die ganze Histori und ergeben, wie mir scheint, eine zusammenhängende politische Argumentation. Die besondere Erzählperspektive (aus der Sicht des Untertanen) ermöglicht ihm dabei, anders als in der Joseph-Histori, eine grundsätzlich an den konkreten Auswirkungen orientierte Kritik vorfindlicher und vorstellbarer Sozialordnungen.
Der politische Diskurs des ersten Buches ist als „Traum vom Ständebaum“ bekannt. Mit Blick auf die zeitgenössische Staatstheorie gelesen, erweist sich dieser Diskurs als Ausgangsbasis für die dann folgenden Ordnungsüberlegungen: Er führt die menschliche Sozietät in ihrem Naturzustand vor. Der Traum veranschaulicht den vernunftwidrigen, weil affektgetriebenen Zustand des homo homini lupus, des Krieges aller gegen alle. Wie die frühabsolutistischen Staatstheoretiker, etwa Contzen oder Hobbes, geht auch Grimmelshausen von einem vernunftwidrigen gesellschaftlichen Zustand des Menschen aus. Er verschärft diese Position des homo homini lupus (Hobbes), des homo animal morosum, mutabile, versutum, tectum, pervicax (Contzen) jedoch noch dadurch, daß er die vorgefundene ständische Gliederung, d.h. die vorgefundene geburtsmäßige Ungleichheit, Adel und Nobilistensucht, unter die Vernunftwidrigkeiten rechnet.
Im zweiten Buch nimmt der Autor in der Form des Narrendiskurses das Ständeproblem noch einmal auf und dehnt es auch auf den Regentenstand aus: „Von dem müheseeligen und gefährlichen Stand eines Regenten“ (93).98 Am Beispiel des Hanauer Regenten wird der Regentenstand insofern als vernunftwidrig hingestellt, als er blind, ohne Selbsterkenntnis, auf eigennützigen Machtgenuß und auf Machtsicherung gegenüber Konkurrenten aus ist:
dein gantzes Leben [ist] nichts anders als ein immerwährende Sorg und Schlaffbrechens/dann du must Freund und Feind förchten/die dich ohn Zweiffel/wie du auch andern zu thun gedenckest/entweder umb dein Leben/oder umb dein Geld/oder umb deine Reputation, […] oder umb sonsten etwas zu bringen nachsinnen […]. Ich geschweige hier/wie dich täglich deine brennende Begierden quälen/und hin und wider treiben/wenn du gedenckest/wie du dir einen noch grössern Nahmen und Ruhm zu machen/höher in Kriegs-Aemptern zu steigen/grössern Reichthum zu samlen/dem Feind einen Tuck zu beweisen/ein oder ander Ort zu überrumpeln/und in Summa fast alles zu thun/was andere Leut geheyet/und deiner Seelen schädlich/der Göttlichen Majestät aber mißfällig ist! […] wann alles wol mit dir abgehet/so hastu auffs wenigste sonst nichts/das du davon bringest/als ein böß Gewissen; Wirstu aber dein Gewissen in acht nemmen wollen/so wirstu als ein Untüchtiger bey Zeiten von deinem Commando verstossen werden […]. (125ff.)
Im natürlichen Zustand des Krieges aller gegen alle zur Befriedigung der eigenen Interessen und zur Gewährleistung der eigenen Selbsterhaltung ist moralisches Verhalten unmöglich; dieser Zustand wird als ausweglos dargestellt. Moralität des politischen Verhaltens ist im Sinne der frühabsolutistischen Staatslehre erst dann möglich, wenn überindividuelle bzw. überständische Ziele das politische Handeln leiten, wenn das Wohl der gesamten Sozietät, dessen Maßstab das Wohl des „gemeinen Mannes“ ist, den Vorrang hat vor den Partikularinteressen einzelner Stände.99
Einen solchen Staat entwirft Grimmelshausen diskursiv im dritten Buch in der sogenannten Jupiterepisode (Cap. 3–6). Es ist das Bild eines absolutistisch-zentralistisch regierten Machtstaates, der auch hier die Beseitigung der ständischen Herrschaft, also die Beseitigung von Privilegien und Ungleichheit zur Voraussetzung hat, von einem absoluten Herrscher mit Hilfe seiner von ihm eingesetzten Verwaltung – einer Auswahl aus den „klügsten und gelehrtesten Männern“ (212) – regiert wird, das Konfessionsproblem, das ein friedliches Zusammenleben stört, im Sinne einer „geläuterten“ irenischen Staatsreligion löst und durch ein umfassendes Bündnissystem den Frieden in Europa sichert. Auf Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen, möchte nur anmerken, daß der gesamte Diskurs große Ähnlichkeit mit dem „Grand Dessin“ des entmachteten Beraters des ersten Bourbonenherrschers Heinrich IV., des Herzogs von Sully aufweist, dabei jedoch die europäische Vormachtstellung Frankreichs in eine solche der „Teutschen Nation“ transponiert.100 Freilich: dieser Entwurf einer monarchischen Staatsordnung auf der Basis von iustitia und aequitas wird als eine Utopie, als ein Narrendiskurs ausgewiesen. Eine Instanz, die diesen Plan realisieren könnte, ist im Rahmen der Histori nicht zu finden; der „natürliche“ Krieg aller gegen alle geht weiter.
