K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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Unterhemd und Hemd getragen wurde. An ihm befanden sich Strumpfhalter, wie man sie heute als "Strapse" an Frauenkleidern bezeichnet. Am Ende der baumelnden Gummibänder befanden sich Ösen mit Knöpfen. Der Strumpf wurde straff über die Knöpfe hochgezogen, darüber gelegt und mit jeweils zwei Ösen fixiert. Über die dicken braunen Strümpfe kam eine gebügelte kurze Hose, und an die Stelle der neuen Schuhe traten die alten Schnürschuhe. Die nasse Hose und die neuen Schuhe wurden eingepackt und mitgenommen. So trafen sie dann tatsächlich als die letzten Gäste bei den Ur-Großeltern ein. Anlass für die feierliche Veranstaltung, zu der sich die ganze Familie eingefunden hatte, war die Heimkehr des zweiten Sohns vom Ur-Großvater aus russischer Kriegsgefangenschaft. Onkel Gerhardt war zwar kränklich und unterernährt, aber ansonsten unversehrt.

      Für Rolands Verwandtschaft mütterlicherseits ergab sich so knapp zwei Jahre nach Ende des Krieges ein Blutzoll von nur einem Mitglied. Dabei handelte es sich um den noch als vermisst geltenden Bruder von Opa Rudolf, Onkel Ernst.

      Die „Samenhandlung Beist“, seit Kriegsende von der Ur-Großmutter zusammen mit Onkel Robert geführt, sollten fortan Onkel Robert und Onkel Gerhardt gemeinsam führen. Ur-Opa Georg lag schon seit einigen Wochen mit einer Lungenentzündung im Bett, wo sich sein Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte. Er ist von der Krankheit nicht mehr genesen. Sein Sohn, Onkel Robert, hatte inzwischen Herta, eine rotblonde, grünäugige, dralle Frau mit gewaltigen Brüsten geheiratet. Auf diese konnte Roland blicken, als Herta die gerade geborene Tochter Christel stillte.

      Herta war als Flüchtling in den Kriegsjahren aus Ostpreußen nach Berlin gekommen und hatte in Ur-Großvaters Samenhandlung Anstellung gefunden. Der Anblick von Hertas Brüsten fiel in die Zeit, als Roland zählen und lesen lernte. Wohl jedes Kind erlernte 1946/47 das Zählen anhand der Kinderfibel „Zehn kleine Negerlein“. Diese aus buntem Karton bestehende Fibel beschrieb in einem Singsang die Geschichte von zehn kleinen Negerlein, deren Bestand durch einen mehr oder weniger lustigen Schicksalsschlag jeweils um eins von zehn bis Null abnahm. Zählen konnte Roland zwar schon, aber ihm diente das Buch als Vorlage für Leseversuche. Da sprangen also zehn, nur mit einem Blätterschurz um die Hüften bekleidete Negerlein durch den Wald und spazierten über einen umgefallenen Baum, der als Überbrückung eines Baches diente. Beeindruckend bei den weiblichen Negerlein waren die dreieckigen, nackten Brüste. Er zeigte Mutter Margot seine Favoritin und erklärte, dass später einmal seine Frau genau so aussehen müsse. Das geschah zu jener Zeit, als sich bei ihm, wenn er sich auf dem Bauch liegend schupperte, ein wohliges Jucken bemerkbar machte.

      Durch die Heirat von Mutter Margot mit Grundmann-Bruder Alfred hatte Roland väterlicherseits sozusagen eine Oma hinzubekommen. Oma Berta war eine Kriegswitwe. Ihr Mann war in den letzten Kriegstagen beim Schanzen mit dem Volkssturm von einem russischen Scharfschützen erschossen worden. Sie lebte im Seitenflügel einer hufeisenförmigen Hofbebauung in Berlin-Friedrichshagen. Hier gab es Hühner und Kaninchen, die sie gut bewachte. Oma Berta kochte alles ein, was an Obst und Gemüse auf ihrer etwa 800 m’ großen Scholle wuchs. Ihr größtes Problem bestand jedoch darin, dass sie nicht immer genügend leere Einweckgläser oder keine Gummiringe vorrätig hatte, um dem Einkochen nachzukommen. Roland war ihr immer ein guter Abnehmer. Ihre Natur-Eierkuchen mit wenig Mehl sind ihm als besonders lecker in Erinnerung geblieben.

      Von ihren fünf Söhnen waren drei im Krieg gefallen. Der jüngste, Grundmann-Bruder Alfred, und der zweitälteste, Grundmann-Bruder Kurt, der sich noch in russischer Gefangenschaft befand, gaben ihr Hoffnung auf einen Lebensabend in Gemeinschaft. Ab 1947 gab es Briefkontakt mit ihrem Sohn Kurt. Als vom Schulgeld befreites Kind hatte der als einziger ihrer Söhne wegen besonders guter schulischer Leistungen das Gymnasium in Berlin Friedrichshagen absolvieren dürfen. Als Oberleutnant geriet er bei den Rückzugs-Kämpfen in der Ukraine in Gefangenschaft. Dem Grundmann-Bruder Kurt war Margot bereits damals in der Jugendgruppe besonders zugetan. Mit der Gefangenenpost, die Mutter Margot für Oma Berta und Grundmann-Bruder und Ehemann Alfred zu führen übernahm, flammte die Schwärmerei von damals wieder auf. Grundmann-Bruder Kurt hatte wohl einiges im Krieg erlebt und gesehen. Er kehrte im Frühjahr 1948, nunmehr 33-jährig, als ein von den Sowjets zum Kommunisten umerzogener Mann in sein in Trümmern liegendes Berlin zurück.

