Peter Strauß

Ende offen


Скачать книгу

Sport und Spiel sind die Überbleibsel der Jagd und des dazu nötigen Trainings. Wir reisen gerne, was meines Erachtens den archaischen Trieb befriedigt, der unsere Vorfahren durch ihr Revier ziehen ließ oder sie als Nomaden leben ließ. Auch in Bezug auf die Faulheit verhalten wir uns zumindest teilweise wie unsere Vorfahren: Wir arbeiten nicht pausenlos (wie Ameisen), sondern gönnen uns Ruhezeiten – Feierabend und Wochenende sind uns heilig. Unter rein wirtschaftlicher Betrachtung könnten und müssten wir alle diese Verhaltensweisen unterlassen, weil wir dann viel produktiver sein könnten und den technischen Fortschritt erheblich beschleunigen könnten. Dass wir das nicht tun, zeigt, wie stark das Erbe unserer Vorfahren noch in uns wirkt.

       2.3 Gier, Macht und Hierarchie

      Wie erwähnt, ist Gier ein Antrieb, der zur optimalen Versorgung und damit zur optimalen Arterhaltung beitragen soll. Solange es keine Sesshaftigkeit, keinen umfassenden Besitz, kein Eigentum und Vermögen gab, hatte Gier wenige Ziele: Nahrung und vielleicht den Besitz eines Fells, Speers oder Faustkeils. Gier sorgte dafür, dass sich jeder darum bemühte, nicht zu kurz zu kommen. Neben dieser Form des durch menschliche Gier ausgelösten Wettbewerbs um Nahrung gibt es unter Menschen zahlreiche gegenläufig wirkende Mechanismen: Wer geschickt oder schlau ist, kann sich – trotz der größeren Kraft eines anderen – Nahrung beschaffen. Außerdem haben wir Menschen einen starken Wunsch nach Gemeinschaft und Freundschaft, was zu gegenseitiger Hilfe führt. Nahrung wurde in der Steinzeit nicht nur gehortet, sondern auch mit anderen geteilt. Wettbewerb ist nicht der einzige Mechanismus der Evolution. Er wurde durch andere Mechanismen in seiner Wirkung abgeschwächt.

       Besitz schafft Ungleichheit

      Aus zwei Gründen gab es in einer steinzeitlichen Gruppe keine ausgeprägten Hierarchien.72

      Ein Mensch, mit einer überdurchschnittlichen Körperkraft konnte daraus wenige Vorteile gewinnen, solange Nahrung im Überfluss vorhanden war. Nur in Notzeiten hätte er seine Stärke ausspielen und mehr Nahrung für sich beanspruchen können.

      Jägern und Sammlern war das Anhäufen von Besitz unbekannt. Er hätte beständig mitgenommen werden müssen und damit eine Last dargestellt. Persönliches Eigentum war daher auf das Nötigste beschränkt.73

      In der Folge der neolithischen Revolution wurden Überschüsse erwirtschaftet, die die Voraussetzung für Ungleichheit darstellen.74 Jean Ziegler nennt die Einführung des Privateigentums den „Gründungsakt der gesellschaftlichen Ungleichheit“ und zitiert Rousseau: „…ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.“75 Gier führt in einer Welt des Besitzes zu Macht, wenn sie ihr Ziel erreicht und Besitz und Vermögen anhäuft. Wie diese Macht dann genutzt wird, hängt von den Präferenzen des Einzelnen ab. Meist wird Macht aber eher zum persönlichen als zum allgemeinen Nutzen eingesetzt.

      Vor Beginn der Zivilisation dienten Gier und Strebsamkeit des Menschen im Wesentlichen drei Zwecken:

      1. der schon erwähnten optimalen Versorgung aller aufgrund eines starken eigenen Bemühens um die Versorgung;

      2. einer Förderung der Stärkeren, sodass sich zumindest nicht der Schwächere durchsetzen konnte,

      3. dem Streben nach Macht, sodass sich in einer kritischen Situation jemand findet, der die Macht übernehmen will und die Rolle des Anführers einnimmt und die Gruppe aus der Krise führt.

      Vor der Zivilisation bezog ein Anführer seine Legitimation aus der Aufgabe. In einer Notsituation konnte ein Alpha-Männchen die Gruppe führen. War diese überwunden und ging es allen wieder gut, so hatte der Anführer deutlich weniger zu sagen. Nur solange der Anführer durch die Qualität der Ergebnisse überzeugen kann, wird er diese Rolle behalten. Wieso sollte sich eine Gruppe mit vollem Bauch in der Sonne liegender Steinzeitmenschen von irgendwem kommandieren lassen? Das korreliert mit der Erkenntnis, dass in Krisenzeiten eine Einzelperson als Anführer schlagkräftiger ist, in friedlichen Zeiten aber ein demokratisches Vorgehen unter Einbeziehung aller Meinungen zu besseren Ergebnissen führt. Es gab damals keine permanente Autorität, sondern nur eine solche, die sich am Bedarf der Gruppe und der Befähigung der Autoritätsperson orientierte und ebenso wieder verschwand, wenn eine dieser beiden Voraussetzungen nicht mehr gegeben war.76

