die Fähren bis auf den letzten Platz besetzt.
Ein idealer Ort, um sich mit jemandem wie Mister Kang zu treffen, und dieses Treffen auch zu überleben, so hatte Doretta gedacht.
Wenn es an Bord der Fähre zu einer Schießerei oder etwas ähnlichem kam, würde die Besatzung sofort die Coast Guard und die Hafenpolizei alarmieren. Die Täter konnten nicht entkommen.
Also wird sich Kang und seine Meute zurückhalten, ging es Doretta durch den Kopf.
Sie hoffte es zumindest.
Für alle Fälle hatte sie die Pistole der FBI-Agentin dabei, von der Doretta hoffte, dass sie noch in ihrer Wohnung friedlich schlief.
Doretta hatte die Waffe in der Seitentasche ihres weiten Blousons verborgen. Sie brauchte nur abzudrücken und konnte im Notfall durch den Stoff hindurchschießen.
Mit der linken hielt sie das Handy.
Der Apparat gehörte ebenfalls der FBI-Agentin.
Ihr eigenes Gerät hatte eine zu schwache Akku-Leistung angezeigt.
Doretta blickte angestrengt in die Menge. Immer wieder drängten sich Touristen auf das Oberdeck, standen eine Weile an der Reling um die Aussicht zu genießen und gingen dann wieder hinunter, um dort einen Kaffee zu trinken.
Die junge Frau zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie jemanden mit asiatisch wirkenden Gesichtszügen sah.
Sie hatte Kang genaue Anweisungen gegeben. Er musste persönlich auftauchen. Das war eine ihrer Bedingungen gewesen. Außerdem ein Koffer mit einer Million Dollar in gebrauchten Scheinen.
Andernfalls würde sie dem FBI gegenüber auspacken.
Du wirst ausgesorgt haben, ging es ihr durch den Kopf.
Ein deutlich übergewichtiger Chinese drängte sich zusammen mit einem halben Dutzend Begleiter durch die Menge.
Das ist er, durchzuckte es Doretta. Ihr Griff um die SIG in ihrer Jackentasche wurde fester. Eine Chance wie diese kam nicht wieder!
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie Mister Kang zum ersten Mal gesehen hatte.
Es war in der Sunset Table Dance Bar gewesen.
Zusammen mit Warren Anderson, Terry Zapata und Danilovich.
Das Quartett hatte sich ein Separee zurückgezogen.
Durch Zufall hatte Doretta einiges von ihrem Gespräch mitbekommen. Ein paar Satzfetzen, die erst nicht einzuordnen gewusst hatte. Sie war eingetreten, um für das Quartett auf dem Tisch zu tanzen. Das Gespräch war sofort verstummt.
Aber später, nachdem sie von dem Massaker im Yachthafen von Laurence Harbour gehört hatte, konnte sie sich einiges zusammenreimen.
Sie begriff, dass in jener Nacht in der Sunset Table Dance Bar ein Blutbad verabredet worden war!
Es hatte nicht lange gedauert, bis sie auf die Idee gekommen war, daraus Profit zu ziehen.
Kang hatte sie in diesem Augenblick entdeckt.
Er walzte flankiert von seinen Männern heran.
Einer der Leibwächter scheuchte den alten Mann mit davon, der ihr gegenüber Platz genommen hatte.
Anschließend ließ der große Boss sich selbst dort nieder.
"Ich hätte Sie beinahe nicht erkannt, Doretta", meinte er.
"Sie meinen: so winterlich angezogen! Tut mir Leid, aber meinen String-Tanga werden Sie hier nicht zu sehen bekommen!"
"Es ist in der Kultur, aus der ich komme, nicht üblich, derart schamlos über diese Dinge reden, Doretta!"
"Wenn es darum geht, die Einzelheiten eines Mordes abzusprechen, scheint ihre Schamgrenze etwas großzügiger bemessen zu sein, Mister Kang!"
"Ich darf Sie darauf hinweisen, dass wir uns hier in der Öffentlichkeit befinden", sagte Mister Kang mit regungslosem Gesicht. Der dicke Mann sich vor und sprach jetzt in gedämpftem Tonfall. Ein Teil seiner Worte ging jetzt im Blitzlichtgewitter einer japanische Touristengruppe unter, die es auf die sich nähernde Freiheitsstatue abgesehen hatte. "Sie machen einen Riesen-Fehler, Doretta. Ich weiß, im Moment sitzen Sie am längeren Hebel. Wenn ich nicht tue, was Sie sagen, gehen Sie zum FBI und packen aus. Aber zwei Dinge sollen Sie gut bedenken: Erstens ist es gar nicht gesagt, dass man Ihrer Aussage glauben schenkt. Sie ahnen ja gar nicht, wie leicht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen durch ein paar einfache, aber sehr wirkungsvolle Manipulationen zu erschüttern ist. Meine Leute fänden garantiert auch in Ihrer Vergangenheit ein paar Dinge, die Sie in den Augen jedes guten amerikanischen Geschworenen als äußerst fragwürdig erscheinen ließen. Und zweitens sollten Sie daran denken, dass Sie von nun an mein Feind sind. Ich bin geduldig. Jeder Jäger muss das sein, der irgendwann seine Beute erlegen will. Er muss vor allem warten können. Und ich kann warteten, Doretta. Sie werden glauben, dass Sie sich vor mir verstecken können. Aber wenn Sie sich am sichersten fühlen, wenn Sie meinen, dass ich Ihnen nichts mehr antun kann, werde ich da sein und Sie zerquetschen wie eine lästige, stinkende Wanze."
"Wo ist das Geld?", fragte Doretta so kühl wie möglich.
Mister Kang schnipste mit den Fingern.
Einer der Bodyguards übergab Doretta einen Diplomatenkoffer.
"Öffnen Sie ihn nicht hier, Doretta. Die Leute starren uns schon an..."
"Aber..."
"Falls etwas anderes drin sein sollte, als Sie erwartet haben, können Sie ja immer noch zum FBI gehen."
Mister Kang erhob sich.
Er machte seinen Leuten das Zeichen zum Abmarsch.
Genau in diesem Moment erreichte die Fähre ihre Anlegestelle auf Liberty Island. Ein Ruck ging durch die LIBERTY. Mister Kang drehte sich noch einmal um.
"Guten Rückweg, Doretta!"
Er lachte kurz auf.
Doretta ließ die Waffe in ihrer Tasche los, öffnete den Koffer einen Spalt weit. Die Versuchung war einfach zu groß.
Bündel mit Banknoten! Mister Kang schien sich also an die Bedingungen gehalten zu haben! Eine Million!, durchzuckte es sie. Genug, um, irgendwo ein ganz neues Leben anzufangen.
An einem Ort, bis zu dem Mister Kangs langer Arm nicht reichte...
Unruhe entstand plötzlich unter den Passagieren.
Mister Kang und sein Gefolge hatten sich kaum drei Schritte von Dorettas Platz entfernt.
Mehrere bis dahin unscheinbare Männer und Frauen rissen plötzlich Waffen hervor.
Jemand schrie: "Keine Bewegung, FBI!"
26
Wir hatten das Handy angepeilt, das Doretta Tomlin unserer Kollegin Josy O'Leary entwendet hatte. So konnten wir nicht nur Dorettas Aufenthaltsort lokalisieren, sondern auch ein Telefongespräch abhören, dass sie sie mit einem gewissen George Kang geführt hatte.
Mister Kang, wie der Hongkong-Chinese respektvoll genannt wurde, war kein unbeschriebenes Blatt. Er war einer der aufstrebenden Bosse in Chinatown und hatte im Drogenhandel ein