Die Natur als Regler
In einem technischen System dient ein Regler dazu, Einflüsse durch Störungen von außen auszugleichen und wieder einen stabilen Zustand herzustellen. Analog kann man in der Evolution eine Anpassung als die Reaktion des „natürlichen“ Reglers auf sich verändernde Umweltbedingungen betrachten. Die Veränderung der Umwelt ist die Störgröße, und die evolutionäre Anpassung ist der Regeleingriff, der zu einem neuen Gleichgewicht führt. Gibt es von einer Art zu viele oder zu wenige Exemplare, so ist die Evolution als Regler meist in der Lage, die Art durch Anpassung wieder in ein Gleichgewicht mit der Umwelt zu bringen. War die Regelung zu schwach oder die Störung zu groß, stirbt die Art aus.
Der Mensch hat durch seine Bewusstwerdung und die nachfolgende Entwicklung neue Regelungsmöglichkeiten, aber auch neue Störungen ins Spiel gebracht. Wir waren in der Lage, unsere Umwelt in ganz anderem Ausmaß zu nutzen als alle anderen Tiere, und wir konnten uns progressiv vermehren. Durch die Fähigkeit, unser Verhalten bewusst zu ändern, können wir auch viel schneller auf äußere und selbst gemachte Störungen reagieren als die Evolution mit ihren Mitteln der Mutation und Selektion.
Entscheidend ist, dass wir diese Regelung selbst vornehmen müssen. Damit haben wir die alleinige Verantwortung für unser Handeln – wir müssen selbst herausfinden, mit welchen Veränderungen wir Ungleichgewichte schaffen, die gefährlich werden können. Und wir müssen dies viel vorausschauender tun als bisher. Erst nach zweihundert Jahren CO2-Ausstoß beginnen wir, über die globalen Folgen nachzudenken. Wäre die Wissenschaft langsamer vorangeschritten und wäre weniger Geld in entsprechende Forschung investiert worden, so hätten wir den Klimawandel vielleicht erst daran erkannt, dass große Teile der landwirtschaftlichen Nutzflächen unfruchtbar geworden wären. Ein derartiges Szenario können nur wir verhindern, indem wir uns vorab Gedanken darüber machen, wie und mit welchen Folgen wir die Erde verändern.
Wir können uns der Evolution nicht entziehen
Wir denken, dass wir über der Evolution stehen, weil wir uns nicht mehr mit den Problemen herumschlagen müssen, die die meisten Tiere an der Vermehrung hindern – beschränktes Nahrungsangebot, begrenzter Lebensraum, Winter, Krankheiten und Parasiten. Was wir dabei außer Acht lassen: Gerade unsere „Überlegenheit“ hat uns unter anderem Massenvernichtungswaffen beschert. Würden wir uns selbst auslöschen, so wäre dies nichts weiter als der Beleg, dass unsere evolutionäre Entwicklung in die Sackgasse geführt hat.
Einzelne Wege der Menschheit haben bereits ihr Ende gefunden. Es scheint, als hätten die meisten Urvölker, die von uns ausgerottet wurden, den Wettbewerb verloren. Manche Indianerstämme waren beispielsweise durch ihre Vorstellung benachteiligt, dass sie ihre Gegner nicht einfach töten, sondern gefangennehmen sollten, weil dies die höhere Ehre sei, und mussten für jeden einzelnen gefangenen Eroberer viele ihrer Krieger opfern. Diese Vorstellung trug zu ihrem Verhängnis bei. Andernfalls hätte die Geschichte vielleicht eine andere Wendung genommen, da die spanischen Eroberer zwar bessere Waffen und auch Verbündete unter den Indianerstämmen hatten, aber durch ihre sehr langen Nachschubwege benachteiligt waren.
Wir stehen nicht außerhalb der Evolution, wir befinden uns nur auf einer höheren Ebene, da wir uns nicht nur genetisch, sondern auch geistig weiterentwickeln können und die einfachen Mechanismen, die die Weiterentwicklung der Tiere regulieren, außer Kraft gesetzt haben. Wolfgang Schmidbauer schreibt: „Allerdings funktioniert die menschliche Adaption ab einem bestimmten Intelligenzniveau grundsätzlich anders als die sämtlicher Tiere. Nicht mehr die Struktur des Organismus der einzelnen Exemplare der Art passt sich an die jeweils gegebene Umwelt an, sondern die Struktur der Sozietät. Sie wird in der Form bestimmter Normen dann an die einzelnen Mitglieder – die gegenwärtigen und ihre Kinder – weitergegeben.“17 Schmidbauer nennt dies den Wandel von der biologischen zur kulturellen Adaption18. Durch uns hat die Evolution eine aktive Seite bekommen. Alle Tiere haben sich bisher zufällig, d. h. passiv verändert und gewannen oder verloren dadurch Überlebensfähigkeit, und die besser Angepassten setzten sich durch. Wir sind die ersten Lebewesen, die ihren Weg aktiv beeinflussen können. Trotzdem gelten für uns nach wie vor die Regeln der Evolution. Sind wir zu aggressiv und töten uns gegenseitig, so sterben wir aus. Immerhin gehen in Europa Kriege und Aggressivität unter Einzelpersonen seit dem Zweiten Weltkrieg zurück. Unser Weg scheint also nicht zwangsläufig eine Sackgasse zu sein. Aber gilt das auch für den Rest der Welt?