Die politischen Diskurse des vierten Buches bieten als Alternativen nur das Parasitenleben der Merodebrüder (Cap. 13) oder das des Räubers (Cap. 15–17), der, um zu überleben, „deß andern Todt“ sucht (335f.) und seine ratio status wie Olivier mit Berufung auf Machiavelli als die durchgängig praktizierte und praktizierbare rechtfertigt:
mein dapfferer Simplici, ich versichere dich/daß die Rauberey das aller-Adelichste Exercitium ist/das man dieser Zeit auff der Welt haben könnte! Sag mir/wie viel Königreich und Fürstenthümer sind nicht mit Gewalt erraubt und zu wegen gebracht worden? Oder wo könnte einem König oder Fürsten auff dem gantzen Erdboden vor übel auffgenommen/wenn er seiner Länder Intraden geneust/die doch gemeinlich durch ihrer Vorfahren verübten Gewalt zu wegen gebracht worden? Was könnte doch Adelicher genennet werden/als eben das Handwerck/dessen ich mich jetzt bediene? […] Mein lieber Simplici, du hast den Machiavellum noch nicht gelesen […]. (338)
Ob der Einwand des Simplicius berechtigt ist, daß nämlich eine solche Lebensform gegen göttliches, natürliches und positives Recht verstoße und darum unmoralisch sei, hält Olivier für eine Frage der Macht:
du bist noch Simplicius, der den Machiavellum noch nit studirt hat/könnte ich aber auff solche Art eine Monarchiam auffrichten/so könnte ich sehen/wer mir alsdenn viel darwider predigte. (339)
Die „böse“, „gottlose“ ratio status ist jedoch für Grimmelshausen wie für die theologisch begründete absolutistische Staatstheorie seiner Zeit unmoralisch und daher keine politische Alternative.
Die politischen Diskurse des fünften Buches befassen sich daher folgerichtig mit den anthropologischen Vorbedingungen für eine moralische Lebensform, die entsprechend der Contzenschen Formulierung gewährleistet, „ex Dei lege gerere Rempublicam, iustitiam, aequitatemque tueri“. Die geradezu experimentell angelegte Konstruktion des Sylphenreiches in der Mummelsee-Episode (Cap. 10–17) führt zu dem Resultat, daß eine konfliktfreie Sozialordnung nur denkbar ist bei Lebewesen, die keine Freiheit zur Sünde, keine Wahl zwischen moralisch richtigem und falschem Verhalten haben. Die Sylphen sind „keiner Sund/und dannenhero auch keiner Straff/noch dem Zorn Gottes/ja nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen“ (417), und da jeder einzelne seiner gottgewollten, d.h. natürlichen Bestimmung entsprechend lebt, ist das Sylphenreich, politisch betrachtet, herrschaftsfrei: sie haben „ihren König nicht/daß er Justitiam administriren/noch daß sie ihm dienen sollten/sondern daß er wie der König oder Weissel in einem Immenstock/ihre Geschaffte dirigiere“ (418). Im menschlichen Bereich ist jedoch nach Grimmelshausen eine solche Voraussetzung zum friedlichen, herrschaftsfreien Zusammenleben aufgrund der andersartigen conditio humana, der Freiheit zur Sünde, zu sozialschädlichem Verhalten und der daraus resultierenden Notwendigkeit von Herrschaft nicht gegeben. Das Bild von den „Weltliche[n] hohe[n] Häupter[n] und Vorsteher[n]“, die in einer friedlich zusammenlebenden, ständisch gegliederten Sozietät „allein ihr Absehen auff die liebe Justitiam [haben], welche sie dann ohne Ansehen der Person einem jedwedem/Arm und Reich/durch die Banck hinauß schnur-gerad ertheilen und widerfahren lassen“ (426), kann daher keine in die Zukunft weisende Utopie sein, sondern ist Satire, da ja auch der Herrscher der conditio humana unterworfen ist und ein übermenschlicher „Teutscher Held“ ausbleibt.
Ein friedliches Zusammenleben ist, wenn überhaupt, nur außerhalb der staatlichen Ordnung möglich, und zwar in einer kleineren religiösen Sozietät, die durch strenge Selbstdisziplin die Freiheit zur Sünde einzuschränken sucht und so der conditio humana in besonderer Weise Rechnung trägt. Grimmelshausen veranschaulicht diese Überlegung am sehr positiv dargestellten Beispiel der Ungarischen Wiedertäufer (Cap. 19), jedoch im Rahmen der Histori scheidet auch diese Alternative aus; konfessionelle Gründe und die Aussichtslosigkeit, Gesinnungsgenossen zu finden, halten Simplicius von der Verwirklichung eines solchen Planes ab.
So bleibt nur noch die Lebensform der Einsiedelei, die allerdings wegen der hohen Anforderungen an die Selbstdisziplin auch wieder problematisch