Wohnhaus liegenden kleinen Wäldchen war es bei Strafe durch die russische Kommandantur verboten, von den letzten Bäumen Äste abzusägen. Gefällt werden durften sie schon gar nicht. Mutter Margot fuhr mit Roland in Richtung Erkner. In den dortigen Wäldern sammelten sie Kienäpfel, die etwa fünf bis zehn Zentimeter großen Zapfen der Waldkiefer. Ein großer Rucksack und eine Tasche waren stets ihr Gepäck, und ein weiterer kleiner Rucksack befand sich auf Rolands Schultern. Nicht nur über die Hilfe beim Tragen der Kienäpfel hat er zur Beheizung der Dachwohnung beigetragen.
In Richtung Friedrichshagen-Markt führte eine Straßenbahnlinie an Rolands Wohnhaus vorbei. Daneben verlief eine mit Granit-Kopfstein befestigte Straße. Über diese Straße transportierten die Sowjets auf Fuhrwerken, die meist noch einen zusätzlichen Anhänger hatten und mit Pferden bespannt oder von einem Traktor gezogen wurden, Kohle in ihre Garnison. Roland lief mit den Jungen aus der Nachbarschaft neben den Fuhrwerken her, und sie versuchten – meist besonders erfolgreich, wenn es sich um ein Pferdegespann handelte – mit langen Stöcken in die hoch geladenen Kohle zu stochern, damit seitwärts die Stücke herunterfielen. Das ging bestenfalls über eine Strecke von fast hundert Metern. Dann galt es, schnell die Beute zu sichern, bevor vorbeikommende Erwachsene die Kohle aufsammeln konnten. Die sowjetischen Soldaten waren nicht von Hause aus kinderfeindlich, aber durch Geschrei, Drohungen mit dem Trommelgewehr und Peitschenhiebe verteidigen sie ihre Ladung. Wohl aus diesem Grund saßen manchmal gleich zwei Soldaten auf dem Fahrbock. Die verfeinerte Methode, Kohle von den Wagen direkt in ihrer Klaustrecke fallenzulassen, sah so aus:
Die älteren Jungen hievten Roland als den Kleinsten auf den Wagen. Der größte und kräftigste Klaukamerad nahm ihn auf die Schultern und rannte von hinten, außerhalb des Sichtbereichs des Fahrers, an den letzten Wagen heran. Roland zog sich über den Wagenrand und stieß sich über die Schulter seines Trägers nach oben ab. Jetzt musste er ganz schnell mit Händen und Füßen die Kohle über den Rand schieben. Wenn ihn die meist betrunkenen Ivans erblickt hatten, reagierten sie mitunter, als stünden sie unter Feindangriff. Durch abruptes Bremsen und Beschleunigen des Traktors versuchten sie Roland vom Wagen zu schütteln. Bei einem Pferdegespann traf ihn einmal eine Peitsche voll am Bein. Er verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe auf das Pflaster der Fahrbahnseite gestürzt.
Geistesgegenwärtig sprang er einen nebenherlaufenden Klaukameraden an. Der federte den Fall ab. Kontrolliert ging sein Abgang von oben so vonstatten wie der Sprung auf's Bett. Er sprang in die ausgestreckten Arme der eng zusammenstehenden Mitstreiter auf der Bürgersteigseite, deren Körper ihm die Matratze bildeten. So fielen dann alle durcheinander und trollten sich unverletzt in Richtung der auf der Fahrbahn verstreuten Kohlestücke. Die Aufteilung der Beute war nicht gerecht. Das begriff Roland aber erst später. Er war erst einmal mit dem Lob zufrieden, welches er von den Großen hörte. Als Beuteanteil bekam er nur ein oder zwei Kohlestücke. Das war immerhin schon etwas, und Mutter Margot und Grundmann-Bruder Alfred freuten sich über seine Mitbringsel. Roland erklärte die Gaben zu gesammelten Fundstücken vom Straßenrand, selbst wenn sich diese im Laufe der Zeit bis zu mehreren vollen Eimern steigerten. Die Kohlenklau-Aktionen unternahmen die Jungs ziemlich regelmäßig, und zwar mit zunehmender Raffinesse. So hielten sie Steine am Straßenrand bereit, die sie vor die rollenden Räder schoben. Beim Überrollen wurde das Gefährt dermaßen durchgerüttelt, dass die Kohlenstücke nur so herunterkullerten. Irgendwann reklamierte Roland dann gegenüber seinen größeren Klaukameraden die ungerechte Aufteilung und forderte von nun an, nicht mehr auf den Wagen klettern zu wollen, sondern wie sie ja auch, nur noch die Kohle aufzusammeln. Ob das den Ausschlag gab oder nicht - auf jeden Fall wurde im Verlaufe der Klauaktionen die Beute gerechter aufgeteilt.
Roland hatte in dieser Zeit noch eine weitere ertragreiche Unternehmung.