      Die Wochenendausflüge an den Müggelsee wurden neuerdings gemeinsam mit Onkel Horst und Traudchen, Onkel Gerhardt mit Frau Ilse, Grundmann-Bruder Alfred, Mutter Margot sowie Grundmann-Bruder Kurt unternommen. Der am häufigsten aufgesuchte Anlegeplatz für die Ausflugstruppe lag in der Nähe zur Badestelle Müggelsee-Teppich. Den Ausflüglern blieb nicht verborgen, dass sich zwischen Grundmann-Bruder Kurt und Mutter Margot etwas anzubahnen begann.

      Am 23. Juni 1948 gab es in den West-Sektoren von Berlin die Währungsunion, und am 26. Juni 1948 begann die Blockade West-Berlins durch die Sowjets. Zwei Tage später begannen die West-Alliierten die Versorgung der eigenen Truppen aus der Luft. Diese ging in die Vollversorgung der Bewohner ihrer Sektoren über. Als "Luftbrücke" ging diese Unternehmung in die Geschichte ein, derzufolge es gelang in einer nie dagewesenen Aktion über zwei Millionen Menschen aus der Luft am Leben zu halten.

      An der kargen Versorgung der Bevölkerung in den Ost-Berliner Bezirken änderte sich während der Blockade nichts, die weitere Versorgung schien allgemein gesichert. Vielmehr versuchte der Ost-Berliner Magistrat, die Bevölkerung West-Berlins damit zu locken, ihre Grundversorgung von Lebensmitteln und Brennstoffen aus Ost-Berlin zu sichern. Dazu hätten sich die Westberliner im Ostteil anmelden müssen. Moskau hat so versucht, dem weltweit erhobenen Vorwurf zu begegnen, es wolle die Menschen in Westberlin aushungern. Selbst im Angesicht des täglichen Bildes hungernder Familienangehöriger schlug die Bevölkerung West-Berlins aus Angst, so in den Einzugsbereich der Sowjets zu gelangen, überwiegend diese Verlockung aus. Die alte Losung „Lieber tot als rot“ erlebte Renaissance. Gerade einmal hunderttausend Westberliner haben bis März 1949 die "sowjetische Großzügigkeit" genutzt. Die Versorgungslage wurde von Woche zu Woche angespannter. Besonders der vorangegangene Winter, in dem viele Bürger in den Wohnungen verhungert und erfroren waren, ließ am Erfolg der „Luftbrücke“ zweifeln. Oma Else sagte einmal, wenn sie die CARE.- Pakete nicht erhalten hätten, wären sie entweder nicht durch den Hungerwinter 1946/47 oder nicht durch die Blockadezeit 1948/49 gekommen.

      In acht Monaten Blockadezeit wandelte sich das Ansehen der Westalliierten bei den Berlinern von Siegern über Besatzer bis hin zu befreundeten Schutzmächten. Dazu trugen beispielsweise abertausende meterhohe Bäume bei, die zu den eingeflogenen Gütern zählten. Selbige wurden im Tiergarten gepflanzt und knüpften an die Idylle der Deutschen an, in der Bäume und Wald ihre romantische Überhöhung hatten.

      In der Blockadezeit machte sich Mutter Margot oft mit Roland auf den Weg, um Eier, Kaninchenfleisch und Eingemachtes von Oma Berta aus Friedrichshagen nach Britz zu schaffen. Das war nicht ohne Risiko, denn die Kontrollen in der S-Bahn durch die unter kommunistischer Aufsicht Ostberlins stehende Bahn-Polizei (VOPO) dienten besonders dem Ziel, das Transportieren der Verpflegung von Ost nach West zu unterbinden.

      Auch die Bevölkerung in Ost-Berlin hatte Angst vor einem Rückzug der West-Alliierten aus Berlin. Die Vorbehalte, oft bis zum Hass gegenüber den Sowjets gesteigert, hatten die Bewohner in ganz Berlin verinnerlicht. Diese Einstellung war auch bei Mutter Margot verständlicherweise tief verankert. Sie ging mit Roland auf der Hauptstraße von Friedrichshagen immer beim selben Bäcker einkaufen. Für den war das stets ein spannendes Erlebnis.

      Vor dem Bedienungstresen befand sich ein im Terrazzo-Fußboden eingelassener Fußabtreter aus längs verlaufenden Holzstreben. Die Bäckersfrau kannte Oma Berta, und der freundschaftliche Kontakt zwischen den beiden Frauen ging auf Mutter Margot, vor allem aber auf Roland über. So durfte der vor den Augen aller Kunden immer versuchen, mit seinen kleinen Fingern die zwischen den Rost des engen Gitters gefallenen Schnipsel von Lebensmittelkartenabschnitten herauszufriemeln. Wenn es ihm gelang, bekam er von der Bäckersfrau prompt ein kleines Stück Kuchenrand.

      Einmal, sie hatten gerade den Einkauf erledigt und warteten auf die Straßenbahn, bekam er den Stolz von Mutter Margot und ihre Wut auf die Sowjet-Russen schmerzlich zu spüren.

      Mutter Margot stand mit anderen deutschen Frauen, ihn an der Hand, auf dem Bürgersteig und wartete auf die Straßenbahn. Neben den Schienen gab es zwischen der Fahrbahn und dem Bürgersteig eine Verkehrsinsel. Auf der Verkehrsinsel