Ernst Sturmer

Jenseits-Welten


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‒ ausgeliefert.

      Im Chaos der Ur-Finsternis warten auf sie Prügelhäuser, Marterpfähle, Schlachtbänke und Feueröfen. Sie werden gemetzelt und geschmort. Die Verdammten gehen auf dem Kopf, ernähren sich vom eigenen Kot und eigenen Urin.

       Sorglos und leidfrei

      Wer das Jenseitsgericht reinen Herzens bestanden hat, wird als „Verklärter“ in das lichte Reich des Gottes Osiris, des Herrschers der Unterwelt, aufgenommen und genießt in den seligen Gefilden die Freuden einer sorglosen und leidfreien Existenz. Die idyllische Landschaft wird von einem gewundenen Fluss durchzogen, dessen Ufer schattenspendende heilige Sykomoren ‒ ausladende Maulbeerfeigen-Bäume ‒ säumen.

      Das liebliche Totenreich ist ein unbemessener Raum und erstreckt sich über Millionen und aber Millionen Meilen.

      Die Bewohner des altägyptischen Paradieses genießen nach Gewürzen duftendes Fleisch und Geflügel, samtigen Wein und kühlendes Bier. Sie sind bestens versorgt. Sie feiern fröhliche Feste. Wenn sie nicht über Seen schippern oder anderem Müßiggang frönen, bestellen sie gerne die fruchtbaren himmlischen Felder und Äcker: säend, pflügend und erntend.

       Himmlische Ernte

      (Die unliebsamen und mühsamen Arbeiten verrichten stellvertretend Diener, die ihnen in Form von mit magischen Kräften versehenen Statuetten und Figuren als Beigabe ins Grab gelegt wurden. Die Dienerfiguren waren mit Arbeitswerkzeugen, landwirtschaftlichen Geräten und Körben ausgestattet).

      Alles in allem: ein unbeschwertes Leben in Fülle und Überfluss ist der Lohn der Verklärten. Die Altägypter stellten sich das (biologische wie soziale) Leben im Jenseits wie das Leben im Diesseits vor ‒ nur besser.

      Das Jenseits: ein idealisiertes Diesseits.

      Die Jenseitserwartungen im ältesten Kulturvolk am Mittelmeer waren je nach Epoche und Region freilich unterschiedlich. Unsere summarische Skizze der fantastischen Vorstellungen über das Leben nach dem Tod bezieht sich speziell auf das Neue Reich mit Beginn der 18. Dynastie ab 1500 vor Christus.

       Kapitel 3

       Tanz im Myrtenhain

       Antikes Griechenland und Rom

      Der große griechische Philosoph Epikur (341-271 v.Chr.) handelte die Jenseitsfrage kurz und bündig ab: „Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht, ist er, bin ich nicht.“ Parole: Koste das Diesseits aus, denn das Jenseits gibt es nicht! Die mit Vernunft begabten „Seelen-Atome“ lösen sich nämlich nach dem Tod in gleicher Weise auf wie die Atome des Leibes, lehrt der Nihilist Epikur.

      Der Epikureismus ‒ die Lehre Epikurs – war aber nur eine von vielen philosophischen Schulen, die unterschiedliche Meinungen über die Seele vertraten.

      „Seele“ = Psyche: ein Begriff, den die griechischen Denker eingeführt haben: als Ort menschlichen Fühlens und Denkens, als Kern der Person.

      Nach Platon (428-348 v.Chr.) ‒ Schüler von Sokrates und Lehrer von Aristoteles ‒ ist die Seele als unstoffliches Lebensprinzip unabhängig vom Leib und dem Tod nicht unterworfen (also unsterblich).

      Die unzerstörbare Seele wird beim Tod aus der „Gefangenschaft“ des vergänglichen Körpers befreit, vergisst das frühere Leben und kann sich erneut „einkörpern“. Die Wiedergeburt (Reinkarnation) der freien Geistseele kann nach Platon sogar in einem Tierkörper erfolgen.

       Geistesgigant Platon: Begründer der abendländischen Philosophie

      Sokrates (469-399 v.Chr.) glaubte an die Unsterblichkeit und erhoffte nach dem Tod vorteilhafte Daseinsbedingungen vorzufinden.

