selbstverständlich auch Gäste aus der Hausgemeinschaft hinzu. Polonaise war angesagt. Es ging hinaus auf das Treppenpodest, die breiten Treppen hinunter, Onkel Horst vorneweg, hinter ihm Margot und sich anschließend der ganze Schwanz von Genossen und Genossinnen. Ein Lied reihte sich an das andere, und irgendwann ging es weiter mit der Melodie:
„Wir wolln unsern alten Kaiser Wilhhelm wieder habn, aber den mittn Bart, aber den mittn Bart, mittn langem Bart…."
Mutter Margot zuppelte an ihrem Bruder. Der war im Spielrausch und merkte das Zuppeln verspätet, denn inzwischen sang er als letzter, und die Mitläufer schauten sich betreten an. Wie kann denn so etwas hier gesungen werden…? Es wurde weiter gefeiert, aber der „Kaiser mittn Bart“ blieb als „deplatzierter“ Sangesakt bei den Grundmanns in den Köpfen…
Der Umzug in die Stalinallee war ein Jahr her. Aus praktischer Erwägung kam es für Roland zum fünften Schulwechsel in sechs Jahren. Die Abkürzung durch einen Torbogen nehmend, über dem „6. Hof“ stand, war er in sieben Minuten in der Schule. Die Vorderhäuser und Seitenflügel dieses Komplexes waren weggebombt oder abgerissen. In dieser Schule saß Mutter Margot nicht im Schulsekretariat.
Die Stalinallee der fünfziger Jahre war, gemessen am Verkehrsaufkommen und lustwandelnden Menschen in Ostberlin, überdimensioniert. Rolands Wohnblock war der letzte Block im “Klein-Moskau-Stil“ stadtauswärts auf der rechten Seite. Zwischen diesem Block und der gegenüberliegenden Häuserzeile lag ein weiter Zwischenraum: Breiter Bürgersteig mit Fahrradweg, Pflasterstreifen für die breiten steinernen Sockel der Laternen, eine Fahrbahn mit zwei Spuren, eine ebenso breite Rasen-Zwischeninsel, eine Fahrbahn mit zwei Spuren in Gegenrichtung, der Laternenstreifen, der Fahrradweg in Gegenrichtung, eine große Fläche, die so breit ist wie die vorgenannten Flächen zusammen, und nochmals ein breiter, mit Platten belegter Bürgersteig. Wenn z.B. Fotos oder Filmaufnahmen von der Stalinallee gemacht wurden, stoppte die Verkehrspolizei die Autos in beide Richtungen und ließ dem Verkehr anschließend wieder freien Lauf, um die Illusion eines Großstadtdynamik widerspiegelnden Verkehrsaufkommens auf Zelluloid festzuhalten.
Als Rolands Familie einzog, ragten noch Schutt und Trümmer ehemaliger Fundamente zwischen und über dem Niveau der geplanten Grünflächen. Nach und nach erfolgte die Einrichtung der Ladengeschäfte. Aus ihrer Anordnung und Zuordnung wurde der Anspruch der Stalinallee als Ganzes sichtbar. Hier sollte das Wohnungsbauprogramm für Berlin als beispielhafte Zukunftsvision, und in den Schaufenstern die Leistungskraft der sozialistischen Gesellschaft demonstriert werden.
Die teilweise Offenlegung der Verbrechen Stalins durch Chrustschow 1956/57 überstand Stalin zwar noch unbehelligt bis in den November 1966 auf seinem Sockel in der Allee, die seinen Namen trug, aber aus dem Arbeitszimmer von Grundmann-Bruder Kurt verschwanden die in rotes Leder eingebundenen gesammelten Reden Stalins aus der ersten Reihe der verglasten Bücherfront. Sie wurden nicht vernichtet, sondern quer hinter die Reihe der vorne stehenden Prachtbände von Lenin, Karl Marx, Friedrich Engels und Walter Ulbricht dekoriert. Die belletristischen Bücher dieser Bibliothek umfassten die Werke deutscher und russischer Autoren, die als unbedenklich im Sinne der sozialistischen Erbauung galten. Insgesamt mögen es weniger als die Zahl der Finger an Rolands Händen gewesen sein, derer er sich aus diesem Angebot bedient hat. Seine Begeisterung am Lesen konnte er anderweitig befriedigen. Im Erdgeschoss seines Hauses eröffnete nämlich eine Leihbücherei. In Hauspantoffeln konnte er hinuntergehen und sich sämtliche Bücher ausleihen. Es gab Tage, an denen er ein ganzes Buch auslas. Darunter litt natürlich die Erledigung seiner Schulaufgaben. Dass Roland das große sich ihm bietende Bücherangebot nutzen konnte, war an und für sich eine günstige Fügung. Niemand stand bei der Auswahl des Lesestoffs anleitend zur Seite. So las er oft kommunistischen Schund, der die Bezeichnung Literatur nicht verdiente. Er erlag dem Bedürfnis an beschriebener Aktion. Er las von russischen und kommunistischen Heldentaten im 2. Weltkrieg und er duldete der Story wegen sogar, dass es letztlich deutsche Soldaten waren, denen man sämtliche Grässlichkeiten zuschrieb. Er trauerte gelegentlich noch Jahre später ob der ihm so verlustig gegangenen Zeit.
