Dennoch gab es bereits am nächsten Morgen erste Hinweise darauf, dass Ron Dexter vielleicht doch nicht aus eigenem Antrieb den Tod gefunden hatte.
Unser Chefballistiker Agent Dave Oaktree erläuterte uns die Daten, die sich bislang ergeben hatten. "Das Schwierigste bei diesem Fall ist die Sicherung der Spuren", erläuterte uns Dave bei der allmorgendlichen Besprechung in Mister McKees Büro. "Das gilt nicht nur für uns. Ich nehme an, die Kollegen von der Gerichtsmedizin haben da weitaus größere Probleme. Schließlich hat die Explosion der Handgranate fast alles zerfetzt, was Erkennungsdienstler normalerweise unter das Mikroskop legen. Aber es gibt zum Glück ein paar Dinge, die auch gegen Explosionen ziemlich resistent sind. Projektile zum Beispiel. Dexter benutzte eine MLK 27. Das ist eine automatische Pistole, die auch für den FBI mal als Standardwaffe in der näheren Auswahl war, bevor man sich schließlich für unsere SIG Sauer P 226 entschied. Der Punkt ist der: Es wurde im Schacht geschossen. Wir haben zwei Projektile gefunden. Ob Dexter wirklich durch diese Schüsse starb, ist schwer zu sagen. Die Kollegen der Gerichtsmedizin werden versuchen, das durch Untersuchungen an verschiedenen Knochenfragmenten festzustellen. Falls Knochen getroffen oder auch nur gestreift wurden, stehen die Chancen gut, falls die Schüsse nur durch weiches Gewebe gedrungen sind, wird man diese Frage nie mehr mit absoluter Sicherheit klären können. Aber eins steht zweifelsfrei fest: Sowohl die verschossenen Projektile, als auch die ebenfalls aufgefundenen Patronenhülsen sind nicht mit Dexters Waffe abgeschossen worden!"
Mister McKee hob die Augenbrauen.
"Konnten Sie denn noch ballistische Tests mit Dexters Waffe durchführen?"
Dave Oaktree schüttelte energisch den Kopf. "Nein, natürlich nicht. Die MLK war in einem viel zu schlechten Zustand. Aber wir konnten die Projektile mit jenen vergleichen, die der Amokläufer zuvor abgeschossen hatte. Der Befund ist eindeutig. Es wurde aus einer anderen Waffe gefeuert."
"Kommt einer der Security Guards in Frage?", hakte Mister McKee nach.
"Das Kaliber passt nicht. Die Guards im Macy's tragen alle einen Smith & Wesson-Revolver vom Kaliber .38 Special."
"Und jemand von unseren Leuten, der sich vielleicht besonders hervortun wollte?" Mister McKee sprach diese Vermutung in gedämpftem Tonfall aus. Es war schier undenkbar, dass sich ein FBI-Agent oder ein Officer des NYPD so verhielt. Und doch konnte man diese Möglichkeit nicht völlig außer Acht lassen.
"Das ist nicht anzunehmen", erklärte Dave. "Natürlich kann niemand garantieren, dass alle im Einsatz befindlichen Kräfte unsere Standard-Waffen benutzt haben. Dann würde uns nicht einmal eine ballistische Untersuchung sämtlicher eingesetzter Waffen etwas nutzen. Aber ich denke, wir kommen auf einem anderen Weg schneller ans Ziel."
"Und der wäre?"
"Warten Sie..."
Dave Oaktree projizierte mit Hilfe eines Beamers, den er an seinem Laptop angeschlossen hatte, eine schematische Darstellung des Aufzugsschachtes an die Wand. "Wir haben hin und her gerechnet...", meinte er und markierte mit einem Laserpointer eine bestimmte Stelle in der Schachtwand. "Hier traf eines der Geschosse auf und blieb stecken. Wir fanden mikroskopische Gewebespuren. Die Kugel muss den fallenden Körper durchschlagen haben. Der Schütze befand sich etwa in Höhe achten Stocks."
"Das bedeutet, dass wir den Täter auf Video haben müssten", stieß ich hervor. "Schließlich wird das Macy's flächendeckend überwacht.
Dave Oaktree nickte. "Stimmt."
"Der Killer wird die Außenhaut von einer Liftkabine geöffnet und von dort geschossen haben."
