A. F. Morland

Thriller-Paket 11 Krimis Juni 2020 Sammelband 11002


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wenn nicht? Ob die Erinnerung an Gretchen auch mal verjährte? So ein Menschengedächtnis reicht nicht sehr weit. Aber das Herz? Käthe begann, verstohlen zu weinen, verstohlen, obwohl sich niemand in der Nähe befand. Sie sagte sich, dass sie sich zusammennehmen müsse. Was sollte es denn helfen, wenn sie jetzt den Kopf verlor?

      Sie musste an Gretchens Vater denken, wie er geschaut hatte, als sie ihm erzählt hatte, dass da was Kleines unterwegs war. Sie hatte es so sachlich zu sagen versucht, wie es bei großer Anstrengung möglich war, in einem Stadtbistro im Glockenbachviertel mit hellem Licht und mäßig besetzten Tischen. Vormittags. Es war eine nüchterne Stunde voller ängstlicher Nervosität. Einer anderen Nervosität als jetzt. Ja, ich bin schwanger, hatte sie gesagt, und dann gleich darauf, dass sie jetzt mit dem Rauchen aufhören würde. Nicht nur, weil's der Arzt geraten hatte, sondern auch dem Kind zuliebe.

      »Von wem?«, hatte er gefragt. Sofort kamen ihr Zweifel.

      »Von dir«. Ein langer Blick, den Käthe aushielt. Knut Singer wusste, dass Käthe keine Frau war, die sich mit einem anderen Mann einlässt, wenn sie verliebt ist. Nicht, dass er von ihr weggerückt wäre oder dass er ihr vorgeworfen hätte, dass sie, Krankenschwester zumal, unfähig gewesen war, gegen so einen Fall Vorsorge zu treffen. Aber sie hatte es seinen Augen angesehen, wie er im Kopf schnell durchkalkuliert hatte, wie er am besten aus dieser Sache herauskommen könnte, und was bestenfalls und schlechtestenfalls die Folgen wären. Knut war gut im Rechnen, das hatte Käthe immer an ihm gefallen. Ein nüchterner Mann, Prüfingenieur für Aufzuganlagen beim TÜV Bayern. Als er fertig war und die Resultate bewertet hatte, sagte er: »Ich zahle die Abtreibung. Geh in eine gute Klinik. Egal was es kostet, ich zahl's.«

      »Nein«, hatte sie urplötzlich geantwortet, spontan und ohne noch einmal gründlich nachzudenken, obwohl sie schon einen Termin gehabt hatte, um das Kind abtreiben zu lassen. »Nein, ich behalte es.«

      »Und ich finanzier's dann?« Es war eine Knut-Singer-Frage gewesen. »So kann man doch nicht entscheiden!«

      »Doch«, hatte Käthe aus Trotz geantwortet.

      Der Kellner war gekommen und hatte gefragt, ob man noch was trinken wolle. »Nein«, hatten sie beide abgewunken. So hatten sie eine Zeit lang dagesessen, hatten hinausgestarrt durch die klar geputzten Scheiben auf den grauen Straßenverkehr, das ständige Aneinandervorbeihasten, und Käthe hatte geglaubt, dass alles geklärt wäre. Dabei hatte sie sich über sich selbst gewundert, dass sie den unwiderruflichen Entschluss gefasst hatte, dass das Kind bleiben solle. Sie war im Sternbild des Widders geboren worden, und man wusste ja, dass Widder ihre Entschlüsse durchbrachten. Sie sah Knut in die Augen. Er wich ihr nicht aus.

      »Überlege es dir, dein ganzes Leben ist verpfuscht.«

      »Mein Leben?«

      »Ja.«

      Klarer konnte ein Mann in einer solchen Situation nicht zum Ausdruck bringen, dass er außer Alimente keine Verantwortung für ein Kind übernehmen würde.

      So war die Existenz Gretchen, als sie noch äußerst zerbrechlich gewesen war, beschlossene Sache.

      Singer hatte später noch auf sie eingeredet. Natürlich hatte das keinen Zweck mehr gehabt. Sie hatte dann so getan, als müsse sie mal raus aufs Klo, hatte aber beim Kellner die Frühstücksrechnung beglichen. Für beide. Dann war sie ohne Gruß hinaus auf die Straße gegangen. Und Knut hatte es noch nicht einmal bemerkt, weil er am Zigarettenautomat stand und in der Hosentasche nach Kleingeld suchte.

      Käthe hatte nicht mit dem Rauchen aufgehört. Sie hatte Singer noch einige wenige Male getroffen. Förmliche Termine mit förmlichen Fragen nach dem Wohlbefinden beider. Mutter und Kind. Die Zahlungen nach der Geburt kamen pünktlich. Und zu jedem Geburtstag Spielsachen und eine Karte von Singers Mutter.

