Peter Strauß

Ende offen


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gegenüber, das sie aufhören ließ, nach Nahrung zu suchen, wenn es befriedigt war. In der Steinzeit galt: Wer zu gierig war und sich den Bauch zu voll stopfte, bekam Bauchweh – viel mehr Anwendungsfälle für Gier gab es nicht.

      Die meiste Nahrung verdarb schnell, weshalb man sie nicht horten konnte. Darüber hinaus bestand persönlicher Besitz aus wenigen Gegenständen, vielleicht einem Fell als Kleidung und einem Knüppel oder Speer für die Jagd. Damals gab es also nur wenige Objekte, auf die sich dieses Streben beziehen konnte. Ein Mensch konnte zwar mehr Knüppel oder Felle besitzen als ein anderer, aber dies nützte ihm wenig. Solange man kein Haus besaß, gab es auch keinen Ort, an dem man Vorräte sicher hätte lagern können. Für Nomaden war Besitz nicht Vorteil, sondern Ballast.

      Erst die Möglichkeit, Lebensmittel zu lagern, in Geld zu wandeln und dieses anzuhäufen, schuf die Grundlage für vielfältigen Besitz. Dieser wurde auch durch die Einführung der Erbschaft gefördert. In frühen Kulturen wurden persönliche Habseligkeiten beim Tod ihres Eigentümers verbrannt oder auf seinem Grab zerstört.33 Ohne Erbschaft bedeutet jeder Tod eines Mächtigen einen Ausgleich der Machtverhältnisse. Auf den Zusammenhang von Besitz und Macht werde ich im nächsten Kapitel detaillierter eingehen.

      Heute gibt es unendlich viel mehr Objekte, auf die sich unser Besitzstreben beziehen kann. Die heutigen Konsummöglichkeiten führen zu einer ständigen Aktivierung unserer Gier, die nie vorgesehen war.

       Gewalt

      Vor Beginn der Zivilisation wurde die Stellung einer Person innerhalb der Gruppe durch Körperkraft, Geschicklichkeit sowie den sozialen Status bestimmt, wobei das Sozialverhalten eine maßgebliche Rolle spielte. Auch dies hat sich bis heute deutlich verändert. Zunächst bewirkte die Entwicklung von Waffen, dass die Bedeutung von Körperkraft und Kampftechnik hinter die der Waffentechnologie zurücktrat. Die Skala, auf der sich Macht bewegen kann, ist durch die Entwicklung von Waffen erheblich gewachsen. Durch diese Möglichkeit, Macht zu gewinnen, ist für den Einzelnen auch die Bedeutung des Sozialverhaltens für seine Stellung in der Gruppe zurückgegangen.

      Ausgelebte Aggressivität führte vor der Zivilisation in Form einer Prügelei zu Schrammen und Beulen und nur selten zu einem gebrochenen Knochen. Das wäre je nach Situation für den Betroffenen lebensbedrohlich geworden – und damit im Sinne der Arterhaltung nachteilig.

      Zur damaligen Zeit war der Entwicklungsstand aller Gruppen von Menschen und ihren Vorläufern recht ähnlich. Heute gibt es nur noch in entlegenen Regionen Stämme, die nahezu auf Steinzeitniveau leben. Ein stark unterschiedlicher Entwicklungsstand ist Voraussetzung dafür, dass sich eine Gruppe über eine andere erheben kann.

      Durch die Zivilisation hat also die Bandbreite der Auswirkungen von Gier, von Macht durch Besitz oder Macht durch Waffen und damit auch von Aggressivität erheblich zugenommen. Ausbeutung oder Vernichtung anderer waren in der Steinzeit zwar ebenso möglich – eventuell wurde auf diese Weise das Schicksal der Neandertaler besiegelt. Heute sind unsere Möglichkeiten zur Ausbeutung oder Vernichtung anderer jedoch ungleich größer. Auch haben wir nun die Macht, Ressourcen zu verbrauchen und zu verschwenden. Menschen in der Steinzeit waren kaum in der Lage, etwas final zu zerstören. Jeder Schaden, der ja nur ein Schaden an der Natur sein konnte, wurde durch das Nachwachsen des Zerstörten wieder behoben. Weiterhin hat den damaligen Menschen (zumindest vor der Erfindung der ersten Waffen) die Möglichkeit gefehlt, andere Arten auszurotten.

       Wir sind Rudeltiere

      Von unserer Abstammung her haben wir wie Schimpansen und Bonobos, unsere engsten Verwandten, über Jahrhunderttausende in Gruppen von zwanzig bis einhundertfünfzig Individuen zusammengelebt.34 Dem Anthropologen Robin Dunbar fiel auf, dass die Größe des Neocortex’ (der Großhirnrinde) verschiedener Tierarten mit ihrer Lebensweise zusammenhing: Je größer die Gruppe, desto größer der Neocortex.35 Es scheint, als sei die Größe der Großhirnrinde dafür erforderlich, dass Menschen in solchen Gruppen leben könnten. Die Dunbar-Zahl (einhundertfünfzig) ist die maximale Zahl von Personen, mit denen wir in einer Gruppe sinnvoll zusammenleben könnten, d. h. von denen wir uns Namen und ihre Beziehungen untereinander merken können.36 Offenbar war eine solche maximale Gruppengröße optimal für die Arterhaltung, und die dafür nötigen Eigenschaften stecken noch tief in uns.

