Peter Strauß

Ende offen


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Zeiten aufgekommene völlige Herrschaft über andere. Es kann in einer solchen Gruppe nie zu einem Ungleichgewicht kommen, das Einzelnen die Ausbeutung der Masse erlaubt und damit die Gemeinschaft schädigt.

       Vergleich Waffen – Vermögen

      Wer eine Waffe hat, kann in Situationen seine Meinung durchsetzen, in denen er sonst nachgeben oder einen Kompromiss aushandeln müsste. Dadurch kann er sich Vorteile verschaffen. Haben alle vergleichbare Waffen, so hat keiner mehr einen Vorteil. Das Gleichgewicht stellt sich nur auf einem höheren Gewaltniveau ein – zum Nachteil für alle. Am Steuer eines SUV sitzt man höher, kann über die Vorausfahrenden hinwegsehen und hat mehr Überblick. Fahren alle SUVs, hat keiner mehr einen Vorteil, aber alle haben den Mehrverbrauch und die Umweltschäden zu tragen. Dasselbe gilt für Geld: Wer mehr Geld hat, hat mehr Macht und kann sich Vorteile erkaufen, auf die andere keinen Zugriff haben. Hätten alle gleichmäßig mehr Vermögen – was bisher noch nicht eingetreten ist –, so ginge dies mit erhöhtem Konsum, Ressourcenverbrauch und den entsprechenden Folgen einher – wieder zum Nachteil für alle.

      Bei Waffen entscheiden wir uns (im Gegensatz zu den USA) ganz klar dafür, dass der Bürger sie nicht besitzen sollte, denn wir haben dem Staat das Gewaltmonopol übertragen. Für alle Bürger gilt Gleichbehandlung: Sie sollen ihre Konflikte auf Augenhöhe austragen. In Bezug auf Vermögen tolerieren wir aber eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: den Normalbürger und wenige Reiche, die sich trotz rechtlicher Gleichstellung faktisch von vielem freikaufen können. Warum?

       Die Grenzen der Evolution

      Ich bin der festen Ansicht, dass es „das Böse“ nicht gibt. Wenn wir unseren destruktiven Trieben freien Lauf lassen und Menschen oder Tiere quälen, so gibt es dafür zwei Gründe. Zum einen hat die Evolution der Gewalt keinen Riegel vorschieben können, wenn sie aus der Situation heraus nicht sanktionierbar ist. Das heißt, ich kann Ameisen zertreten, so lange ich will. Da diese so viel kleiner sind, wird die Evolution mein Verhalten nicht unterbinden können.78 Es hat keinen negativen Einfluss auf die Arterhaltung, wenn ich es tue, und keinen positiven, wenn ich es lasse. Zum anderen setzt eine bewusste zerstörerische Handlung voraus, dass ich Wut in mir trage. In diesem Zusammenhang ist es für den Zusammenhalt der Gemeinschaft oft von Vorteil, wenn ich die Wut irgendwo außerhalb der Gruppe abreagieren kann, also an wehrlosen Tieren oder wehrlosen anderen Menschen. Daher hat uns die Evolution wahrscheinlich diese Möglichkeit gelassen – wir können uns an anderen abreagieren, wenn es keinen negativen Einfluss auf unser Überleben hat, und daher hindert uns sehr wenig in unserem Empfinden daran, solange der andere uns nur fremd genug und eindeutig unterlegen ist: Arterhaltung ist nicht immer freundlich, und biologische Evolution ist gröber und brutaler als geistige Evolution.

      Eine zu große Ungleichheit unter Menschen kann also für die Schwächeren schnell zur Gefahr werden (siehe auch Kapitel 3.8): Vor Wesen, die uns nur ein wenig unterlegen sind, haben wir schon nahezu keinen Respekt. Wir essen Tiere, halten sie auf unmenschliche Weise, töten oder quälen sie teilweise ohne Notwendigkeit. Was uns deutlicher unterlegen ist, nehmen wir gar nicht mehr wahr: Ameisen sind für uns so unbedeutend wie Steine. Wenn wir darauf treten, fällt es uns nicht einmal auf, obwohl es sich um Leben handelt. Selbst uns dümmer erscheinende Menschen behandeln wir oft respektlos. Sitzen mehrere Menschen zusammen und diskutieren, so schließen die, die sich für intelligenter halten, den, den sie für dümmer halten, häufig aus und beachten ihn nicht. Schon solche kleinen Unterschiede reichen aus, diejenigen zu übergehen, die weniger können oder weniger Macht haben. Viele Wohlhabende sehen ihren Erfolg als Resultat ihres Könnens an und halten die Ärmeren für weniger bedeutend. Wie groß dürfen Unterschiede im Wohlstand unter diesen Umständen werden?

