der Clans verlassen haben und die Individualisierung zugenommen hat. Zuvor gab es keinen Besitz und keine solchen Missstände, die heute viele wahrnehmen und anprangern. In einer Clangemeinschaft war das Verhältnis zu den anderen Clanmitgliedern zu eng, als dass es Raum für Rücksichtslosigkeit oder Besitzanhäufung gegeben hätte. Dies entsprang keiner bewussten Entscheidung oder Abwägung. Man fühlte sich den anderen viel zu verbunden, als dass man auf diese Art gegen sie hätte handeln können – genauso wie kaum jemand seine Kinder oder Eltern bestehlen, ausbeuten oder bekämpfen würde. Wer heute an der Seite der anderen gejagt hat, gestern mit ihnen zusammen gehungert hat und morgen vielleicht ihre Unterstützung braucht, wenn man plötzlich einem Wolfsrudel gegenübersteht, kommt kaum auf die Idee, sie zu bestehlen oder zu betrügen, sich auf ihre Kosten zu bereichern oder sie sonstwie zu beeinträchtigen. Auch wird es kaum Raum für Ungerechtigkeiten oder Ungleichverteilung geben. Wer so eng mit den anderen zusammenlebt, sich ihnen so verbunden fühlt und so auf sie angewiesen ist, wird sich nicht satt essen, ohne an die anderen zu denken.59 Streitigkeiten werden selten vorgekommen sein, und wenn sie einmal in Gewalt ausgeartet waren, werden die Gewalttäter sich wahrscheinlich schnell für ihr Verhalten geschämt haben, wenn sie sich wieder daran erinnerten, wie nahe ihnen die anderen standen. Kein Mitglied der Gruppe würde einem anderen Faulheit und Egoismus unterstellen, denn niemand in der Gruppe würde durch solche Eigenschaften anderen schaden, und alle fühlten das. Darauf gründete sich ihre Verbundenheit.
Wenn heutzutage einige Kinder auf einem Schulhof ein anderes hänseln oder wenn ein Manager einen Mitarbeiter entlässt, dann bleibt dieses Handeln aus zwei Gründen für die Handelnden folgenlos: Die Betroffenen können sich nur schwer dagegen wehren, und die Handelnden sind kaum auf sie oder ihre Meinung über sie angewiesen, weil sie zu den Leidtragenden in der Regel in keinem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Der Rest der Gesellschaft wird dieses Handeln selten sanktionieren, weil er in keinem persönlichen Verhältnis zu dem einen oder anderen steht. In einer steinzeitlichen Gruppe oder einem mittelalterlichen Dorf wäre so ein Verhalten unmöglich gewesen. Der enge Zusammenhalt verhinderte automatisch übergriffige Handlungen – ohne dass es den Betroffenen dazu bewusst werden musste, dass ein Fehlverhalten sich in einer Notsituation rächen kann. Der ständige Kampf gegeneinander (Wettbewerb) ist erst durch die Auflösung der Dorfgemeinschaften und die Schaffung einer großstädtischen Gesellschaft entfesselt worden. In steinzeitlichen Clans beschränkte sich Wettbewerb auf wenige Situationen, wie die Konkurrenz um Geschlechtspartner, war aber kein immer präsentes Element der Gesellschaft wie bei uns heute.
Der Beginn der Zivilisation
Die neolithische Revolution war ein wichtiger Schritt in der Menschwerdung und wird als der Beginn der Zivilisation angesehen. Der homo sapiens ist vor zweihunderttausend Jahren in Ostafrika aufgetreten und lebte bis zur neolithischen Revolution ausschließlich als Jäger und Sammler. Diese bezeichnet die Sesshaftwerdung und die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht und begann frühestens vor ca. zwanzigtausend Jahren im Nahen Osten, und die letzten Regionen entdeckten den Ackerbau vor fünf- bis dreitausend Jahren (im Afrika südlich der Sahara und auf dem amerikanischen Kontinent). Damit ging die Bildung von Städten einher. Vor Ackerbau und Viehzucht musste die solare Energie, von der wir letztendlich leben, dezentral, also durch Jagen und Sammeln, eingefangen werden. Danach gab es die erste Überschussproduktion, sodass Menschen überhaupt in Städten leben konnten.60 Jared Diamond schreibt: „Für die meisten Menschen brachte die Landwirtschaft Infektionskrankheiten, Fehlernährung und eine verkürzte Lebenserwartung. Zu den allgemeinen Veränderungen zählte, daß sich das relative Los der Frauen verschlechterte und die Klassengesellschaft begründet wurde.“ Die Landwirtschaft verbesserte nicht den Ertrag pro Person, sondern den Ertrag pro nutzbare Flächeneinheit. Menschen mussten in der Landwirtschaft mehr Arbeit für ihre Ernährung aufwenden, aber durch die höhere Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Fläche und die Möglichkeit der Lagerung beispielsweise von Getreide wurden eine höhere Bevölkerungsdichte und größere Ansiedlungen möglich. Nomaden (Jäger und Sammler) leben seither nur noch in Gegenden, in denen Landwirtschaft nicht möglich ist.61
