zwei, drei, und es ist gleich eine Story aus ein paar dürftigen Versatzstücken gezimmert. So arbeitet mein Gehirn eben.
Und das hat auch sein Gutes! Es muss so sein, sonst würde ich längst am Hungertuch nagen und selbst die Miete für diese schäbige Wohnung nicht mehr aufbringen können!
Andererseits − falls sich bestätigte, dass dies ein Mordfall war, war die Schöne natürlich eine Verdächtige ersten Ranges!
Als ich ins Wohnzimmer kam, traf ich dort auf die beiden Frauen, die inzwischen offenbar genug davon hatten, den toten Lammers anzustarren. So schön war er ja auch wirklich nicht anzusehen. Weder im Leben, noch im Tode.
"Kommt die Polizei?", fragte die Mutter.
Ich nickte. "Ja. Sie schicken jemanden."
"So etwas hat es hier noch nie gegeben", meinte die Mutter. "Vor zwei Jahren wurde in der Disco im Erdgeschoss mal eingebrochen. Und die Bombendrohung vor zwei Monaten, die haben Sie ja auch mitgekriegt. Ich weiß noch, wie wir alle mitten in der Nacht auf die Straße mussten. Ich habe auch den Rest der Nacht kaum ein Auge zumachen können, obwohl ich doch am nächsten Morgen wieder früh raus musste ..."
Ich hatte von dieser Sache gehört, war aber keineswegs dabei gewesen. Vor zwei Monaten hatte ich mich unter spanischer Sonne im Urlaub befunden. Aber das sagte ich ihr nicht.
Es spielte keine Rolle, und ich hatte auch wenig Lust dazu, diese Sache länger als unbedingt notwendig zu diskutieren.
Ich murmelte irgendetwas Zustimmendes. Aus Höflichkeit.
"Wir könnten wenigstens den Föhn aus der Steckdose ziehen, damit wir endlich wieder Strom bekommen!", nörgelte indessen die Tochter.
"Davon würde ich abraten. Wir sollten wirklich alles so lassen, wie es ist!", meinte ich dazu.
"Woher wissen Sie soviel über diese Dinge?", meldete sich die Mutter wieder zu Wort.
Ich verzog das Gesicht. "Ich sehe mir immer den 'Tatort' im Fernsehen an!"
"Im Ernst?"
"Ja."
Manche Menschen beruhigen sich dadurch, dass sie unablässig Worte produzieren. Bei anderen wirkt genau das Gegenteil. Die dicke Mutter gehörte leider zur ersten Gruppe.
"Das Ganze erinnert mich an diesen Politiker. Wie war doch noch mal der Name ...? Der, der sich auch in einer Badewanne umgebracht hat! Ich denke, das hier war auch Selbstmord."
Ich ließ den Blick umherschweifen. "Einen Abschiedsbrief habe ich nicht gesehen", erwiderte ich sachlich.
"Muss es denn einen geben?" Die Mutter machte eine unbestimmte Geste und holte dann tief Luft. Das gab immer ein besonderes, unnachahmliches Geräusch. Eines, an dem man sie mit hundertprozentiger Sicherheit akustisch identifizieren konnte.
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich will nicht ausschließen, dass es auch Leute gibt, die sich ohne Abschiedsbrief umbringen!"
"Ja, so wie der Politiker! Der lag auch angezogen in einer Wanne. Allerdings hatte er vorher Tabletten geschluckt. Ein Föhn spielte dabei keine Rolle."
"Und warum sollte Lammers das gemacht haben?"
"Vielleicht war er einfach verzweifelt!", meinte die Tochter, und ich dachte, wenn ich so ein Gesicht hätte, wäre ich auch verzweifelt. Und wenn sie mit mir in einer Wohnung gewohnt hätte, noch viel mehr. Und wenn sich alle Verzweifelten dieser Welt wirklich umbringen würden, dann wären diese beiden Frauen kaum noch am Leben.
"Warum sollte er verzweifelt gewesen sein?", murmelte ich schulterzuckend.
"Vielleicht war er unheilbar krank!", meinte die Tochter. "Manche Leute drehen dann durch. Ich habe neulich noch einen Fernsehfilm darüber gesehen."
"Sie haben doch auch diese Frau gesehen ..." ließ ich dann einen Versuchsballon aufsteigen.