       Die Gegenkräfte werden weniger

      Es gab aber immer auch Gegenkräfte zur beständigen Konzentration von Macht. Ich stelle mir vor, wie vor Beginn der Industrialisierung der Zusammenhalt in Dörfern gewesen sein könnte: Es gab wie überall reichere und ärmere Menschen. Wenn ein Ärmerer in Not geriet, fragte er vielleicht bei seinem reichen Nachbarn, ob dieser ihn unterstützen würde. Und sicherlich gab es Reichere, die auf ihrem Geld saßen. Aber es wird auch andere gegeben haben, die ihrem armen Nachbarn halfen, weil sie auf dem Markt regelmäßig bei ihm eingekauft hatten oder weil ihre Kinder zusammen spielten oder weil die Frau des einen die Cousine des anderen war. Das enge Zusammenleben in der Gemeinschaft eines Dorfes oder einer Kleinstadt brachte neben dem Streben nach Besitz oder Macht auch Verflechtungen mit sich, die die möglichen Auswirkungen der Macht begrenzten. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich das egoistische Prinzip stärker durchsetzen können. In einer heutigen Großstadt kommt keiner auf die Idee, seine Nachbarn nach Geld oder Essen zu fragen, und könnte umgekehrt wenig Unterstützung erwarten. Der Kontakt ist meist nicht eng genug. Solche Hilfe ist seit der Industrialisierung und besonders seit dem Neoliberalismus seltener geworden. Der Reiche bekommt meist zu wenig vom Leben des Armen mit, als dass sein Mitgefühl stark genug werden würde, um etwas abzugeben. Die Idee, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei und sein Leben selbständig und eigenverantwortlich zu führen habe, ist stärker geworden.

       Besitz führt zu Macht

      Der Mensch entwickelte sein Zusammenleben von einer Gemeinschaft mit geringen Ungleichheiten über die Jahrtausende zu mächtigen Staaten mit Königen. Aus Beratern, deren Stellung ursprünglich nur wenig über der anderer Menschen lag, wurden irgendwann Anführer, denen ihr Besitz bei der Festigung und dem Ausbau ihrer Macht half.79 In der Folge sind aus ihnen Lehnsherren und (Raub-)Ritter geworden, noch später Fürsten und Könige.

      Besitz wird in vielen Quellen als eine wesentliche Ursache von Macht und Ungleichheit angesehen: Die Sesshaftwerdung ermöglichte das Erwirtschaften von Überschüssen. Diese Vorräte sollten von Verwaltern gerecht verteilt werden. Diese Verwalter seien dadurch zu Einfluss und Autorität gelangt. Es sei also nicht die direkte Bereicherung, sondern – indirekt – die Stellung gewesen, die die Ungleichheit befördert habe.80 Durch Ausbau und Verfestigung der Strukturen hätten sich die Verwalter dann zu Häuptlingen bzw. Herrschern gewandelt. Dazu sei ein enges Zusammenleben vieler erforderlich gewesen.81

      Jared Diamond schreibt: „Neben Fehlernährung, Hunger und Krankheitsepidemien brachte die Landwirtschaft noch einen weiteren Fluch über die Menschheit – die Entstehung sozialer Klassen. Jäger und Sammler besitzen nur wenige oder gar keine konzentrierten Nahrungsquellen wie Obstplantagen oder Viehherden. Sie leben vielmehr von dem, was sie täglich sammeln oder erbeuten. Außer Kleinkindern, Kranken und Alten sind alle an der Nahrungssuche beteiligt. Deshalb gibt es bei ihnen keine Könige und Individuen, die einen spezialisierten Beruf ausüben, keine Klasse sozialer Schmarotzer, die sich auf Kosten anderer Fett anfressen.“82

      Die Entstehung von Besitz und von Rollen wie Berater, Verwalter, Anführer, Rechtssprecher und vielleicht auch das Aufkommen von Familien innerhalb der Gruppe haben also die Entstehung von Macht ermöglicht. Über lange Zeit konnten Machtkonzentrationen und große Ungleichheit entstehen.

      Im Mittelalter war Leibeigenschaft weit verbreitet. Auch heute tendieren wir mit unserer eng reglementierten und stressigen Berufswelt wieder zu etwas Ähnlichem, wenn auch im modernen Kleid. Die Leibeigenschaft im Mittelalter ist zwischen Sklaverei und Hörigkeit einzuordnen.83 Heutige Arbeitsverhältnisse kann man in vielen Fällen ebenso als Hörigkeit bezeichnen.

      Auch unser persönliches Einkommen ist ein Symbol der Macht. Je mehr Einkommen jemand hat, desto mächtiger ist er, und umgekehrt ermöglicht Macht die Erlangung zusätzlichen Vermögens.

      Macht hat in unserer Demokratie nur derjenige, dem wir, der Souverän, die Gemeinschaft der Bürger, sie zugestehen.

       Hierarchie ist nicht mehr zeitgemäß

      Im neunzehnten Jahrhundert setzte sich die Gesellschaft überwiegend aus gebildeten Vermögenden und ungebildeten Armen zusammen. Gute Schulbildung war eher den Wohlhabenden vorbehalten. Kinder aus ärmeren Familien mussten oft früh die Schule verlassen, damit sie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen konnten.84 Einer solchen Gesellschaft kommt es entgegen, wenn es einige Positionen mit höheren Anforderungen und viele