Kollektivs gegenüber einer aus kapitalistischen Egoisten zusammengesetzten Mannschaft schien bestätigt. Deutschland kam über die Türkei, Jugoslawien und Österreich doch bis ins Finale. Dort traf man wieder auf die Ungarn. Wohl weil die sozialistischen Ungarn als Sieger schon vor dem Endspiel festzustehen schienen, durfte die Rundfunkübertragung gemeinsam mit den Erwachsenen gehört werden. Nach deren Einschätzung stand nun eine Demonstration sozialistischer Überlegenheit bevor. Bei allem Zweifel an der Chance für die Deutsche Mannschaft hatte diese voreingenommene Betrachtung für Roland und seine Freunde keinen Wert. Um keinen der Erzieher zu verärgern, äußerten sie salomonisch zu Beginn der Übertragung:
„Der Bessere möge gewinnen.“
Bei Halbzeit führten die Ungarn 2: 0. Die Betreuer gaben sich, den Sieg der sozialistischen Freunde vor Augen, als dialektische Besserwisser. Die Männer um Fritz WALTER erkämpften jedoch mit ihrem grandiosen Torwart Toni TUREK den Ausgleich und errangen dann durch Helmut RAHN den Siegtreffer zum 3: 2. Deutschland war Fußballweltmeister! Die Gruppenleiter, vom spontanen ehrlichen Jubel überwältigt, wurden im Siegestaumel ihrer Schutzbefohlenen mitgerissen.
Nach den Ferien, zu Beginn des sechsten Schuljahres, kam Roland im Sog der Schulversetzung von Mutter Margot wieder in eine andere Schule. Diese war jetzt in Berlin-Friedrichsfelde. In der neuen Klasse sollte sein Schülerdasein nicht glücklich sein. Einerseits musste er sich wiederum in der Rangordnung neu behaupten und andererseits wurden seine diesbezüglichen Händel sofort Mutter Margot von den Lehrern gemeldet. Das gleiche galt für nicht oder schlecht gemachte Hausaufgaben. Zur Schule musste er jetzt 10 Minuten zur U-Bahn gehen, drei Stationen fahren und dann noch einmal 10 Minuten laufen.
Neben der Schule lag das Friedhofs-Areal des ehemaligen Schlossparks, welches später dem neu geschaffenen "Tierpark Berlin" zugeschlagen und dann teilweise mit Wohnhäusern bebaut wurde. Vor seiner Neuwidmung war das gesamte Areal stark verwildert. In großen Bombenkratern hatten sich kleine Teiche mit eigenständigen Biotopen gebildet. Hier kreuchte und fleuchte alles – von Molch und Blindschleiche bis zur Ringelnatter. Sonntags ging Roland allein oder mit Schulkameraden, mit Köcher und Gläsern ausgestattet, um Schmetterlinge, seine Freunde, um Getier für ihre Terrarien zu fangen. Mit Äther betäubt, dann mit Nadeln aufgespießt, wurden die Schmetterlinge in kleine Glaskästchen eingeklebt. Diese bestanden aus quadratisch geschnittenen Glasscheiben, die, schon zugeschnitten, in der Tierhandlung käuflich zu erwerben waren. Zwischen die Scheiben wurden Leisten eingeklebt. Fertig war das Glaskästchen, das später noch von Roland an den Rändern angemalt und beschriftet wurde. Das Interesse für solche selbst zu bastelnden Kästchen, das fachmännische Fangen und Aufbereiten der Schmetterlinge und die Fertigung der Schaukästchen hatte er in einem der Ferienlager erlernt. Mit den von ihm gebastelten Kästchen konnte er vortrefflich seine Geschenke für alle Anlässe im Verwandten - und Freundeskreis abdecken.
In den Schulferien zweimal, manchmal auch dreimal, konnte er in solch ein Lager reisen. Engagierte Betreuer, sport-und spieltechnisch voll ausgestattet und bei bester Verpflegung, von lieben Landfrauen zubereitet, da gab es kaum Heimweh. Es blieben keine Wünsche offen.
Hier traf Roland auf Kinder, deren Elternhäuser dem seinen ähnlich waren. Es galt, sich immer wieder neu in die Gemeinschaft einzupassen. Eines dieser Ferienlager war zum Beispiel das Schloss Wachwitz bei Dresden, einem der ehemaligen Wohnsitze der Wettiner (August der Starke). In den Bibliotheksräumen des Schlosses lernte er Schach zu spielen.
