Ernst Sturmer

Jenseits-Welten


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Zuge der Christianisierung der Germanen ab dem 5. Jahrhundert war die Kirche bemüht, Walhalla wegen der deftigen Partys und Schlägereien als „Bierzelt“ lächerlich zu machen. Die Christen veralberten das Paradies der germanischen Kriegerkaste als „Himmel der Saufenden und Raufenden“.

      Die täglichen Kampfübungen mit scharfer Waffe in Walhalla dienten freilich nicht nur dem spannenden Zeitvertreib. Die Einherjer übten Tag für Tag, um sich abzuhärten und für die letzte große Weltschlacht am Ende aller Zeiten zu wappnen. Dann werden sie nämlich an der Seite Odins und der Götter gegen das Heer der Riesen und der bösen Mächte der Finsternis kämpfen.

      Gleichwohl wird die Schlacht der Schlachten mit dem Untergang der ‒ nicht unsterblichen ‒ germanischen Götter und der alten Welt enden. Eine neue Welt steigt aus dem Meer empor. Die sogenannte „Götterdämmerung“ (= Ragnarök) ist die Apokalypse der germanisch-nordischen Mythologie.

       Die halb tote und halb lebendige Hel

       Widersprüchliche Hel

      Wer für das Reich des Odin (Walhalla) nicht tauglich ist, strandet im Reich der Hel (Helheim genannt). Das sind, wie gesagt, alle, die den „Strohtod“ gestorben sind, sprich: die ihren Tod im Bett bzw. auf dem Strohlager gefunden haben.

      Die grimmige Hel entstammt dem Geschlecht der Riesen. Ihr Vater ist Loki, der listige, verschlagene Gott des Bösen, ein dämonischer und unheilstiftender Gauner, Gaukler und Schwindler, und ihre Mutter ist die Riesin Angurboda (Wehbotin, Angstbringerin). Geschwister der Hel sind der Fenriswolf und die Midgardschlange, zwei zerstörerische Wesen.

      Hel, die Göttin des Totenreichs für die normal Sterblichen, ist lieb, freundlich, milde und gütig zu den Guten. Sie ist gerecht. Die grausame, unerbittliche, rächende, bestrafende Göttin erleben nur die Verbrecher (Mörder, Diebe, Lügner). Die Verdammten werden gepeinigt mit Kälte, Schmerz und Hunger. Oder von einem Drachen gequält, der sich vom Fleisch der Toten ernährt.

      Die Schuldlosen bleiben straffrei, aber lustig ist ihr stillstehendes, erwartungsloses Nachtoddasein in Helheim nicht.

       Pein-Halle

      Helheim als Ort ist schaurig und kalt, von finsterem Nebel erfüllt. Das Totenreich liegt unter den Wurzeln des Weltenbaumes Yggdrasil. Ein Gittertor schirmt es ab, der Hund Garm bewacht es. In Hels Burg befinden sich große Säle. Die zu Lebzeiten brutalsten Gestorbenen kommen in die Pein/Plage-Halle. Deren Wände sind aus Schlangenleibern geflochten, und durch Löcher im Dach tropft Gift.

      Das sind grobe Skizzen von Walhalla und Helheim.

       Göttin Ran mit ihren Töchtern

      Wer im Meer ertrunken ist, fällt Ran in die Hände, der Göttin eines eigenen Totenreiches, das mit Walhalla oder Hel nichts zu tun hat. Es liegt auf dem Grund des Meeres und ist in der altnordischen Mythologie allein für die Ertrunkenen bestimmt.

      Die Herrin des Meeres hat viele Töchter: die Wogen und Wellen. Ihr Gatte ist der weise Meerriese Ägir. Unter anderem wird sie als Mischwesen mit dem Oberkörper eines Menschen und dem Schwanz eines Fisches dargestellt.

      Ran lauert ständig darauf, dass Schiffe kentern. Sie fischt dann mit einem engmaschigen Netz, das sie durch die Fluten des Ozeans zieht, die im Meer Umgekommenen auf und bringt sie in ihr Totenreich, golden funkelnden Korallenhöhlen. Dort werden sie gastfreundlich aufgenommen und bewirtet.

      Ran hat aber zwei Gesichter. Neben der hellen wunderschönen und gütigen Ran gibt es die dunkle, hässliche, wilde, unbeherrschte, aufbrausende, ja „menschenverschlingende“ Ran. Der Name Ran bedeutet „Räuberin“. Die Göttin des Seetodes zieht nämlich mitunter ahnungslose Seeleute von Bord ihres Schiffes in die Wasserunterwelt.

