Und in Wirklichkeit war die Ursache für eine chaotische Wohnung meistens die, dass der Inhaber nicht aufgeräumt hatte. Ich kannte das aus eigener, leidvoller Erfahrung.
Hinter mir hörte ich die Mutter aufatmen, während wir alle den Blick zu Boden gerichtet hatten, verzweifelt auf der Suche nach freien Stellen, auf die man die Füße setzen konnte. Die Kleidung, die man an sich an der Garderobe vermutet hätte, bedeckte den Fußboden des kleinen Flures. Die Schubladen der Kommode waren herausgerissen und ausgeleert.
Als wir schließlich ins Wohnzimmer kamen, sah es dort ebenso schlimm aus.
"Das ist nicht normal!", meinte die Mutter. "Hier ist etwas passiert. Vielleicht ein Einbruch ..."
Die pickelige Tochter verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Einbruch? Mama!", meinte sie dann spöttisch. Sie zuckte mit den Schultern und machte eine ziemlich herablassende Geste. "Die Tür war unversehrt! Wie soll der Dieb gekommen sein? Durch das Fenster vielleicht? Warum nicht. Mit einer Bergsteigerausrüstung an der Fassade hoch bis in den fünften Stock! Dann durch das Fenster und alles durchwühlen und schließlich auf demselben Weg wieder hinaus − natürlich nicht, ohne das Fenster zuvor von innen wieder sorgfältig zu schließen! Und selbstverständlich hat der Einbrecher dann noch absichtlich einen Kurzschluss verursacht, um uns alle zu ärgern!"
Sie kam sich sehr scharfsinnig vor, aber ihrer Mutter war das Ganze eher peinlich. Das war nicht zu übersehen.
Ich achtete nicht weiter auf das Gerede der beiden, sondern sah mich stattdessen lieber ein bisschen um.
Zwei Minuten später hörte ich plötzlich einen markerschütternden Schrei − einen Schrei, der selbst für die darin ansonsten recht geübte pickelige Tochter erstaunlich war.
Sie war ins Bad gegangen und hatte dort offenbar etwas entdeckt − oder war vielleicht auch einfach nur ausgerutscht. Ich traute ihr das Letztere zu. Besonders geschickt war sie nämlich nicht.
Jedenfalls beeilte ich mich, nach ihr zu sehen.
Die Mutter schnaufte hinter mir her.
Die Tatsache, dass kein zweiter Schrei folgte, legte ich für mich so aus, dass sie sich nichts Ernstes angetan hatte.
Einen Augenblick später sah ich sie mit offenem Mund und starr vor Schreck auf die Badewanne blicken.
In der bis über den Rand gefüllten Wanne lag ein Mann, den wir alle immerhin gut genug kannten, um ihn identifizieren zu können. Es war Jürgen Lammers, und bezeichnenderweise trug er auch jetzt seinen geschmacklosen Jogging-Anzug, der den runden Bierbauch stramm umspannte.
Seine Augen waren so giftig, wie sie es immer schon gewesen waren, aber diesmal hatten sie wahrlich Grund dazu, so zu schauen.
Lammers war nämlich mausetot.
Und dann sah ich auch die Ursache für den Kurzschluss.
Es war tatsächlich der Föhn, wie wir alle vermutet hatten. Jürgen Lammers musste ziemlich schlecht beraten gewesen sein, als er den defekten Apparat mit in die Wanne genommen hatte ...
"Mein Gott!", stieß die dicke Mutter hervor und schlug dann die Hände vor ihren offenen Mund. Sie schüttelte anschließend stumm den Kopf.
"Wir werden die Polizei rufen müssen", murmelte ich.
In meinen Romanen gibt es alle paar Seiten eine Leiche, aber dies war die Wirklichkeit. Und die ist dann doch ein bisschen anders.
"Mein Gott, wie furchtbar!", seufzte die dicke Mutter noch einmal aus tiefster Seele.
"Rühren Sie nichts an!", meinte ich.
"Wieso?"
"Damit keine Spuren verloren gehen!"
"Es ist doch Selbstmord, oder?"
"Das weiß ich nicht. Aber ich denke, die Polizei wird das herausbekommen − vorausgesetzt, wir lassen ihr die Chance dazu und bringen nicht alles durcheinander."