Von Onkel Robert hatte er eine Fotobox geschenkt bekommen, in die ein Film für acht Aufnahmen eingelegt werden konnte. Nur acht Fotos, die hatte er schon am ersten Tag geschossen. Auf fünf Mark für die ganze Lagerzeit war das Taschengeld von den Erziehern limitiert. Grundmann-Bruder Kurt war einer der Wenigen, die sich penibel an diese Vorgabe hielt. Roland war also seinen Spielkameraden finanziell unterlegen. Demgegenüber war seine Stellung in den Ferienlagern stets eine besondere. Als Berliner hatte er mehr aus der Welt zu erzählen als es dem Horizont der aus den Provinzstädten stammenden Kinder entsprach. So erzählte er vom Leben in der Stadt mit den zwei Welten. Die größte Aufmerksamkeit bekam er beim Erzählen von Western-Filmen. Roland konnte aus Kinofilmen erzählen, die er in Farbe gesehen hatte. Das war etwas Besonderes, weil zu dieser Zeit in der Provinz meist Filme in Schwarz/Weiß gezeigt wurden. Schon mit der Beschreibung der von ihm besuchten Kinos gewann er Aufmerksamkeit, denn in den Provinzen wurden die Filmrollen im zwei- oder dreiwöchigen Rhythmus angefahren und dann im Zelt oder in der Ortskneipe abgespielt. Oft spielten Rolands Zuhörer mit ihm die Hauptszenen nach, in denen sich die Kontrahenten Kirk Dougles, Jerry Cooper, John Wayn u.a. beim Schießduell gegenüberstanden. Seine Roman- und Filmkenntnisse waren so nachgefragt, dass er aus eigener Anschauung nicht so viel Quellen im Kopf hatte, wie man sie ihm zu schildern abverlangte. Um sich keine Blöße zu geben und die erworbene Anerkennung zu halten, erzählte er aus dem Stehgreif ausgedachte (Film-)Handlungen. Für die ihm abverlangten Dienste einigte man sich vorher darauf, ihm beim nächsten Ausflug einen Film für seine Fotobox zu kaufen.
Die Wohnungen der Stalinallee in den Blocks bis zum Frankfurter Tor waren vergeben und bezogen. Ehemalige Verfolgte des Nationalsozialismus, Amtsträger und Funktionäre der DDR oder Leute, derer man sich mit dieser Zuweisung ihre Loyalität für den Aufbau des Sozialismus in Ostberlin sichern wollte, waren besonders berücksichtigt worden. Die von Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt geleisteten Aufbaustunden lagen im höheren dreistelligen Bereich. Gewiss nicht durch das Losverfahren, aber wiederum auch nicht ohne ihre erbrachten Aufbaustunden als sozialistische Eigenleistung, bekamen sie Anfang September 1954 eine Wohnung im letzten Wohnblock (G-Süd). Die Berliner nannten die Wohnblöcke, weil sie dem Baustil der Moskauer Prachtbauten ähnelten, „Klein Moskau“. Es handelte sich um eine Vierzimmer-Wohnung mit gekacheltem Bad und Toilette, Fernheizung, Warmwasser, zwei Balkone, Besen- und Abstellraum. Die Küche war eine Wohnküche, in der unter einer großen Terrazzo-Arbeitsplatte ein Unterschrank eingebaut war, in dem sich ein Zinkkasten für die Eisaufnahme befand. Milch und andere Lebensmittel mittels elektrischer Kühlschränke zu kühlen, entsprach noch nicht der normalen Küchenausstattung in Ost-Berlin. Im Haus gab es auf jeder Etage Müllschlucker und Fahrstuhl. Die Wohnungen waren über Klingel-Gegensprechanlage erreichbar und ein Kinderwagen- sowie ein Fahrradraum befanden sich im Erdgeschoss jeden Aufgangs. Ein Hausgemeinschafts- oder Tischtennisraum befand sich auf dem Dachgarten, der ebenfalls von jedem Bewohner und seinen Gästen benutzt werden konnte. Sie hatten Telefon, was in Ost-Berlin allein für sich schon ein Privileg erster Güte darstellte. Für die großzügige Wohnung waren knapp 100 Ostmark Monatsmiete zu zahlen. Legt man diesem Mietpreis den sich in den 30ger Jahren für Berlin üblichen 25 Prozent eines Monatsgehaltes oder einen Wochenlohn zugrunde, waren die Mieten in der Stalinallee sehr niedrig. Angesichts der Entwicklung, dass der Mann als Alleinverdiener durch die Berufstätigkeit der Frau in der DDR-Familie abgelöst wurde, war das Mietniveau fast schon niedlich. Rendite oder Unterhaltskosten spielten nach sozialistischer Rechnung keine Rolle.
Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt komplettierten ihre neuen Nachkriegsmöbel gleichzeitig mit dem Einzug. Die Einrichtung entsprach der allgemeinen Vorstellung von moderner Wohnkultur.
Die bauliche Konzeption der Wohnungen in der Stalinallee bildete die Spitze des sozialen Wohnungsbaues in ganz Berlin. Dieser Vergleich hält auch gegenüber der Neubauplanung des im Westteil gelegenen Hansaviertels im Bezirk Tiergarten stand. Hier war die Bausubstanz zu gut neunzig Prozent im Krieg zerstört. Seit 1953 wurde geplant und in den Jahren von 1955 bis 1960 die moderne Stadtplanung und Architektur jener Zeit realisiert. Den Rahmen gab damals die Internationale Bauausstellung von 1957, die heute als Projektion der klassischen Nachkriegsmoderne gilt. Die Bauten und ihre Grundrisse waren auch Versuche, neue Wohnformen zu erproben. Die Häuser in der Stalinallee und die im Hansaviertel stehen als städtebauliches Dokumente ihrer Zeit für das finanziell Machbare, Gewollte und Gekonnte.
Mutter Margot wurde 31 Jahre alt. Was lag näher, als Bruder Horst und sein ihm angetrautes Traudchen einzuladen. Als Onkel Horst und Traudchen den bereits anwesenden Gästen vorgestellt wurden, hieß es immer:
„Das ist der Genosse Direktor, das ist die Genossin Leiterin, das ist der Genosse XY und seine Frau, die Genossin…“ und so weiter und so weiter. Für Horst und Traudchen ein befremdliches Willkommen.
Im Gegensatz zu seiner Schwester Margot war aus Onkel Horst ein