Die Frau möchte sich mit dem Besten paaren, also sollte sie bei Gelegenheit mit einem attraktiveren fremdgehen, wenn sie sich der Unterstützung ihres Partners sicher sein kann. Der Mann möchte, dass seine Gene weitergegeben werden. Daher sollte der Mann sich mit weiteren Frauen paaren, und damit seine Chancen erhöhen, seine Gene weiterzugeben. Fremdgehen ist ein natürliches Programm zur Effizienzsteigerung.
Es erscheint mir, dass es für das Überleben einer steinzeitlichen Gruppe wichtig war, dass manche viel Lust auf andere hatten und die Gene sich durchmischten. Promiskuität führt dazu, dass der Genpool aufgefrischt wird. Dies kann gerade vor der neolithischen Revolution wichtig gewesen sein, denn die damaligen Clans hatten untereinander wenig Kontakt und konkurrierten um ihre Reviere, sodass die Gefahr bestand, dass die genetische Vielfalt innerhalb einer Gruppe für die Arterhaltung zu gering war. Es war ebenso wichtig, dass es feste Beziehungen gab, die Ruhe und Konstanz in die Gruppe brachten, denn zu viel Promiskuität kann dazu führen, dass der Zusammenhalt der Gruppe zu gering wird und sie zerfällt. Daher ist Monogamie ebenso wichtig. Sich für das eine oder das andere zu entscheiden oder jedem gleich viel von beiden Eigenschaften mitzugeben, ist für Menschen offenbar schlechter, als die beiden Eigenschaften ungleich auf die Menschen zu verteilen – so werden beide Funktionen erfüllt. So entwickelten sich verschiedene Charaktere, von denen weder der eine noch der andere „besser“ ist, sondern die gleichermaßen wichtig für die Arterhaltung sind.
Jean Ziegler schreibt: „Bevor der Mensch liebt, liebt er das Land, auf dem er lebt. Der Mensch im Paläolithikum definierte […] höchstwahrscheinlich ein bestimmtes Territorium als sein eigenes, stellte sich die Welt als Funktion des Territoriums vor, sprach ihm feste Grenzen zu, verteidigte sie mit seinem Leben, verließ seine Frau und sein Kind und kehrte auf sein Territorium zurück, sobald er auf dem Nachbarterritorium den Zeugungsakt vollzogen und sich seiner Wirksamkeit (der Geburt eines Kindes) überzeugt hatte.“70 Ähnliches findet sich auch bei Peter Kropotkin: Bei den primitiven Menschen habe es Frauentausch gegeben, lockere eheliche Bande, Aufhebung der Ehebeschränkungen bei Festlichkeiten oder an jedem fünften, sechsten, siebten Tag, sowie Ehen, bei denen mehrere Männer eine Frau heirateten.71
Wenn wir heute eheliche Treue als Ideal definieren und diese von allen Menschen fordern, stellt das für einen Teil der Männer wie der Frauen eine Überforderung dar – sie könnten diese Erwartung nicht erfüllen, selbst wenn sie wollten. Also hat eine solche Erwartung wenig Sinn. Es wäre sinnvoller, wenn wir das Fremdgehen als Eigenschaft aus unserer Herkunft anerkennen würden, beispielsweise indem es sich etablieren würde, dass sich Paare, die sich gerade kennengelernt haben, darüber austauschen, welche Vorstellungen sie von Treue in einer Beziehung haben und ob sie in dieser Hinsicht harmonieren, statt nach Jahren in heftigsten Streit auszubrechen, wenn der zuvor totgeschwiegene Unterschied offensichtlich wird.
Werbung und Propaganda
Dass Menschen auf Einflussnahme anderer reagieren, ist natürlich. Es hat sicherlich auch in einer frühzeitlichen Gruppe zum Prozess der Meinungsbildung gehört, dass Menschen bereit waren, sich der Meinung anderer anzuschließen, wenn ihnen diese schlüssig präsentiert wurde. Im Allgemeinen wird es so sein, dass ein einleuchtender Gedanke auch zu einem guten Ergebnis führt. So gesehen hat auch die Evolution „Verkaufstalent“ in gewissen Grenzen gefördert, und es gehört zum menschlichen Sozialverhalten. Die unerwünschten Ausnahmen sind die Fälle, in denen ein gut verkaufter, aber unschlüssiger Gedanke sich gegen einen schlecht präsentierten, vernünftigeren durchsetzen kann.
Verkaufstalent wirkte früher anders als in der heutigen Zeit: In einer kleinen Gruppe von Menschen, wie einer Schulklasse, einer Abteilung in einer Firma oder einem Verein kennen sich alle untereinander. Kurze Zeit nach der Gründung einer solchen Gruppe haben alle die Eigenarten der anderen Gruppenmitglieder kennengelernt. Wenn einer eine „große Klappe hat, aber wenig dahinter“, so wissen das die anderen und werden auf seine vermeintlich sinnvolle Rede weniger hören. Das kennt wahrscheinlich jeder aus seiner Schulzeit. Umgekehrt ist in einer Gruppe auch schnell klar, wenn ein Gruppenmitglied gute Ideen hat, aber sich kaum traut, diese durchzusetzen. Die anderen werden die Schüchternheit dieses einen meist dadurch ausgleichen, dass sie bei ihm genauer hinhören oder ihn nach seiner Meinung fragen. Die Gruppe ist also in der Lage, Unterschiede in der Persönlichkeit zum maximalen Nutzen aller zu kompensieren.