      Aristoteles (384-322 v.Chr.) bestritt die Unsterblichkeit der Seele. Nach ihm ist die Seele kein eigenständiges bzw. vom Körper unabhängiges Wesen. Sie ist vom Körper untrennbar.

       Von einer Bestie bewacht

      Mythologie und Volksglaube überwucherten aber die Philosophie. Im Allgemeinen war für die antiken Griechen als Anbeter der Jugend, der Schönheit und der Kraft der Tod ein Schreckgespenst.

      Denn die Normalsterblichen erwartet im Hades ein düsteres Dasein als scheue und kraftlose Schattenwesen, die in Trauer dahindämmern.

      Um in das Reich des Todes, den Hades, zu gelangen, müssen die Verstorbenen den Fluss des Vergessens – Lethe – überqueren – mit Hilfe des schreckenerregenden und schmutzstarrenden Fährmanns Charon. Beim Bestattungsritual wurde dem Toten eine geringwertige Münze (Obolus) in den Mund gelegt, damit er den Fährmann bezahlen kann. Was Charon mit den vielen Moneten anfängt, wissen nur die Götter.

      Das Tor zur Unterwelt bewacht zähnefletschend der dreiköpfige Höllenhund Cerberus, so dass kein Lebender die Unterwelt betreten und kein Toter ihr entfliehen kann. Beschrieben wird er als Bestie mit Kupferstimme und tödlichem Atem.

      Herrscher über den Hades (ursprünglich „Haus des Hades“) sind der namensgebende gefürchtete und gehasste Gott Hades, der kaum kultisch verehrt wurde, und seine schöne Gemahlin, Göttin Persephone, die nicht freiwillig in die öde Unterwelt ging. Sie wurde vom hartherzigen Hades mit Gewalt aus der Oberwelt in die Unterwelt entführt und fügte sich in ihr Schicksal. Zumindest einen Teil des Jahres muss sie als Gefährtin der düsteren vollbärtigen Majestät in der sonnenlosen modrigen Totenwelt verbringen. Weil sie nach der Entführung in der Unterwelt heimlich Granatapfelkerne gegessen hat, ist sie an das Totenreich gebunden ‒ so will es die Legende.

       Charon (nach Michelangelo): der Fährmann bringt die Toten über den Fluss in den Hades

       Der dreiköpfige Höllenhund Cerberus wacht, damit kein Lebender die Unterwelt betritt und kein Toter sie verlässt

      Der beinahe unverwundbare antike Superheld Achilles beneidete den Jenseitsgott nicht um seinen Job: „Ich wäre lieber der Knecht eines Taglöhners oder Bettler auf Erden als der Herrscher aller Toten im Hades“.

      In der Frühzeit glaubten die Griechen noch nicht an eine Bestrafung oder Belohnung im Hades. Ob reich oder arm, hochrangig oder gering, schlecht oder gut ‒ im finsteren und feuchten Totenreich lebten sie schmerzlos als Schatten.

      Erst später, als der Gerechtigkeitssinn wuchs, kam der Glaube hinzu, dass Totenrichter ‒ wie Rhadamanthys ‒ die schlimmsten Verbrecher (z.B. Tyrannen, Mörder, Tempelräuber) in den Tartaros unterhalb des Hades und die edlen Seelen ins Elysion schicken.

       Mit angebissenem Granatapfel: Persephone = Proserpina, Fürstin der Unterwelt wider Willen

       Tantalos, Sisyphos und Co.

      Der Tartarus ist also der schreckliche Verbannungsort für die ärgsten Missetäter und Gottesfrevler, die immerwährende Marter erleiden für Vertragsbrüchigkeit, Hass und Neid gegen Brüder, Gewalt gegen den eigenen Vater, Treulosigkeit, Ehebruch usw.

      Die berühmtesten Insassen des Strafortes Tartarus kennen wir noch aus dem Geschichtsunterricht unserer Schulzeit.

      > Sisyphos: Der gerissene, verschlagene und skrupellose König von Korinth, der um das Jahr 1400 v.Chr. gelebt haben soll, pflegte die Götter zu verachten und zu verärgern. Zur Strafe muss er im Tartarus in alle Ewigkeit schweißtriefend einen riesigen Felsbrocken auf einen Berg wälzen. Die Tücke: knapp vor dem Gipfel entgleitet ihm der Stein,