"Wir haben die Kabine identifiziert. Allerdings wissen wir nicht, in welche Etage er in den Lift gestiegen ist. Das bedeutet eine lange Video-Sitzung."
Das Verfahren, das Dave Oaktree vorschlug war aufwändig. Und es war noch nicht einmal sicher, dass etwas Brauchbares dabei herauskam. Wenn der Täter nur von hinten oder aus einem ungünstigen Winkel zur Überwachungskamera zu sehen war, konnte man ihn eventuell selbst anhand von Videobildern nicht identifizieren.
"Was das Motiv angeht, so tappen wir wohl noch vollkommen im Dunkeln", meinte Milo.
"Das Rätsel wird noch etwas verworrener, Milo", erklärte Mister McKee. "Gestern Abend wurde Ron Dexters Schwester Susan in Queens tot in ihrer Wohnung aufgefunden."
"Da muss natürlich nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen", meinte ich.
Mister McKee wandte den Blick in meine Richtung. "In diesem Fall besteht aber einer. Der ballistische Schnelltest hat ergeben, dass Susan Dexter mit derselben Waffe getötet wurde wie ihr Bruder."
Mir fiel der Kinnladen herunter. "Das gibt's doch nicht!"
"Es werden natürlich noch eingehendere Untersuchungen durchgeführt, deren Resultate wir nicht vor morgen früh haben. Aber ich rechne damit, dass dieses Ergebnis bestätigt wird."
9
Milo und ich fuhren in die Broxon Lane in Queens. Nummer 412 war ein zehngeschossiges Apartmenthaus im Brownstone-Stil. Für New Yorker Verhältnisse waren die Mieten hier günstig.
Wir waren mit Captain Simon Cromer verabredet, dem Leiter der Homicide Squad II des 74. Reviers. Er leitete die Ermittlungen im Mordfall Susan Dexter. Wir trafen ihn zusammen mit zwei Kollegen der Scientific Research Division in der Wohnung an.
Cromer begrüßte uns freundlich.
"Sieht aus, als wäre das ein Fall für euch", meinte er. "Jedenfalls, nach dem vorläufigen ballistischen Bericht." Cromer kratzte sich am Hinterkopf. "Ich hätte nie gedacht, dass so etwas dabei herauskommt."
"Und wir haben jetzt die undankbare Aufgabe, herauszufinden, warum ein Kaufhausamokläufer und seine Schwester durch Projektile aus derselben Waffe getötet wurden."
"Dieser Ron Dexter hat eine bunte Vergangenheit", meinte Cromer. "Ich habe mir die Daten angesehen, die über NYSIS abrufbar sind. Vom hochdekorierten Kriegshelden zur gescheiterten Existenz..."
"Manchmal ist das nur ein kleiner Schritt", sagte Milo.
"So wie ich das sehe, war Dexter in den letzten Jahren ein Kleinkrimineller, mehr nicht. Vielleicht psychisch krank. Aber seine Schwester war eine graue Maus. Da gibt es nicht den geringsten Zusammenhang mit irgendwelchen halbseidenen Sachen."
"Vielleicht wissen wir einfach noch zu wenig über die Lady...", murmelte ich und ließ dabei den Blick durch das Apartment schweifen. Dort, wo die Tote am Vortag aufgefunden worden war, befanden sich weiße Markierungen mit Kreide. Überall waren Blutflecken zu sehen. Eine zersprungene Kaffeetasse lag auf dem Boden.
"Wann ist Susan Dexter gestorben?", fragte Milo.
"Gestern Nachmittag", gab Simon Cromer Auskunft. "Natürlich müssen wir da noch den Bericht der Gerichtsmedizin abwarten. Am Abend war Miss Dexter mit einem gewissen Allan Montgomery zu einem Theaterbesuch verabredet. Montgomery ist Angestellter einer Bank in Midtown Manhattan."
"Mit diesem Montgomery würde ich gerne sprechen."
"Die Adresse schreibe ich Ihnen auf. Jedenfalls haben Montgomery und Miss Dexter gegen 16.30 miteinander telefoniert. Als Montgomery sie dann gegen 19.30 abholen wollte, machte niemand auf. Er schöpfte Verdacht, drang in die Wohnung ein und fand seine Freundin. Susan Dexter starb also zwischen