Die beiden sahen mich an. "Welche Frau?", fragte die Tochter vorlaut.
Oh, Mann!, dachte ich. Blind ist sie auch noch! Welch ein Schicksal! "Ich meine die Frau, die von oben gekommen ist und so fluchtartig davonrannte."
"Ja, richtig ..." sagte die Mutter gedehnt. "Und Sie meinen, dass sie hier bei Lammers war?"
"Woher sollte sie sonst gekommen sein? Hier oben ist doch nur diese eine Wohnung. Und die Tür stand offen."
"Ja, das stimmt."
"Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?"
"Nein!", sagte die Mutter.
"Nein!", grunzte die Tochter.
Sie schüttelten beide den Kopf, die pickelige Tochter etwas heftiger als ihre Mutter − vielleicht deswegen, weil die Mutter ihre Wasserwelle nicht durcheinanderbringen wollte. Die Tochter konnte ihren Kurzhaarschnitt so doll schütteln, wie sie wollte. Er sah immer gleich schlecht aus.
"Und Sie?", fragte die Mutter an mich gewandt.
"Was ist mit mir?"
"Kennen Sie vielleicht diese Frau?"
"Nein. Und es wundert mich ehrlich gesagt, dass es diesem Ekel gelungen ist, so eine Lady für sich zu interessieren!" Ich seufzte. "Mannomann, da komme ich einfach nicht drüber hinweg!"
"Er ist tot!", meinte die Tochter tadelnd.
Das durfte ja nicht wahr sein! Jetzt machte sie auch noch einen auf Pietät! Das passte nun wirklich nicht zu ihr! Absolut nicht!
MEGAunpassend sozusagen.
Aber was passte denn überhaupt schon zu ihr? Mir fiel da spontan nichts ein.
Vielleicht irrte ich da aber auch, und es war genau umgekehrt: Sie selbst war es, die ihrerseits zu nichts und niemandem passte!
Eine andere Möglichkeit war, dass ich sie einfach nicht leiden konnte. Schlechte Schwingungen, neudeutsch: bad vibrations. Ein übelriechendes Karma. Man kann das nennen, wie man will, es läuft immer auf dasselbe hinaus.
"Er ist tot", bestätigte ich mit einem dünnen Lächeln. "Aber das ändert doch nichts daran, dass er ein Kotzbrocken war!"
"Trotzdem", meinte die Tochter.
"... und bei einem solchen Ekelpaket gibt es vermutlich jede Menge Leute, die ihn lieber heute als morgen aus dem Weg haben würden", fuhr ich fort.
Die Tochter kratzte sich wieder an einem ihrer zahllosen Pickel. Und jetzt war mir auch klar, warum es immer mehr wurden und die Vorhandenen nicht abheilen konnten, sondern sich nicht selten zu üblen Geschwüren auswuchsen.
Sie kratzte und drückte halt gerne dran. Was ließ sich auch sonst schon mit Pickeln anfangen? Und sie − als geborene Kratzbürste ...
"Es ist doch schon erstaunlich", meinte die Mutter.
Ich hob die Augenbrauen. "Was ist erstaunlich?", fragte ich.
"Dass wir hier zusammenleben, ohne etwas voneinander zu wissen!" Sie hob die Hände zu einer hilflosen Geste. "Das ist doch furchtbar, finden Sie nicht?"
Ich nickte leicht, obwohl ich ihre Meinung nicht unbedingt teilte. Ich empfand die Anonymität, die hier herrschte, nicht als unangenehm.
Vielleicht hatte ich sie sogar gesucht.
Niemand, der sich dauernd in irgendwelche Privatangelegenheiten einmischte. Niemand, der sich dafür interessierte, was man tat oder ließ, ob man Besuch über Nacht hatte und welcher politischen Partei man zuzurechnen war, oder ob man gar nicht wählte.
Aber wenn man dann starb, so wie Jürgen Lammers, wusste natürlich auch niemand, weshalb das geschehen war. Ich glaubte nicht an Selbstmord, von Anfang an nicht, aber angenommen, es wäre Selbstmord gewesen ...
Angenommen, Jürgen Lammers litt tatsächlich an einer unheilbaren Krankheit, oder seine Freundin hatte ihn verlassen (wobei ich mir nicht vorstellen konnte,