daneben geschossen.“
„Jetzt drehen wir uns im Kreis.“
Die Gerichtsmedizin musste eigens aus Düsseldorf zum Tatort kommen. Die Landesregierung hatte die Zahl der Gerichtsmedizinischen Institute in den letzten Jahren immer weiter reduziert – mit fatalen Folgen, wie manche Fachleute behaupteten. Bei einem Mord, der als solcher erkannt wird, gibt es eine über neunzigprozentige Chance, dass er auch aufgeklärt wird. Aber wenn die Leiche nie einem sachkundigen Experten zur Untersuchung vorgelegen hat, kann es zu fatalen Irrtümern kommen und am Ende ein natürlicher Tod festgestellt werden, wo rein gar nichts natürlich gewesen ist.
Berringer war seit langem der Ansicht, dass es das Beste sei, eine allgemeine Obduktionspflicht einzuführen. Aber er wusste auch, dass er in dieser Hinsicht auf verlorenem Posten stand. Obduktionen kosteten Geld. Und Geld war knapp, die öffentlichen Haushalte pleite.
Die Gerichtsmedizinerin, die in diesem Fall aus Düsseldorf geschickt worden war, hieß Dr. Wiebke Brönstrup. Sie war Ende dreißig, hatte rotes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst trug, und eine üppige, sehr weibliche Figur. Ihren meergrünen, sehr aufmerksam blickenden Augen schien nichts zu entgehen. Auch das geringste Detail nicht.
Sehr zielstrebig ging Dr. Brönstrup auf die Polizisten zu, die in der Nähe des Toten standen. Die Spurensicherung war inzwischen mit ihm fertig und kümmerte sich darum, die Umgebung nach Hinweisen abzusuchen.
Wiebke Brönstrup nickte Björn Dietrich zu, der die x-te Zigarette rauchte. „Sie sollten damit aufhören, Herr Dietrich. Ein Kollege von mir gibt Kurse an der Volkshochschule. Er arbeitet mit Nikotinpflastern und ...“
„Kein Bedarf“, sagte Dietrich, dann fasste er knapp die bisherigen Erkenntnisse zusammen.
Wiebke Brönstrup strich sich eine verirrte Strähne ihres roten Haars aus dem sommersprossigen, fein geschnittenen Gesicht und bedachte Berringer mit einem kurzen Blick, bevor sie dann die Leiche betrachtete. Als Dietrich geendet hatte, holte sie es nach, Berringer zu begrüßen. Kurz, knapp – und etwas überlegen.
„Hallo, Berry“, sagte sie.
„Hallo.“
„Wie geht’s dir?“
„Gut.“
„Ich hab 'ne Menge über dich gehört ...“
„Hin und wieder hab ich auch was über dich gehört.“ Bei beiden wirkte das Lächeln verlegen. Es war eine eigenartige Befangenheit zwischen ihnen zu spüren. Eine Befangenheit, für die es durchaus einen Grund gab, auch wenn der lange zurücklag. Fünfzehn Jahre etwa war es her, da waren sie beide für eine Weile ein Paar gewesen. Er, der Kripo-Beamte, sie, die ehrgeizige Medizinstudentin, die sich vorgenommen hatte, Chirurgin zu werden und am Ende Pathologin wurde. Zwischenzeitlich hatten sich ihre Wege nicht nur privat getrennt, sondern auch im räumlichen Sinne. Wiebke Brönstrup hatte einige Jahre in Chicago als Pathologin gearbeitet, später in Münster, und seit einem halben Jahr war sie wieder dort, wo sie herkam: in Düsseldorf.
Durch den Kollegenbuschfunk hatte Berringer jede ihrer Stationen mitbekommen. Im Streit waren sie damals nicht auseinander gegangen, eher in der Erkenntnis, dass ihre Beziehung einfach nicht funktionierte. Ihre Lebensentwürfe waren zu verschieden gewesen. Vielleicht hatten sie sich einfach auch nur zu wenig Mühe gegeben, einen Kompromiss zu finden, dachte Berringer.