Grundmann Bruder Kurt und Mutter Margot nahmen zur Kenntnis, dass er viel las, und damit war die Sache für sie positiv abgehakt – der Junge lernt. Der Umfang des von ihm bewältigten Lesestoffs hat ihm, gemessen an den gebotenen Möglichkeiten, einen immerhin überdurchschnittlichen schöngeistigen und/oder philosophischen Horizont eröffnet. Es waren neben den deutschen Klassikern die Literaten und Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, besonders die russischen und französischen, die einen Fundus besserer Allgemeinbildung schufen. Seine Phantasie löste sich in den Weiten beschriebener Länder auf und ließ ihn von dort durchlebten Abenteuern träumen.
Schräg gegenüber, im letzten Block gegenüber dem Frankfurter Tor, eröffnete im Frühjahr 1956 ein Reisebüro (DER). In Ostberlin und in der übrigen "DDR" gab es so gut wie keinen nennenswerten Auslandstourismus. Die Leute, die für Auslandsreisen das Geld hatten, reisten über Westberlin. Das geschah via Flug von Tempelhof bzw. per Bahn ins Bundesgebiet oder ins europäische Ausland. Um so mehr sorgte die öffentliche Ankündigung für Aufsehen, dass es tags darauf Reiseangebote für DDR-Bürger nach Bulgarien in eben diesem Reisebüro geben würde. Der Preis von über 1.000 Mark pro Person sorgte schon für eine Vorauswahl, wenn man ihm z.B. das Monatsgehalt einer Verkäuferin von 240 Ost-Mark gegenüberstellt. Als Roland mittags, von der Schule kommend, am Reisebüro vorbei ging, saßen Leute auf Stühlen vor dem Laden. Zu Hause angekommen erreichte ihn der Anruf seiner Mutter:
„Mach deine Hausaufgaben und stelle dich bitte in die Reihe! Wenn wir nach Hause kommen, lösen wir dich ab.“
So handhabten sie es dann. In der Nacht lösten die Eltern einander ab, und am nächsten Vormittag zählten sie zu den Glücklichen, die einen Antrag auf eine Urlaubsreise nach Bulgarien in der Hand hielten. Wie auch immer die Endzuteilung erfolgt sein mochte, sie flogen nach Bulgarien. Roland war zur selben Zeit wieder in einem Sommerferienlager.
An Rolands 12. Geburtstag, führte Mutter Margot ihn morgens vor dem Weg in die Schule feierlich zu den aufgebauten Geschenken im Wohnzimmer. Er hatte zwölf brennende Kerzen auszupusten. Mutter Margot nahm seine Hand, schaute ihm ernst in die Augen und erklärte:
„Du bist jetzt adoptiert! Kurt ist nunmehr dein einziger und richtiger Vater.“
Warm und einfühlsam klang Kurts Stimme:
„Bist mir ja schon lange mein Sohn!“
Vater und Sohn umarmten sich herzlich.
Roland fand die Regelung prima. In allen Jahren hatte er nichts Schlechtes an Kurt ausmachen können. Er hatte nie lauten Streit zwischen Mutter Margot und ihm vernommen, Schläge, selbst Backpfeifen, hatte er nicht ein einziges Mal von ihm erhalten. Kurts Gesamtpersönlichkeit‚ seine Belesenheit und handwerkliche Geschicklichkeit, hatten ihn ihm zum Vorbild werden lassen.
Die schulischen Leistungen von Roland hatten sich nicht verbessert und konnten bei allem Wohlwollen höchstens als „durchwachsen“ bezeichnet werden. Wie jedes Jahr am Anfang des Schuljahres einer der besten Schüler in der Klasse, fand er sich zu Weihnachten in der Gruppe der Versetzungsgefährdeten. Gute Noten hatte er in Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Musik und Sport. Bis zum Ende des Schuljahres hatte er Mühe, ohne eine 4 auf dem Zeugnis die Versetzung zu erreichen. Die Lehrer erklärten den Eltern zwar stets auf den Elternabenden, Roland sei zu wesentlich besseren Leistungen fähig, wenn er nur nicht so faul bei der Erledigung der Hausaufgaben wäre. Selbst Vaters finanzielle Anreize, ihm für eine 2 fünfzig Pfennige und für jede 1 eine Mark geben zu wollen, fruchteten nicht wirklich. Bei einer 4 hatte Roland nämlich fünfzig Pfennige zu zahlen und für eine 5 eine Mark.
Jeder Schüler hatte ein Tagebuch zu führen. Hier trug der Lehrer Mitteilungen, Lob oder Tadel ein. Die Schüler hatten für jedes Fach die erhaltenen Zensuren selber einzutragen. Das Tagebuch mussten die Eltern wöchentlich unterschreiben. Roland trug nur die Zensuren von 1-3 ein, „vergaß“ die Zensuren 4 und 5, und wenn Geldnot war, nahm er noch Zweier und Einser auf. Das Anreizsystem wurde nach Entdeckung seiner Manipulationen ersatzlos gestrichen.
Mindestens einmal in der Woche kontrollierten die Lehrer Schulmappen. Es ging dabei darum, Nichtsozialistisches zu konfiszieren. Darunter fielen Miniaturautos der Deutschen Wehrmacht, Wehrmachtssoldaten