den Hormonen die Restinstinkte der Natur, die den Frauen erlauben, trotz einer fast übermenschlichen Anstrengung voll da zu sein, wenn das Kind geboren ist, damit man mit dem Baby fliehen kann, schnell weg, falls was passiert.
»Kommen Sie jetzt, Frau Lauer?« Eine weibliche Stimme.
Käthe zuckte herum und nahm ihre Handtasche fester über die Schulter. Das war so eine Bewegung, die einfach saß. Ihre Hände schwitzten, ihre Achseln schwitzten, und sie hastete hinter der Krankenschwester her in den Untersuchungsraum. Auf der Liege hatte sich ihre kleine Tochter Margarete, die sie Gretchen nannte, wie ein Bogen ausgestreckt. Ihr Kopf war weit in den Nacken gebogen, der winzige Körper seltsam starr. Glücklicherweise hatte Gretchen die Augen geschlossen. Aber über den Wangen lag ein leichter roter Hauch. Fieber! Der Mund war etwas offen und die Zunge, die sonst nie Stillstand, lag regungslos und trocken zwischen den Lippen.
Käthe rupfte nervös an einem Taschentuch und schaute sich um. Von der Wand grinsten Kaspergesichter, die kranke Kinder auf der Station gemalt hatten. Die Tür fiel zu. Sie war mit ihrem Kind und einem Arzt allein. Wie gut sie das alles kannte, den Geruch, die Geräte, die Floskeln. Käthe war selbst vom Fach. Krankenschwester. Sie kannte die Symptome aus der Grundausbildung. Trotzdem wollte sie die Diagnose von dem jungen Arzt hören, sozusagen amtlich.
»Meningitis, Sie wissen ...«, sagte der Doktor.
Käthe nickte.
Der Arzt referierte: »Meningitis ist eine schwere entzündliche Erkrankung der Hirn- und Rückenmarkshäute. Ihre Erreger, fast immer Bakterien, werden auf verschiedenste Art übertragen. Wir haben das Rückenmark von Gretchen punktieren müssen, um Liquor zu entnehmen, damit wir den Erreger bestimmen konnten. Wahrscheinlich wurde er in diesem Fall durch den Biss einer Zecke übertragen. Tückische, kleine Blutsauger, die an Blättern von Bäumen und Büschen hängen und sich auf Mensch und Tier herunterfallen lassen, um deren Blut zu saugen. Dabei gelangen die Bakterien in die Blutbahn.«
Es gab keinen Grund ihn zu unterbrechen, obwohl sie das alles schon hundert Mal in ihrem Kopf durchgespielt hatte - nur mit anderen Worten - seit sie vor fünf Tagen morgens in Gretchens Bett eine mit Blut vollgesogene, mehr als erbsengroße Zecke gefunden hatte. Sie lag mit prallem Hinterleib auf dem Kopfkissen. Zuerst hatte sie mit dem ekligen Ding nichts anzufangen gewusst, bis ihr bei näherem Hinsehen aufgefallen war, dass sich vorne an dieser sonderbaren Erbse winzige, schwarze Beinchen bewegten. Angewidert hatte sie das Ungeziefer mit dem Taschentuch genommen und im Klo hinuntergespült. An eine akute Gefahr hatte sie nicht gedacht, obwohl seit Jahren Warnplakate in der Klinik hingen, wo sie arbeitete. Man gewöhnt sich an Warnungen. Und sie war in Eile gewesen. Sie war spät dran. Aber nun musste sie mit ihrem Versagen fertigwerden. Ausgerechnet ihr hätte das nicht passieren dürfen.
*
Der Doktor sah Käthe Lauer an, zögerte und sagte dann, dass man nicht wisse, wie man diese Hirnhautinfektion in den Griff bekommen sollte. Er saß auf einem Schemel neben der Untersuchungsliege, die Knie gespreizt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Er war müde, das konnte ihr geübtes Auge erkennen. Immerhin war es mitten in der Nacht, und er hatte heute schon operiert, Visite gemacht, endlos mit Eltern geredet, getröstet, aufgeklärt, ermuntert. Vielleicht hatte er ebenfalls Kinder zu Hause. Die lagen im Bett und hatten schlimmstenfalls einen unruhigen Schlaf. Gretchen bewegte sich nicht, lag starr.
»Warum gibt man ihr denn nicht Penicillin?«
»Ein virulenter Verlauf.«
»Wie?«
»Ungewöhnlich virulent«, sagte der Arzt und stieß sich mit den Ellbogen von den Oberschenkeln ab. Er erhob sich vom Hocker und faltete sich zu voller Größe auf. Ein langer Mensch. Er hatte junge, blaue Augen, die Melancholie ausstrahlten. »Dass sie Penicillin in hohen Dosen bekommt, habe ich sofort verordnet. Routine«, sagte er und bekreuzigte sich. Dass er ein Kreuz schlug, fiel Käthe auf, weil sie in ihrer Klinik noch nie einen Arzt gesehen hatte, der seine Religiosität zeigte, wenn überhaupt einer religiös war.