Jean Ziegler fasst es so zusammen: „Es ist charakteristisch für die neolithische Revolution, die sich über mehrere Jahrtausende hinzog, dass es den Menschen gelang, die Natur ihren Bedürfnissen zu unterwerfen: durch die Produktion von Nahrungsmitteln mit Ackerbau und die Domestizierung von Tieren und Viehzucht; durch die Entdeckung des Metalls, was die Herstellung von Werkzeugen und die Bearbeitung der Erde (die Hacke) möglich machte, und von Töpfen zur Aufbewahrung der Erzeugnisse; durch feste Siedlungen in Dörfern, entweder im Zuge der Sesshaftigkeit oder zur Stabilisierung einer insgesamt nomadischen Lebensweise; durch die Bildung von Reserven, also Reichtum, woraus erbliche Macht und die ersten Kriege entstanden; und schließlich durch eine demografische Explosion…“62
Der Sinn des Lebens und die Suche nach dem Glück
Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird meist als eine Frage nach dem Zweck oder Ziel des Lebens verstanden. Es gibt viele unterschiedliche Meinungen, was der Sinn des Lebens sei. Aus philosophischer oder religiöser Sicht kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen, wenn man von der Moral ausgeht, ebenfalls. All diese Ansätze gehen von einer menschlichen Perspektive aus. Es gibt aber noch eine objektivere Möglichkeit, den Sinn des Lebens zu definieren. Der Mensch hat sich durch Evolution zu dem entwickelt, was er ist. Damit ergibt sich ein möglicher Sinn aus dem, wozu wir geschaffen wurden, wofür uns die Natur optimiert hat: Das Ziel der menschlichen Evolution, der Sinn des menschlichen Lebens ist das Überleben der menschlichen Art. Sinndefinitionen, die über die Arterhaltung hinausgehen, sind erst durch die Reflexion des Menschen über sich selbst möglich geworden.
Die Evolution hat dem Menschen Mechanismen zur Steuerung mitgegeben, um die Aufgabe der Arterhaltung möglichst gut zu erfüllen. Der einfachste ist der Schmerz. Wenn etwas wehtut, meiden wir es in Zukunft. Wohlbefinden und Unwohlsein steuern uns so, dass wir Gefahren aus dem Weg gehen und nach dem streben, was uns nützt. Glück gehört ebenso dazu. Wenn wir die richtigen Dinge tun, fühlen wir uns glücklich.63 Das erklärt, warum wir vor Geschenken und Neuanschaffungen lange Vorfreude empfinden können, die Freude danach aber oft schnell nachlässt. Ein erreichter Erfolg ist somit im Moment des Eintretens uninteressant geworden, und unsere Aufmerksamkeit soll auf die nächste Optimierungsmöglichkeit gelenkt werden. Solche Gefühle steuern uns in einem natürlichen Umfeld so, dass die Arterhaltung optimiert wird. In unserer heutigen Gesellschaft treibt das leider auch sinnlosen Konsum an.
Diese Mechanismen können wir nicht umgehen. Sie sind tief in unseren Genen verankert. Die Evolution hat uns über Millionen von Generationen genetisch auf das vorbereitet, was uns erwartet – den Zustand vor etwa zehntausend Jahren, in dem Menschen lebten, bevor die Zivilisation begann. Wir kommen mit einer Erwartung an diese Zustände und an mögliche Erlebnisse auf die Welt (siehe Kapitel 2.4). Wir sind durch Evolution nicht nur in der körperlichen, sondern auch in der geistigen Struktur auf das vorbereitet, was die Generationen vor uns erlebten. Die Art, wie wir nach Glück streben, dient den Zielen der Evolution.64
Wenn wir uns in einen Zustand des Zusammenlebens begeben, der dem damaligen nahekommt, fühlen wir uns besser, als wenn wir uns von der damaligen Lebensweise entfernen.
Individualismus und unsere Entwicklung haben sich in den letzten Jahrhunderten gegenseitig angetrieben und den technischen und gesellschaftlichen Fortschritt befeuert (siehe Kapitel 2.8). In unserem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem wird uns ständig suggeriert, dass wir umso besser sind, je unabhängiger und individueller wir sind, dass jeder seines Glückes Schmied und dass Flexibilität (das Gegenteil von festen Beziehungen) oberstes Gebot sei. Trotzdem sind wir keine Einzelgänger und sind nicht völlig unabhängig von anderen.
Unser heutiges Wirtschaftssystem treibt uns dazu, den Sinn des Lebens oder unser Glück in der Beschleunigung des Fortschritts, in Leistung, mehr Arbeit, mehr Vermögen, Besitz und Macht zu suchen. Die Verfolgung dieser Werte führt aber auch zu den oben genannten negativen Gefühlen, sie laugt uns aus und reduziert unsere sozialen Beziehungen – sie führt also nicht eindeutig zu mehr Glück. Fortschritt und Leistung machen nicht an sich glücklich, sondern höchstens indirekt über die dadurch erzielten Erfolge. Arbeit macht nur glücklich, wenn man das Ergebnis seines Tuns genießen kann.