Prinzip. Tiere würden sich auch so lange vermehren, solange es ihnen möglich sei. Das stimmt nicht. Die meisten Tierarten stellen ihre Vermehrung ein, bevor sie ihren Lebensraum kahlgefressen haben. Dieser evolutionäre Mechanismus bewahrt sie vor dem Aussterben. Nehmen wir das Beispiel einer Insel, die hauptsächlich von Füchsen und Hasen bevölkert wird. Werden die Hasen durch eine Krankheit dezimiert, so fressen die Füchse sie nicht vollständig auf; weil sie damit den Fortbestand ihrer Nahrungsgrundlage gefährden würden. Stattdessen verringert sich ihre eigene Population ebenfalls, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist.
Wer alles auffrisst, stirbt
Nur in Ausnahmefällen vermehren sich Tiere so lange, bis ihre Nahrung nicht mehr ausreicht und ein Teil von ihnen verhungert.22 Laut Jared Diamond haben das einige Tierarten23 und Menschenpopulationen schon getan. Bei den Tierarten handelt es sich jedoch um solche, die der Mensch auf Inseln aussetzte, wo ihre Mechanismen zur Regulation der Bevölkerungsdichte nicht funktionierten, weil der Lebensraum zu klein war oder Fressfeinde fehlten.
Die riesigen Steinskulpturen auf der Osterinsel zeugen von einer früheren Hochkultur, die sich selbst ausgelöscht hat. Um sie zu errichten, rodeten die Ureinwohner bis zum Jahr 1500 die gesamten Wälder. Die damit zerstörte Lebensgrundlage führte zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang. Die Vernichtung des eigenen Lebensraums besiegelte auch das Schicksal der Pueblo-Siedlungen im amerikanischen Südwesten bis 1200 und der antiken Stadt Petra, die von 9000 v. Chr. bis ins siebte Jahrhundert besiedelt war und im heutigen Jordanien liegt.24 Im Unterschied zu den Bewohnern der Osterinsel konnten die Bewohner ihr angestammtes Gebiet vermutlich verlassen und auf diese Weise überleben.
Allein durch den Wechsel der Jahreszeiten kann das Revier nicht immer komplett genutzt werden. Auch in einem strengen Winter muss die Nahrung ausreichen. Und selbst dann wird die Natur normalerweise nicht kahlgefressen und kann sich schnell wieder erholen. Konrad Lorenz schreibt, dass viele Tierarten ihr Revierverhalten abgelegt haben und in Herden leben, weil ihnen „Nahrung in Hülle und Fülle zur Verfügung steht“.25 Demnach müssen sie über Mechanismen verfügen, die ihre Vermehrung begrenzen, bevor diese ihre Lebensgrundlagen gefährdet.
Jetzt könnte man behaupten, dass dies durch die Raubtiere verhindert wird. Aber auch Haie, Falken, Löwen, Füchse und Wölfe fressen ihre Reviere nicht leer. Es ist für die eigene Arterhaltung von Vorteil, jeweils nur einen kleinen Teil der Population von Tieren oder der Pflanzen eines Reviers zu fressen. Das lässt sich mathematisch damit erklären, dass Wachstum (bis zum Einschwingen an einer natürlichen Grenze) exponentiell verläuft und sich somit Nahrung schneller wieder vermehrt, wenn sie vorher weniger stark dezimiert wurde.
Es gibt (außer bei Heuschreckenplagen) keinen Ort auf der Erde, über den man sagen würde: „Da hat das XY-Tier wieder alles weggefressen.“ Das hat nichts mit Macht und Möglichkeiten zu tun, denn die großen Raubtiere oder Raubfische wären in der Lage, ihren Lebensraum leerzufressen, wenn sie sich nur ausreichend vermehrten. Eine drastischere Regulierung der Bevölkerungsdichte findet bei Heuschrecken statt. Wenn ihre Anzahl in ihrem angestammten Lebensraum so weit angestiegen ist, dass hier nicht mehr genug Nahrung finden, brechen sie in Scharen in benachbarte Landstriche auf, um diese leerzufressen, bis nichts mehr übrig ist und ein großer Teil von ihnen verhungert. Die Auswanderung dient in doppeltem Sinne der Arterhaltung: Die Population im alten Revier hat weiterhin genügend Nahrung, und die abwandernden Insekten entdecken möglicherweise neue, für sie bewohnbare Regionen. Heuschreckenplagen können ganze Ernten vernichten. Für die Natur sind sie meist weniger dramatisch. Auch sind die Heuschrecken dadurch bisher nicht ausgestorben.
Auch auf molekularer Ebene ist ungehemmte Aggressivität kein geeigneter Überlebensmechanismus. Selbst das gefürchtete Ebola-Virus befällt nur eine geringe Zahl von Menschen pro Jahr, weil es die meisten seiner Wirte in kurzer Zeit tötet und sich daher schwer ausbreiten kann. Das führt in der Regel dazu, dass Epidemien schnell wieder abklingen.26 Das Grippevirus ist besser angepasst und daher viel stärker verbreitet.