Wiebke Brönstrup kniete neben dem Toten nieder. Auch der Leichenwagen war inzwischen eingetroffen - mit Düsseldorfer Kennzeichen. Er würde den Toten sofort nach der Erstuntersuchung am Tatort in die Leichenhalle des Gerichtsmedizinischen Instituts bringen, sodass dort eine Obduktion vorgenommen werden konnte, falls dies nötig erschien. Aber bei einer Leiche, die von blauen Flecken nur so übersät war, stand das wohl außer Frage.
„Dieser Mann lag nicht allzu lange im Wasser“, war sich Dr. Brönstrup sicher. „Mir fällt diese Stelle am Hals auf“, sagte sie. „Der Adamsapfel ist eingedrückt. Er hat einen heftigen Schlag bekommen. Vielleicht einen unerwarteten Ellbogenstoß oder einen Handkantenschlag. Irgend so was.“
„Also käme jemand in Frage, der Kampfsport betreibt“, stellte Berringer fest.
Wiebke Brönstrup wandte den Kopf und sah zu Berringer auf. „Ja“, stimme sie zu,
„wäre möglich.“
„Frau Gerath trainiert fleißig Aikido“, sagte Berringer an Björn Dietrich gerichtet.
„Sag mal, du scheinst die Frau rund um die Uhr observiert zu haben“, bemerkte Arno Kleppke sarkastisch.
„Ich habe mich nur kurz mit ihr unterhalten. Es kam mir seltsam vor, dass Sie überhaupt keine Angst davor hatte, selbst Opfer dieser Anschlagserie zu werden.“
„Und sie hat dir weismachen wollen, dass sie jeden Gangster in die Flucht schlagen kann“, vermutete Björn Dietrich.
„Genau“, bestätigte Berringer.
„Aber wenn sie und Severin die ganze Sache inszeniert haben, dann brauchte sie sich natürlich nicht zu fürchten“, spann Dietrich den Faden weiter. „Wir sollten der Sache mal nachgehen ...“
Frank Severins sterbliche Überreste wurden in einen Plastiksarg gelegt und in den Leichenwagen verstaut.
Dr. Wiebke Brönstrup verabschiedete sich von den Kollegen, doch bevor sie endgültig ging, blieb sie noch einen Augenblick bei Berringer stehen.
„Es ist schon seltsam, sich nach all den Jahren wiederzusehen“, fand sie.
„Ja, kann man wohl sagen.“ Er lächelte verhalten. „Du hast dich nicht verändert.“
„Das ist eine Lüge, Berry.“
„Na ja ...“
„Aber eine nette.“
„Die Realität erlebst du in der Dienstzeit häufig genug.“
„Du etwa nicht?“
„In gewissen Grenzen kann ich mir inzwischen selbst aussuchen, was ich mir zumuten will.“
„Ja, hab davon gehört, dass du aus dem Polizeidienst ausgeschieden bist und dich selbstständig gemacht hast.“
„Radio Gerüchteküche funktioniert also noch.“
Sie nickte. „Wie eh und je.“
Eine Pause entstand. Im Hintergrund war zu hören, wie Dietrich mit seiner Dienststelle telefonierte. Es ging um die nächsten Ermittlungsmaßnahmen, und da stand die Hausdurchsuchung beim Opfer ganz oben auf der Liste. Vielleicht würde das auch über Severins mögliche Verwicklung in die dubiosen Geschäfte mit der Garol ImEx Aufschluss geben.
„Es war schön, dich wiederzusehen“, sagte Berringer.
„Danke gleichfalls, Berry. So darf ich dich doch noch nennen, oder?“
„Darfst du.“
„Trinken wir mal einen Kaffee zusammen, Berry?“
Er zögerte. Millionen Gedanken huschten ihm in dieser einen Sekunde durch den Kopf. Es waren einfach ein paar zu viel für sein neuronales Netz, das zu streiken drohte. Hatte er nicht genug Chaos in seinem Leben, seinen Akten, seinen Gedanken?
Auf emotionales Chaos konnte er da gut verzichten, oder?
„Mal sehen“, sagte er.
„Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt.“
„Ja.“
„Bis dann.“
„Tschüss.“
Er sah ihr nach und sah, wie sie zum Wagen ging, einstieg, noch mal den Kopf wandte, ihm kurz zulächelte und den Wagen startete. Berringer hatte nicht vor, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen.
Aber irgendein Gefühl in seiner Bauchgegend sagte ihm, dass es trotzdem