In unserer heutigen Massengesellschaft führen dieselben menschlichen Eigenschaften zu einem anderen Ergebnis: Da nicht mehr jeder jeden kennen kann und der Empfänger der Botschaft die Eigenarten und die Persönlichkeit des Senders der Botschaft meist nicht feststellen kann, versagt die Methode, die Botschaft mit Hilfe der Kenntnis der Persönlichkeit des Senders zu korrigieren. Unter solchen Umständen wird es schwierig. Der Empfänger der Botschaft muss sich entscheiden, ohne die Kenntnis der Persönlichkeiten der einzelnen Sender zwecks Orientierung zur Hand zu haben. Zum Beispiel muss er einen Politiker oder eine Partei wählen, ohne dass er die Ernsthaftigkeit der Wahlversprechen beurteilen kann. Ebenso verhält es sich bei Produktwerbung, deren Aussagekraft wir auch erst dann erkennen, wenn der betreffende Artikel von uns gekauft und benutzt wurde. Erst dann wissen wir, wer um wie viel beschönigt hat, wer oder was wirklich eine gute Wahl war und wer oder was nur besonders geschickt vermarktet wurde. In einer unpersönlichen Umgebung kann nicht mehr die beste Entscheidung getroffen werden.
Das ist eines unserer Probleme: Rhetorik und gute Werbung werden dadurch höher bewertet als gute Lösungen. Selbst langfristig führt das oft nicht zu besseren Ergebnissen. Politiker stehen nach vier Jahren, nach denen man sich vielleicht eine etwas genauere Meinung bilden konnte, nicht mehr zur Wahl. Unternehmen, die sich mit hochwertigen Produkten einen Namen gemacht haben, entscheiden sich, ihren Herstellungsaufwand auf Kosten der Qualität zu reduzieren usw. Da sich alle in einem System oft gleich verhalten (alle Politiker machen falsche Wahlversprechen, alle Handyhersteller preisen Funktionen an, die nur eingeschränkt zur Verfügung stehen), hat der Einzelne nur die Wahl zwischen gleichen Übeln. Außerdem stehen Rhetorik, Propaganda und Werbung so stark im Vordergrund, dass über die dahinter liegende Wahrheit ohne langwierige Untersuchungen kaum etwas herauszubekommen ist. Das ist der Grund, warum zum Beispiel die Pharmaindustrie ein Vielfaches von dem in Werbung investiert, was sie für Forschung ausgibt. Da der Kunde die Wahrheit kaum erkennen kann und ihm keine echte Wahl bleibt, ist Werbung oft renditeträchtiger als wirkliche Qualität. Das im Kleinen sinnvolle Phänomen, auf eine gute Präsentation zu reagieren, wird in der Anonymität der Masse ins Gegenteil verkehrt. Was im Kleinen sinnvoll war, wird im Großen kontraproduktiv.
Grenzen der Evolution
Die Natur (die Evolution) wertet nicht moralisch. Sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind, mit allen vermeintlichen Stärken und Schwächen und mit allen vermeintlich moralischen und unmoralischen Eigenschaften. Die Evolution hat dazu geführt, dass wir unsere Kinder lieben. Sie hat uns die Aggression gegeben, die zur optimalen Ausnutzung unserer Reviere führte (siehe Kapitel 2.5). Und sie will es oder duldet es, dass steinzeitliche Menschen in bestimmten Situationen ihren eigenen Nachwuchs töteten oder dass es Kannibalismus gab. Letzteres erscheint uns zu Recht sehr brutal. Im Sinne der Evolution war das Töten von Kindern vermutlich besser, als den ganzen Stamm aufgrund von Hunger aussterben zu lassen. Kannibalismus war höchstwahrscheinlich ein Irrtum der Evolution, blieb aber unbedeutend und wurde von der Evolution geduldet, solange er nicht Ausmaße annahm, die die Existenz des Stammes gefährdete. Falls dies vorkam, so stammen wir nicht von dieser Linie ab. Entscheidend aber ist: Heute haben wir bessere Möglichkeiten, unser Zusammenleben in dieser Hinsicht zu regulieren. Heute können wir mit Hilfe unseres freien Willens solche Probleme im Sinne selbst gewählter Moralvorstellungen lösen. Bei weniger offensichtlichen Belangen sollte dabei mit Bedacht vorgegangen werden, denn der Sinn vieler Mechanismen der Natur erschließt sich nicht automatisch. Grundsätzlich besteht aber die Möglichkeit, die Evolution zu „optimieren“.
Es ist sinnlos, ein von Aggressionen befreites Leben anzustreben. Das können Menschen nicht leisten, denn Aggression ist unauslöschlich in uns angelegt. Es bestünde aber die Möglichkeit, sich zu überlegen, wie Aggressionen umgeleitet oder gedämpft werden können, sodass sie keinen Schaden anrichten, sondern konstruktiv genutzt werden.
Es tut uns gut, wenn wir unser Leben so gestalten, wie es unsere Vorfahren in der Steinzeit taten.