Wachstum und wachstumsbremsende Mechanismen halten sich bei allen gut angepassten Arten die Waage. Die Menschheit hingegen hat die Vorteile, die sie gegenüber den anderen Tieren hat, bisher nur zur Steigerung ihres Wachstums genutzt und nicht zur Begrenzung ihrer Ausbreitung. Damit hat sie den Gleichgewichtszustand verlassen. Gefahr droht uns derzeit fast nur noch durch uns selbst. Wenn es in hunderttausend Jahren noch Menschen gibt, dann stammen sie nicht von denen ab, die sich immer weiter vermehren wollten.
Gibt uns unsere Überlegenheit das Recht, uns die Erde untertan zu machen?
Die Vorherrschaft des Menschen beruht ausschließlich auf seiner Macht. Archaische Völker haben sich die Frage nach der Begründung des eigenen Konsums nicht gestellt. Der Konsum ist zwar mit der Industrialisierung stark angewachsen, aber die dem zugrundeliegende Überzeugung, dass die Welt zu unserem Nutzen da sei und die Entscheidung darüber ausschließlich bei uns liege, ist seit Jahrtausenden unverändert. In früheren Zeiten hatten wir lediglich weniger Möglichkeiten, die Welt zu nutzen.
Wenn wir uns ausdehnen, wie wir können und wollen, so ist das unserer Natur gemäß. Doch gerade die Tatsache, dass wir nicht mehr komplett durch unsere Instinkte gesteuert werden, gibt uns die Möglichkeit, auch anders zu handeln. Die Grenzenlosigkeit unserer Expansion beinhaltet immer auch die Möglichkeit, dass wir etwas verbrauchen, das wir später nicht mehr ersetzen können.
Dass alles nach vorne strebt, unser System auf unserer Vorherrschaft aufgebaut ist, unsere Wirtschaft nicht anders funktionieren würde und wir das Geld schließlich brauchen, ist keine Rechtfertigung, sondern bestenfalls eine Erklärung. Wenn sich unsere heutige Kultur „zivilisiert“ nennt, sollte sie eine klare Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung unseres Handelns haben: Wie könnte eine Lebensweise und ihre moralisch plausible Begründung aussehen?
Der Wert von Mensch und Tier
Dass wir selbst der Ansicht sind, der Mensch sei mehr wert als das Tier oder die Pflanze oder ein Stein, hat wenig Bedeutung, denn auch ein Tier würde diese Frage wahrscheinlich in seinem Sinne beantworten, wenn es das könnte. Darin zeigt sich nur subjektiver Überlebenswille in Form von Egoismus oder Egozentrismus. Wenn wir uns ein Recht an der Natur oder den Tieren zusprechen wollten, so müsste dies – wie in unserer Demokratie auch – zum Beispiel von einer übergeordneten Macht zugeteilt werden, die sich dabei darum bemüht, alle Einzelinteressen zu berücksichtigen. Eine solche Instanz gibt es nicht.
Tiere sind dem Menschen demnach objektiv nicht nachgeordnet, sie sind nicht weniger wert, ebenso wie Pflanzen. Sie sind weniger intelligent, weniger durchsetzungsfähig oder weniger flexibel, aber nicht weniger wert. Der Wertbegriff kann weder auf Menschen im Vergleich noch auf Leben im Allgemeinen angewendet werden. Ein Wert ist etwas, das wir einem Produkt beimessen, und er ist subjektiv, weil er von dem bewertenden Individuum, der Gesellschaft oder einer Zielsetzung abhängt. So gilt es nach deutschem Recht als Sachbeschädigung, wenn jemand einen Hund mit dem Auto überfährt. Hundebesitzer sehen das sicher anders.
Wenn wir am vermeintlich hohen Wert des Menschen als Begründung für unsere Lebensweise festhalten – was wollten wir dann Außerirdischen erzählen, die unserer Entwicklung tausend Jahre voraus sind, uns für unterbelichtet halten, aber unser Fleisch sehr schmackhaft finden? Nach der von uns selbst geschaffenen Logik dürften sich solche Außerirdischen, wenn es sie denn gäbe, nach Herzenslust bedienen. Mit welchem Argument wollten wir uns darüber entrüsten?
Bei Tieren stehen der Erhalt des Lebens und die durch sie angerichtete Zerstörung in einem für Arterhaltung und Umwelt akzeptablen Gleichgewicht. Wir aber sind durch unsere Denkfähigkeit in der Lage, die Folgen unseres Handelns vorwegzunehmen. Damit entscheiden wir bewusst, ob wir Mitmenschen und Ressourcen schützen oder unserer Gier freien Lauf lassen. Wir sind unmittelbar für das Ergebnis unseres Tuns verantwortlich. Die Evolution kann uns nicht mehr lenken.
Von einer rechtmäßigen Vorherrschaft des Menschen kann man also nicht ausgehen. Andererseits können wir auch nicht leben, ohne dass wir und unsere Umgebung sich wechselseitig beeinflussen. Wollten wir unseren Einfluss auf unsere Umwelt auf Null reduzieren, so müssten wir uns selbst auslöschen.