      Die Wikinger brachten daher am Bug ihrer Schiffe Drachenköpfe an, um sich gegen die „Räuberin“=Ran zu schützen.

       Untote Terroristen

      Bevor sich die Vorstellungen von Walhalla, Helheim und dem Totenreich auf dem Meeresgrund in der Spätzeit ausgeprägt hatten, war das Jenseitsbild der Germanen sehr diffus und von Stamm zu Stamm verschieden.

      Es gab die Ansicht, dass die Toten zu den Ahnen gehen oder die andere, dass sie im Grabhügel in voller Körperlichkeit fortleben. Die Grabbeigaben (Waffen, Kleidung, Schuhe, Speisen, Getränke, Wanderstab, Werkzeuge, Münzen, Musikinstrumente, Schmuck) widerspiegeln den Glauben, dass sie drüben wie hüben leben.

      Die im Grab wohnenden Untoten wurden oft gefürchtet, wenn sie als makabre „Wiedergänger“ (Draugr) die Umwelt tyrannisierten. Anderseits konnte man sie sich durch Magie dienstbar machen und sie beispielsweise mit Beschwörungsformeln zwingen, die Zukunft vorherzusagen.

      Die körperliche Erscheinung des ruhelosen Draugr kann sich frei durch das Erdreich bewegen und sogar Felsen durchdringen. Die einzige Möglichkeit, sich eines mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten bedrohlichen Draugr zu entledigen und ihn endgültig zu vernichten, ist, ihm den Kopf abzuschlagen.

       Germanenkopf (Tonbüste im Vindonissa-Museum, Brugg)

      * Walküren: finstere Zwischenwesen, halb Mensch, halb Göttin, Jungfrauen, manchmal Heldengeliebte, in der Regel Botinnen und Helferinnen Odins, geisterhafte Schlacht- und Schildjungfern. Bei den Gelagen der Helden in Walhalla fungieren sie als Schankmädchen.

       Kapitel 5

       Zu den Ahnen gehen

       Afrika

      Die Grenze zwischen Jenseits und Diesseits ist durchlässig, glauben Afrikas traditionelle Religionen. Die Verstorbenen ‒ die „Lebendtoten“* nach afrikanischem Verständnis ‒ sind zwar unsichtbar für die Lebenden, aber sie greifen als Geistwesen mit magischen Fähigkeiten tatkräftig in den Alltag der Hinterbliebenen und Angehörigen ein. Lebende und Tote bilden in Afrika eine Solidargemeinschaft.

      → Einerseits bieten die Verstorbenen den Lebenden Hilfe, Fürsorge, Förderung, Beistand und Schutz oder sie geben Ratschläge oder übermitteln Warnungen, wenn sie gebührend verehrt und versorgt werden. Und sie sind eine kosmische Macht: sie vermitteln zwischen den Menschen und den Göttern.

      Gebet eines Häuptlings aus dem südlichen Afrika: „Ich bete zu euch ihr Geister unserer Verstorbenen, die ihr so große und edle Taten für uns vollbracht habt, um guten Fortgang und um Glück; ich bitte euch, dass ihr meinen Kraal** mit Vieh, meine Scheunen mit Korn, meine Häuser mit Kindern füllet, auf dass ihr uns nie aus dem Gedächtnis verschwindet.“

      → Anderseits sind die Verstorbenen zu jeder Untat fähig, wenn sie vergessen oder vernachlässigt werden. Sie können Missernten, Seuchen und den Tod herbeiführen. Besonders gefürchtet sind abgeschiedene Ahnenseelen, wenn sie als sogenannte Plage- oder Quälgeister aus dem Grab schleichen und Unheil stiften.

      Die einflussreichen Ahnen steuern also die Geschicke der noch lebenden Verwandten.

      Das Wohlwollen der Ahnen durch Gebete und Gaben wachzuhalten ist daher das A und O der traditionellen Religionen Afrikas.

      Um sich im irdisch gedachten Jenseits bequem ansiedeln zu können, werden den Verstorbenen Nahrungsmittel, Geräte, Matten, Tabakpfeife, Waffen, Schmuck etc. ins Grab mitgegeben. Denn die Toten fristen im Jenseits als Seelenmenschen (Abbilder des Körpers) kein Scheinleben, sondern erfreuen sich eines vegetativen Lebens mit sinnlichen Bedürfnissen. Sie genießen die Essenz der geopferten Speisen und Getränke, die „Rohstoffe“ überlassen sie den Priestern.

      Die Ahnen wissen also Anrufungen und Weihegaben zu schätzen.

      Der Ahnenkult hat in Afrika einen fruchtbaren