      *

      Käthe verließ Gretchens Zimmer und trat auf den Balkon am Flurende hinaus. Sie blickte über die nächtlich ruhige Straße und die kurze Schlange mit Taxis vor dem Haupteingang. Die Zigarette tat ihr jetzt gut, besänftigte ein wenig die Angst. Im blauen Nachthimmel flackerte der Mond zwischen den dahinziehenden Wolkenrudeln. In den Ästen der Pappeln im Krankenhauspark wühlte der warme Südwestwind. Es rauschte und wehte überall. Die Glut an der Spitze ihrer Zigarette funkelte hellrot. Hinter sich hörte sie ein Kind schreien und wimmern. Obwohl sie wusste, dass es nicht Gretchen sein konnte, schnippte sie die Kippe über das Balkongeländer und eilte zurück.

      *

      Abel erläuterte dem Mandanten Waldmüller die Rechtslage: Die Maschine sei so lange Waldmüllers Eigentum, bis der Kaufpreis vollständig bezahlt worden wäre. Definitiv.

      »Weiß ich«, knurrte Waldmüller dazwischen. »Dafür braucht man keinen Anwalt.«

      »Bloß kann man mit seinem Eigentum in so einem Fall nicht so verfahren, wie man will«, fuhr Abel ungerührt fort, »der Käufer hat ein Recht zum Besitz und zur Benutzung ...«

      »... wenn er zahlt.«

      »Ja«, antwortet Abel, »aber zahlen muss man erst bei Fälligkeit. Und im Augenblick ist nichts fällig. Das ist der Casus!«

      »Und meine Maschine bin ich los?«, fragte Waldmüller. Man konnte Panik in seiner Stimme hören. »Wenn erst der Konkursverwalter seine Geierkrallen in die Firma schlägt, ist es aus.« Rolf Waldmüller rückte seine Seidenkrawatte zurecht und ließ sie durch die Finger laufen.

      »Nein«, sagte Abel. Er erklärte, dass der Eigentumsvorbehalt auch gegenüber dem Konkursverwalter gelte. Der müsse respektieren, dass die Maschine noch nicht bezahlt sei, und müsse sie rausgeben.

      »Wie lange dauert so was?«

      »Ist fraglich.«

      »Ich sag Ihnen was«, begann nun Waldmüller. Er stützte sich mit dem Unterarm auf den Schreibtisch und sein Gesicht kam vor. Mit der linken Hand hielt er sein Köfferchen fest. Das Gesicht wirkte nun noch schmaler, passend zu der Stimme, die ein wenig schrill klang. Abel konnte riechen, dass der Mann eine leichte Fahne hatte. Alkohol und Knoblauch. Abel holte eine Flasche Weinbrand aus dem Schreibtisch und zwei Gläser aus der Küche, während Waldmüller sprach.

      »Meine Lage ist die, Herr Abel«, rief Waldmüller, »dass ich auch fertig bin, wenn die Maschine nicht sofort zurückkommt. Fertig. Kaputt. Aus. Verstehen Sie? Diese Maschine hab ich auf eigene Rechnung gekauft, das war eine günstige Gelegenheit. Wert ’ne dreiviertel Million. Da hängt mein ganzes Vermögen drin, und jede Menge Kredite. Jetzt im Moment kann ich sie gerade noch mal an einen anderen Kunden verkaufen, achthundertfünfzig, cash. Ich muss in drei Tagen den Vertrag unterschreiben und sofort liefern. Sonst springt der ab, verstehen Sie? Rohertrag hundert, wenn es klappt. Wenn nicht, bin ich kaputt.«

      »Dann gibt s wieder einen Käufer«, warf Abel dazwischen. Er kam mit den Gläsern und schenkte ein. Prosit! Waldmüller trank das Glas auf einen Zug aus. Er atmete tief durch.

      »So eine Fertigungsmaschine ist kein gebrauchtes Auto, für das es theoretisch hunderte von Interessenten gibt. Diese Maschinen sind in der ganzen Welt nur für eine Handvoll Käufer interessant, mehr nicht. Die habe ich alle durch. Ein einziger, ein Holländer in Den Haag will kaufen. Aber der hat keine Zeit, stellt gerade seine Produktion um, der entscheidet in exakt drei Tagen, ob er meine gebrauchte Maschine nimmt, oder sich eine neue beim Hersteller holt. Lieferzeit drei Monate. Wenn ich meine Maschine nächste Woche abbauen und liefern kann, zahlt er achthundertfünfzig cash.«

      »Die Zeiten sind schlecht, wie steht's mit der Solvenz des Käufers?«

      »Kein Problem.«

      »Na ja«, sagte Abel und schenkte nach.

      Es war oft so, dass sich die Menschen von unverhältnismäßig hohen Gewinnen locken ließen, alles aufs Spiel zu setzen. Klar doch, für eine bescheidene Rendite lohnte kein Risiko, da