Fortschritte in der Medizin, die auch „schlecht angepassten“ Menschen das Überleben ermöglichen, mindern heute den Einfluss der biologischen Selektion. Gleichzeitig bedeutet unsere geistige Entwicklung eine gigantische Beschleunigung der Evolution. Jede geistige Haltung ist ein neuer Pfad, der daraufhin geprüft wird, ob er unsere Überlebensfähigkeit erhöht.
Wir verdrängen alle anderen Lebewesen. Dies widerspricht unserer Arterhaltung kurzfristig nicht, wird sich also nicht in der Evolution unserer Gene ausdrücken. Falls wir Arten ausrotten, die wir zum Überleben brauchen, werden wir das erst bemerken, wenn es zu spät ist. Die Frage ist, ob andere Arten Mechanismen haben, ihre Ausrottung durch uns zu verhindern – was aus Sicht der Evolution sinnvoll wäre.
Wenn die Dinosaurier alle Ameisen zertreten hätten, wäre das für die Ameisen hinderlich gewesen, hätte aber den Dinosauriern nichts gebracht – keinen Lebensraum und keine zusätzliche Nahrung. Andererseits hätten die Ameisen ihr Aussterben gegen die Übermacht kaum verhindern können. Ähnlich verhält es sich bei uns Menschen. Viele Tiere wurden von uns gejagt. Wir haben in den vergangenen Jahrtausenden viele Arten ausgerottet.19 Der Nutzen für uns war vergleichsweise gering. Elefanten werden nicht wegen ihres Fleisches getötet, sondern wegen ihrer Stoßzähne. Wölfe werden überwiegend aus Angst vor ihnen getötet. Viele Tiere hat alleine der Stress aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte der Menschen dezimiert.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Tiere sich dagegen wehren könnten: Anpassung an die geänderten Bedingungen, Rückzug in andere Bereiche oder Angriff auf die Bedrohung. Bakterien beispielsweise können sich aufgrund ihrer schnellen Generationenfolge sehr leicht anpassen. Daher gibt es die Krankenhauskeime. Die früher so scheuen Füchse, Kaninchen und Wildschweine leben mittlerweile zwischen uns in unseren Städten, wehren sich also sinnvoll gegen die Verdrängung – ohne Aggression, die sie erneut gefährden würde.
Evolution ist kein Prozess, den wir durchlaufen. Sie ist ein Zustand, dem alles Leben im Universum unterliegt. Sie gilt für alles Leben ohne Ausnahme, und man kann sich ihr nicht entziehen. Sie ist vermutlich eine systemimmanente Eigenschaft des Universums. Sie würde unter reproduktionsfähigen Robotern ebenso gelten.
In den folgenden Kapiteln habe ich zusammengetragen, wie sich einige Eigenschaften auswirken, die uns die Evolution mitgegeben hat.
2.1 Der Wert von Menschen, Tieren und Umwelt
Die alten Griechen, die Römer und die Bibel gingen davon aus, dass die gesamte Welt um der Menschen und Gottes oder der Götter willen geschaffen wurde. Dieser Grundsatz, der in allen Religionen galt20, resultierte aus dem Entwicklungsstand der damaligen Menschen und erwies sich als zur Rechtfertigung geeignet, Dinge zu tun, die Tieren, Pflanzen oder der Umwelt schaden und gegen die diese sich nicht wehren können. Es bleibt die Frage offen, ob sich ein solches Verhalten rechtfertigen lässt oder ob die Machtlosigkeit der Umwelt die einzige Erklärung des Verhaltens unserer Vorfahren bleibt. Seit Charles Darwin sind wir immer weiter von diesem anthropozentrischen Weltbild abgerückt. Dennoch kann man davon ausgehen, dass das Universum auf die Hervorbringung intelligenten Lebens wie des Menschen oder vielleicht noch höherer Intelligenz hinarbeite, denn immerhin sind wir das vorläufige Endergebnis der Evolution, wobei das Leben über die Jahrmillionen zu immer mehr Komplexität, Vielfalt und Intelligenz tendiert hat.21
Wir sind heute in der Lage, unsere gesamte Umwelt unseren Zwecken zu unterwerfen. Eigentlich wissen wir, dass wir nicht jede Macht nach Belieben nutzen dürfen, nur weil wir sie haben. Das gilt gleichermaßen für die Macht von Eltern über ihre Kinder wie für Atomwaffen. Das wird uns vor allem dann deutlich, wenn wir selbst gegenüber anderen in der schwächeren Position sind: den Launen eines cholerischen Vorgesetzten oder der Willkür einer wenig verständnisvollen Sachbearbeiterin