»Das muss doch anschlagen, das Penicillin«, sagte Käthe, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie streichelte Gretchen übers Haar. Normalerweise, wenn sie schlafen würde, ja, wenn's bloß eine verzerrte Haltung im Tiefschlaf wäre, wie der Kopf so im Nacken hing, dann hätte das Kind sich bewegt, irgendwie reagiert, vielleicht die Lider aufgeschlagen und sie leer angesehen, sich umgedreht und das Kinn vorn auf die Brust fallen lassen, sich eingerollt und weitergeschlafen. Doch Gretchen lag da, verbogen, steif, und der Kopf wollte nicht mehr vor. Die Muskeln in dem kleinen Körper waren angespannt. Gretchens Haut brannte heiß in der Hand ihrer Mutter. Hohes Fieber.
»Wie viel?«, fragte sie den Arzt und sah ihm ins Gesicht.
»Temperatur?«
»Ja.«
»Vierzig acht.«
»Vierzig acht! Aber Kinder haben ja auch schnell eine hohe Temperatur, das geht genauso schnell wieder zurück!«, sagte sie verzweifelt.
»Ja, ja«, antwortete der Arzt, »im Normalfall schon. Wo arbeiten Sie?« Er wusste, dass Käthe Krankenschwester war.
»In der Geriatrie. Wenig Leute, ewige Hetzerei. Und die Alten sind oft unerträglich.«
»Soso, praktisch in der Gegenwelt.« Er verzog die Lippen zu einem geschwungenen Lächeln und zeigte dabei die Zähne. »Und in welchem Haus?«
Käthe nannte den Namen der Krankenanstalt, in der sie als Schwester arbeitete.
»Auch ein Mistladen«, bemerkte der Arzt. Sein Gesicht war wieder ernst. »Jesses, hier ist auch ewig Hetzerei. Wir können ja nicht hexen. Jesses«, sagte der Arzt wieder und schlug ein Kreuz. Aber wenn das Penicillin wirke, dann, okay, dann sei alles paletti. Und man habe gleich ein Breitspektrum genommen. So was wirke. Normalerweise.
»Normalerweise«, wiederholte Käthe. Wie oft hatte sie das selbst schon zu den Patienten und Angehörigen gesagt. Aber in der Geriatrie war »normal« etwas anderes.
»Normal ist normal, wenn ich's sage.« Der Arzt gähnte und beugte sich vor, stützte die Arme wieder auf und sah zu dem verbogenen, überspannten Kinderleib hinüber. »Ein virulenter Verlauf kann vorkommen«, er zeigte wieder seine Zähne, »muss nichts heißen, reden wir deswegen nicht drüber.«
Käthe wusste, was das bedeutete, eine Gehirnhautentzündung bei einem Kind von vier Jahren. Schlimm auf alle Fälle! Wenn sie die Sache nicht in den Griff bekamen, konnte es Schäden geben, die man ein Leben lang nicht mehr wegbekam.
»Ein behindertes Kind ist nicht einfach«, sagte Käthe. Man sah ihr die Angst an. Deshalb sagte der Arzt in burschikosem Ton: »Noch isses nix.«
»Und wenn ...?«, fragte sie nach einer Pause und sah dem Mann ins Gesicht. Die blauen Augen des Doktors wichen ihr aus. »Ab wann treten Hirnschäden auf?«, wiederholte sie. »Sie brauchen mir nichts vorzumachen.«
»Kann keiner sagen. Lassen Sie das Penicillin erst mal wirken. Morgen früh kommen Sie gegen acht wieder vorbei. Die Schwester bringt Gretchen gleich auf Station.« Der Arzt erhob sich, winkte mit der Hand und verließ leise den Raum.
Natürlich ging Käthe nicht. Sie nahm den Tragriemen ihrer Tasche von der Schulter und setzte sich auf den Schemel, der noch warm war, unmittelbar neben der Untersuchungsliege und sie betrachtete den Körper und das Gesicht mit dem rötlichen Fieberschatten.
So begann ihre Nacht.
*
Unterdessen war der Rechtsanwalt Jean Abel aus München zu Hause angelangt. Er kam gerade aus dem Urlaub. Unten im Süden war er gewesen. Aber jetzt war leider Schluss damit. Die Arbeit rief.
Er warf die Tür seines Wagens zu und ging die drei Stufen in seine Kanzlei hinauf. Den Hörer zwischen Schulter und Ohr wühlte er mit der Linken in einem