Irgendwie klang das seltsam angesichts der zerwühlten Wohnung. Was sollte da noch durcheinander zu bringen sein? Eine Fehlleistung von mir, ganz klar. Und eine Sekunde, nachdem dieser Schwachsinn über meine Lippen gegangen war, wurde es mir auch bewusst.
Aber wer wägt in einer solchen Situation schon so genau seine Worte ab? Nicht einmal ein Autor. Und ein Autor von Western-Romanen tut es sowieso nie.
Ich verließ also das Bad und suchte im Wohnzimmer nach dem Telefon, das sich zunächst einfach nicht auftreiben lassen wollte.
Die beiden Frauen harrten indessen in andächtiger Stille bei Lammers Leiche aus.
Schließlich fand ich das Telefon unter dem Sofa, aber die Schnur war herausgerissen.
Ich fluchte innerlich. Hier hatte jemand wirklich ganze Arbeit geleistet!
Mein Blick glitt über das Durcheinander, das auf mich jetzt wie ein völlig überladenes Stillleben wirkte.
Nein, je länger ich die Sache betrachtete, desto unwahrscheinlicher schien es mir, dass Lammers für dieses Chaos selbst verantwortlich war.
Hier hatte entweder einer gezielt etwas gesucht − und war dann vom Besitzer dieser Räuberhöhle überrascht worden. Oder jemand hatte einen Einbruch vorzutäuschen versucht, um die Polizei bei der Suche nach dem Mörder auf die falsche Spur zu locken.
Und um Mord handelte es sich meiner Ansicht nach.
Lammers war zwar ein ziemlich begriffsstutziger Kerl gewesen, aber dass er freiwillig in voller Bekleidung in eine Badewanne stieg und dann auch noch so bescheuert war, den Föhn mit ins Wasser zu nehmen − das mochte ich einfach nicht so recht glauben. Es erschien mir zu unwahrscheinlich.
Kein Redakteur hätte mir so etwas durchgehen lassen, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, es in einem der Kurz-Krimis zu bringen, die ich hin und wieder für Illustrierte fabriziere. Es war einfach zu absurd.
Blieb also nur Mord.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, während ich die Lammers-Wohnung verließ, die Treppe hinunter eilte, um dann zu meinem eigenen Telefon zu gelangen.
Ich nahm den Hörer ab und hatte ein paar Augenblicke später einen tranig klingenden Beamten an der Strippe, der alles andere als einen besonders aufgeweckten Eindruck machte.
Aber schließlich konnte ich ihm doch klarmachen, was los war. Die Trantüte auf der anderen Seite der Leitung brauchte dann eine halbe Ewigkeit, um meine Personalien aufzunehmen. Ich war froh, als der Hörer wieder in der Gabel hing.
Ich atmete tief durch.
Und dann fiel mir wieder die junge Frau im Treppenhaus ein, die an mir vorbei gerannt war, als ob der Teufel hinter ihr her gewesen sei.
Vielleicht war ja auch genau das der Fall gewesen, wer konnte das schon sagen? Vielleicht hatte sie Angst vor Lammers bösem Geist gehabt (wofür ich Verständnis gehabt hätte); vielleicht konnte sie auch einfach keine Leichen sehen (vorausgesetzt, sie war auch in der Wohnung gewesen).
Vielleicht war sie auch seine Mörderin ...
Nachdenklich ging ich wieder hinauf. Ich sah mir die Tür genauer an, die zu Lammers Wohnung führte.
Kein Kratzer. Nicht die geringsten Spuren irgendeiner Manipulation − von Gewalteinwirkung gar nicht zu reden.
In diesem Augenblick hätte es mich brennend interessiert, ob Lammers noch am Leben gewesen war, als ihm die Schöne mit den grüngrauen Augen einen Besuch abgestattet hatte. Lammers schien mir nicht der Typ Mann zu sein, auf den die Frauen nur so fliegen. Aber der äußere Schein mochte ja durchaus trügen.
Vielleicht hatte er unter seiner ätzenden Fassade noch irgendwelche besonderen Qualitäten verborgen, die diese Frau dazu gebracht hatten, sich mit ihm abzugeben.
Aber, halt!, sagte ich mir eindringlich, du gehst jetzt schon entschieden ein Stück