Der gesamte Spree-Verlauf an der Hahnsmühle wimmelte von Krebsen. Dass man Krebse essen konnte, und wie sie schmeckten, hatte er von Grundmann-Bruder Alfred erfahren. Wenn sie nämlich mit der Segeljolle abends ins Schilf glitten, um in Ufernähe zu kampieren, hatte dieser oft zum Abendessen ein paar Krebse gefangen. Die Krebse wurden dann in das über offenem Feuer kochende Flusswasser geworfen. Nach wenigen Minuten waren sie knallrot, also gar. Hinter dem Kopfpanzer wurden sie gebrochen und auseinandergezogen. Danach puhlte man den essbaren Teil, Schwanz und Scheren, aus der Chinin-Panzerung und zusammen mit Kartoffeln, Brot oder Nudeln war die Mahlzeit fertig. Krebse wurden von den Anglern, die an den Uferböschungen saßen und Köder auswarfen, nicht beachtet. Krebse zu fangen war ja auch eher etwas für flinke Jäger. In der Segler-Vereinskneipe neben dem Haus hatte Roland beobachtet, dass Krebse, die zum gelegentlichen Angebot des Wirtes gehörten, von den Seglern geschätzte Leckerbissen waren. Um Fassbrause trinken zu können so viel er wollte, musste er Krebse fangen, das war seine Idee. Er fing an im klassischen Stil zu jagen, so wie er es bei Grundmann-Bruder Alfred gesehen hatte. Ein ca. ein Meter langer Stock war auf etwa zehn Zentimeter an der einen Seite eingeschnitten und am Ende des Schnittes durch einen quer eingelegten Zweig, der als Spaltkeil diente, begrenzt. Der sich am unteren Ende des Zweiges ergebende Zwischenraum war breit genug, um über den Panzer des Krebses gedrückt zu werden. War der Krebs in den Schenkeln des breit gestellten Keils eingeklemmt, konnte er aus dem Wasser gehoben werden. Weil sich die Krebse das aber nicht so einfach gefallen ließen und durch Zusammenkrümmen und katapultartiges Zurückschnellen ihres Schwanzes in größeren Sprüngen flüchteten, stellte Roland auf Handergreifung um. Diese Methode war auch nicht erfolgreicher, weil wie zuvor immer nur ein Krebs beobachtet und gefangen werden konnte. Im Schlamm setzte Roland Fuß vor Fuß, dabei den Krebs und seine erwartete Fluchtrichtung im Blick. Das Aufwühlen des Schlamms war das Ergebnis jeder Attacke. Andere Krebse schreckten hoch und waren dann, nicht mehr in ihrer Ruhestellung, nur schwer zu fangen.
Roland kam also auf die Idee, die Krebsjagd zu "industrialisieren". Es gab Bausteine aus Ziegeln, die von zwei Röhren durchzogen waren. Von diesen Ziegelsteinen legte er unter den Bootsstegen immer zwei Steine übereinander und einige nebeneinander. Die Steine griff er dann später so, dass er mit den Händen beide Enden abdeckte. So hob er Stein für Stein aus dem Wasser, und schüttete sie auf dem Steg aus. Manchmal kamen gleich zwei Krebse aus einem Stein. Es dauerte nicht lange, bis er einen 5-Liter-Eimer mit Krebsen gefüllt hatte. Diese Jagdbeute präsentierte Roland dem Kneipenwirt und nahm neben Lob und Dank ein, zwei oder drei große Glas Fassbrause entgegen. Für den familiären Krebs-Eigenverzehr sorgte er auch vor. Er aß damals wohl zu viele Krebse, sodass er in späteren Jahren keine mehr essen mochte. So ging es ihm auch mit Krabben und Garnelen. Eine Szene in Verbindung zu der Krebsjagd war ihm noch im neuen Jahrtausend im Gedächtnis.
Es war Frühjahr, letzte Eisschollen spiegelten sich wie schwimmende Glasscherben, wenn Wellen das Wasser bewegten. Mutter Margot wollte mit ihm die Verwandten in Westberlin besuchen. Roland freute sich seit Tagen auf diesen Ausflug und war schon frühzeitig komplett, fertig angezogen und gestriegelt. Besonders stolz war er auf seine neuen schwarzen, halbhohen Lederschuhe, die Mutter Margot mit ihm tags zuvor auf Bezugsschein im Laden abgeholt hatte. Auch seine ständige Tageshose, eine Art von Trainingshose, war gegen eine neue, gebügelte, lange schwarze Hose ausgetauscht worden. Bei Mutter Margot dauerte die Reisevorbereitung noch an. Was lag da näher, als sich eventuell anzutreffenden Nachbarn oder Spielkameraden im neuen Staat zu zeigen. Er ging also mit Mutter Margots Genehmigung vor, hinunter vor die Tür. Niemand nahm von ihm Notiz. Na, wenn schon keiner da war, dann interessierten ihn eben die Krebse seiner Kolonie. Gedacht, getan, er also auf den Bootssteg. Auf dem Bauch liegend beugte er sich vor, um in den Röhren nach Krebsen Ausschau zu halten. Dann passierte es. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste ins kalte Wasser. Sofort war er wieder auf dem Steg. Er war sich der Reaktion seiner Mutter sicher, wenn die das Malheur wahrnehmen sollte. Die beste Möglichkeit, ihrem zu erwartenden Wutanfall zu entgehen, sah er darin, ihr die Nässe zu verschweigen. So gut er konnte, wrang er das Wasser aus und kniff die Bügelfalte in Fasson. Mutter trat aus dem Haus:
„Wir sind spät dran, aber die Straßenbahn kommt ja gleich.“
Vor ihm stehend erkannte sie sofort, was mit Rolands Kleidung passiert war. Seine Hose dampfte und Mutter Margot konnte ihm ansehen, dass es ihm kalt, bitterkalt war. Wie erwartet gab es ein Riesengeschrei und Backpfeifen links, rechts. Roland hatte ihr die Freude genommen, mit ihm an der Hand in Straßen- und S-Bahn und natürlich vor den Verwandten ein bisschen Eindruck zu machen. Rückmarsch nach oben! Schuhe und Strümpfe ausziehen, Hosen, Unterhosen runter. Strafkleidung