      In einer Jugendgruppe, der ich lange Zeit angehörte, gab es jemanden mit einer Begabung für Führung und Koordination. Häufig fanden die Vorschläge, die er machte, große Zustimmung. Gleichermaßen regte sich aber Widerstand, wenn viele das Gefühl hatten, dass sie gegen ihren Willen irgendwohin gelenkt werden sollten. Im Nachhinein denke ich, dass unsere Art, Entscheidungen zu treffen, fast der Lebensweise von Menschen in der Steinzeit und der echten Anarchie entsprach: Wir hatten eine Führungsperson, doch die Akzeptanz für deren Führung beruhte ausschließlich auf Notwendigkeit und Kompetenz. Immerhin funktionierte diese Form des sozialen Aushandlungsprozesses über zehn Jahre lang stabil.77

      Vor der Zivilisation musste der Einzelne sich nach Kräften gegen Übergriffe anderer verteidigen, aber es gab keine Machtkonzentrationen. Die Evolution begünstigt offenbar ein ständiges Vorwärtsstreben des Einzelnen, nicht aber eine zu große Überlegenheit Einzelner. Ein gewisses Maß an Ungleichheit darf im Sinne der Arterhaltung nicht überschritten werden. Einige Jahrtausende der Zivilisation später hatten sich Strukturen ausgebildet, die Monarchen Macht über ein Volk gaben. Heute soll der Staat durch Gesetzgebung und Gewaltmonopol dafür sorgen, dass die Möglichkeiten zur Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen begrenzt sind.

       Unsere geistigen Fähigkeiten sind nicht an unsere Macht angepasst

      Die wahre Ursache für die negativen Folgen von Macht sehe ich in einem Umstand, den Konrad Lorenz in Bezug auf Waffen und Aggressivität beschrieben hat. Die Aggressivität stand vor der neolithischen Revolution in einem sinnvollen Verhältnis zu ihren möglichen Folgen. Die Evolution hat die Kräfteverhältnisse so wachsen lassen, dass der optimale Nutzen für die Gemeinschaft entsteht, denn das Überleben der Gemeinschaft ist wichtiger als das des Einzelnen. Dies ist die Stärke aller Herden- und Rudeltiere. Daher ist die geistige Entwicklung des Menschen in Bezug auf den Umgang mit seiner Aggressivität an seine Zerstörungsmöglichkeiten angepasst. Menschen werden sehr schnell sehr aggressiv, können anderen aber mit bloßen Händen meist nur unbedeutende Verletzungen zufügen. Wenn man im Zustand aggressiver Erregung hingegen eine Schusswaffe in der Hand hält, oder am Steuer eines Autos sitzt, so kann das katastrophale Folgen haben, weil der Affekt (Wut) dem Ausdrucksmittel (Waffe) nicht angemessen ist. Die Selbstkontrolle des Menschen hat sich durch die Evolution an seine körpereigene Bewaffnung angepasst, nicht aber an die Waffen, die wir in den letzten Jahrhunderten entwickelt haben.

      So wie Aggression aufgrund unserer schwachen natürlichen Bewaffnung nicht viel Schaden anrichten konnte, so hatte Gier damals zu wenige Zielobjekte, um zu Machthäufungen zu führen und in der Folge der Gemeinschaft zu schaden. Erst das Erwirtschaften von Überschüssen und der daraus resultierende Besitz führten zu größeren Machtunterschieden. Dauerhaft gefestigt wurden diese zudem durch das Erbrecht. In unserem „Urzustand“ vor der Entstehung von Besitz gab es keine Weitergabe von Macht in Form von Erbschaften.

      Wird also jemand Herrscher über eine größere Anzahl von Menschen, sei es als König oder als Diktator oder als gewählter Präsident, so ist er von Natur aus nicht dafür gewappnet, mit dieser Machtfülle umzugehen. Es erfordert ein hohes Maß an charakterlicher Entwicklung, nicht egoistisch, überheblich, leichtsinnig, übermütig, selbstgefällig und unachtsam zu werden. Die Geschichte kennt hier zahlreiche Negativbeispiele: Ludwig XIV, Stalin, Hitler, Silvio Berlusconi, Josef Ackermann, Kim Jong Un oder Donald Trump. Dies gilt nicht nur für die Macht der Regierenden, sondern auch für die Macht, die Unternehmenslenker in Händen halten. Die Evolution hatte bisher wenig Möglichkeit, uns daran anzupassen. Das bedeutet, dass unser derzeitiges Verhalten der Machtanhäufung nicht optimal für die Arterhaltung und die Gemeinschaft ist.

      Stärken des Menschen sind sein ständiges Streben nach Verbesserung und seine Neugier. Diese Eigenschaften sind Voraussetzungen, um in unserer heutigen Gesellschaft eine Machtpositionen zu erreichen. In einer nahezu besitzlosen Gruppe von Nomaden hingegen führt Strebsamkeit zu Unterschieden in Bezug auf individuelles