      Jeder steinzeitliche Clan hatte sein eigenes Revier und überschritt dessen Grenzen nur in Ausnahmefällen. „Ein Faktum muss in diesem Zusammenhang besonders betont werden: die soziale Funktion des Territoriums im Leben der betreffenden Völker. Jede Gruppe wandert in einem bestimmten Gebiet. Ihr Weg wird in erster Linie durch die ökonomischen Erfordernisse des Sammelns und die Zufälle der Jagd diktiert, in zweiter Linie durch die Lage der Wasserstellen. […] Die Grenzen des Gebiets einer Gruppe werden strikt beachtet. Wenn sie zufällig oder absichtlich von einer anderen Gruppe verletzt werden, verteidigt die zugehörige Gruppe die Grenzen erbittert. […] Der Boden mit allem, was darauf wächst, gehört allen gemeinsam. Die Menschen kooperieren nach strengen Regeln bei der Jagd und teilen das erlegte Wild miteinander. Es gibt keine Reichen und keine Armen. Zwischen den Untergruppen eines Volkes ist Austausch an der Tagesordnung. Über die Grenzen des Territoriums hinweg kommt es zu freundschaftlichen Besuchen, werden Geschäfte abgewickelt und Ehen geschlossen.“37

      Heutzutage leben wir in einer Massengesellschaft, begegnen täglich vielen fremden Menschen und treten mit einigen von ihnen in Kontakt. Trotzdem fühlen wir uns immer noch in Verbünden von der damaligen Größe am wohlsten. Schulklassen, Abteilungen in Firmen, viele Vereinsgruppen und andere Zusammenschlüsse haben eine Größe von zwanzig bis fünfzig Personen. Dies ist eine Zahl von Personen, zu denen man ein mehr oder weniger persönliches, freundschaftliches Verhältnis haben kann. Darüber und darunter wird es schwierig. Hat man über längere Zeit nur Kontakt zu wenigen Personen, so entsteht schnell Streit und Lagerkoller. Hat man auf Facebook achthundert Freunde, so wird man kaum von allen die Namen kennen.

      Kontaktfreudigere Menschen hatten in den Städten in den letzten Jahrtausenden sicher größere Überlebenschancen als andere. Trotzdem gilt immer noch, dass jeder von uns gerne einen festen Freundeskreis hat und die Evolution noch nicht dorthin fortgeschritten ist, dass wir jedem Fremden genauso offen begegnen können wie guten Freunden. In diesem Sinne glaube ich, dass Menschen sich am wohlsten fühlen, wenn sie in einer Gruppe leben, die das Leben in einem Sozialverbund wie vor Entstehung der Zivilisation ermöglicht.

      Unsere Mechanismen zur Entscheidungsfindung funktionieren gut in Gruppen von zwanzig bis fünfzig Personen. In größeren Gesellschaften kommen sehr leicht für Einzelne oder Teilgruppen schädliche Entscheidungen zustande, und Ignoranz und Ausnutzung nehmen zu, weshalb wir zur Regelung des Zusammenlebens zunächst Hierarchien und später demokratische Staatssysteme eingeführt haben.

       Nutzen der Gemeinschaft

      Heute ist es möglich, ohne allzu viele Sozialkontakte zu existieren. Steinzeitmenschen dagegen waren auf das Zusammenleben angewiesen. Eine Trennung von der Gruppe war mit größeren Risiken für den Einzelnen verbunden als heute. Damals hätte ein Verlassen der Gruppe in vielen Fällen den Tod bedeutet. Daher hatte die Gruppe bzw. das Rudel eine deutlich größere Bedeutung, und der Einzelne oder die Paarbeziehung waren wesentlich unbedeutender.38 Individualismus war noch nicht erfunden, die Gemeinschaft hatte Priorität. Das Zusammenleben in der Gruppe war von emotionalen Bindungen geprägt.39 Die „Gesellschaft“ wurde durch die sozialen Bindungen zusammengehalten und nicht durch ein Regelwerk wie heute. Der damalige Mensch gehorchte den Regeln des gemeinen Rechts der Gemeinschaft blinder noch als der moderne Mensch den Regeln des geschriebenen Rechts.40 Die Gemeinschaft war alles, der Einzelne war unbedeutend. Vorsteinzeitliche Clans hatten keine Anführer und fällten ihre Entscheidungen einstimmig.41 Aus den Clanverbänden gingen nach der Sesshaftwerdung die Dorfgemeinschaften hervor und blieben über lange Zeit das Hauptmodell der Gesellschaft.42

      In den damaligen Clans gab es komplizierte Systeme, nach denen die Nahrung verteilt wurde, sodass alle versorgt waren. Die Alten, die sich nicht selbst versorgen konnten, wurden von den jüngeren Stammesmitgliedern miternährt, und sie bewahrten das Wissen und die Erfahrung der Gemeinschaft.43 In der Gruppe waren alle