo waren sie jetzt?

      Welche Aufgabe war mir zugedacht? Ich wünschte mir eine irdische Aufgabe, die mir die Sinnhaftigkeit meines künftigen Weges täglich bewusst werden ließ. Und da hatte ich nur einen Wunsch, über Anna-Maria und ihren Kindern wachen zu dürfen, bei ihrem Spiel, bei ihrer Arbeit, in ihrer Freizeit, am Krankenbett; bei all den unzähligen Momenten der Gefahr für Leib und Leben und des Schmerzes der Seele.

      Etwas zurückgeben für die unendliche Fürsorge, die ich in den letzten Jahren meines Lebens erfahren hatte.

      Wann immer auf meinem weiteren Weg mir die Gnade zuteilwerden würde, mir eine Aufgabe zu wählen, würde ich nur um diese eine Aufgabe bitten!

      Und da war sie wieder, diese Gedankenflut, diese Bindung an das irdisch Vergangene, an Anna-Maria, die nicht nur irdische Erinnerung war, sondern unendliche Bindung über den Tod hinaus.

      Kap 12

      Gunther hatte den ersten Transport von Geschirr und Gläsern aus der Küche und den Esszimmerschränken, Kleinmöbeln und den Büchern der Bibliothek in wohl 100 Kartons nach Hohenfelden in Marsch gebracht.

      Unter Aufsicht von Albrecht und Hanna sollten sie in einem der leer stehenden Gästezimmer deponiert werden. Er hatte der Fracht zwei Briefe beigegeben, einen an Anna-Maria und einen an ihre Eltern.

      An Albrecht hatte er noch einmal Anweisungen für den Einbau der Fußbodenheizung im Wohnturm gegeben, an Anna-Maria die Bitte gerichtet, ob sie einen Teil ihrer Ferien nach der sicher schon bestandenen Abschlussprüfung, zum Einsortieren seiner Bücher in die Bibliothek opfern könne. 500 € könnte er dafür aussetzen, mehr sei im Moment nicht drin.

      Wenn sie eine Freundin wüsste, vielleicht mit Kenntnissen im Bibliothekswesen, sollte sie sie zu gewinnen versuchen, sich zu den gleichen Bedingungen an der Aufgabe zu beteiligen. Gunther gab zu, keine Ahnung zu haben, wie die Ordnung aussehen sollte. Aber es sollten optische Gesichtspunkte sein und einer nach dem Alphabet gereihten Regalordnung mit von eins bis zehn bezeichneten Fächern, von unten nach oben. Gunther hatte seinen alten Laptop mitgeschickt mit der Bitte, die Bücher, auch die vorhandenen von Graf Thilo, nach Titel und Autor einzugeben und nach ihrem Platz in den Regalen auffindbar zu machen. Er hatte ihr auch geschrieben, dass eine solche Ordnung seit 40 Jahren seine Absicht gewesen sei, die aber Absicht geblieben ist.

      Bei allen seinen jetzt häufigen Arbeitsbesuchen hatte er es immer so eingerichtet, dass er Anne zuhause wusste.

      Aber auch, wenn er sich bei Hanna aus Zeitzwängen zu einem früheren Termin anmelden musste, gelang es auch Anne immer, anwesend zu sein und eine Begegnung mit ihm herbeizuführen, deren ‚Aufhänger‘ immer ihre Arbeit in der Bibliothek war.

      Bei einem dieser Arbeitsbesuche und Beratungen mit Albrecht hatte er auch nach Unterstellmöglichkeiten für Almuths und sein Auto, gefragt. Albrecht zeigte ihm die beiden Großgaragen im ersten Innenhof beidseits des Burgtores. In einer der Garagen stand Hannas ‚Einkaufswagen‘, ein VW ‚Combi‘ und Anna-Marias mit Papas Unterstützung selbsterworbener Ford Fiesta.

      In der zweiten Garage standen drei Oldtimer, die Graf Thilo als begeisterten Sammler erworben und Albrecht in jahrelanger Arbeit zu neuem Glanz aufgearbeitet hatte, ein Rolls Roys Silver Wrait 1952 mit verlängertem Radstand, ein Chevrolet Corvette C 2 von 1966 und ein alter Mercedes-Sportwagen 280 SL ‚Pagode‘ von 1965, der noch aufgebockt auf seine ‚Wiedergeburt‘ wartete. Gunther befragte Albrecht, warum die Gräfin diese Oldtimer zur finanziellen Sicherung ihrer Lebensbedürfnisse nicht veräußert habe und bekam zur Antwort, dass die Gräfin dies mehrfach erwogen aber nie umgesetzt habe. Die Autos waren die Leidenschaft ihres Sohnes, der mit ihm und den beiden schon aufgearbeiteten, außerordentlich seltenen und imposanten Wagen, zu allen größeren ausgelobten Oldtimertreffen gefahren sei und dabei viele Anerkennungsdiplome erhalten habe. Graf Thilo immer in seinem geliebten Rolls Roys und er im Chevrolet.

      Auf den halbfertigen Mercedes angesprochen