Den Verband nimm ab, wenn ihr gegessen habt und ich noch nicht da sein sollte. Jetzt hau ab - ich beobachte alles.“
„Rudi, hab Dank und Jott befohln - bis gleich. Is ja nich so uffrejend, een paar Meter über dir is´n flacher Laufgraben bis zu uns.“
Eispickel robbte nach einem prüfenden Rundumblick aus der Mulde. Dann sprang er auf und verschwand unmittelbar aus Opa Rudolfs Blickfeld. Die Umgebung blieb ruhig.
Opa Rudolf wollte nichts durch hastiges Handeln gefährden Er registrierte öfter Schüsse in der Nähe des Brückenüberganges. Am Ufer gab es kleinen Grenzverkehr - raus aus der Stadt. Personen schickten sich an, schwimmend das andere Ufer zu erreichen. Jede dieser fremden Initiativen in seiner Nähe verzögerte seinen Wechsel zu Eispickel und Egon. Dann war mal weit und breit Ruhe. Er sprang in den Graben, vergewisserte sich des Geländes und lief gebückt bis in den befestigten Verbau. Der maß etwa zweieinhalb Meter im Quadrat. Er sah Egon, der auf einer Zeltplanen lag – eine zweite auf ihm.
„Rudi? Dich schickt der Himmel!“
Schon beim ersten Blick auf Egon war Opa Rudolf klar:
Eispickels Überfallaktion war die reine Verzweiflung, seinen Freund zu retten. Egons Gesicht, soweit unter einem nassen Tuch sichtbar, war kalkweiß.
„Eispickel, geh Wasser holen, sieh dich vor, danach hältst du draußen Wache. Ich kümmere mich.“
„Na denn sieh mal zu, wie et mit mir steht, fühle mich auf deutsch jesacht, beschissen. Die Wunde iset nich - die Hüfte, ick jlobe die Nieren, denn pinkeln jeht och nich. Die Tabletten ham aba geholfen.“
„Jetzt mal ruhig! Mund auf, hier das Thermometer, beiß nicht drauf!“
Opa Rudolf fühlte Egons Puls. Der war schnell und unregelmäßig.
Böse Vorahnungen schienen sich zu bestätigen - über 39° Fieber!
„Trink!“
Opa Rudi setzte ihm die Flasche an die fiebrigen Lippen. Egon saugte schwach, und das Wasser sabberte seitlich vorbei.
„Wie hat denn meine Verpflegung geschmeckt?“
„Hab keen Hunger. Nach die ersten Kekse wollt ick kotzen, hab aba nich!“
Ohne weiteren Kommentar machte sich Rudi an das Öffnen des Verbandes, der in Wadenhöhe beginnend bis zum Knie reichte. Was da zum Vorschein kam, war übel:
Die Schienbeinseite mit verkohlten Wundrändern, mosaikartige Fetzen aus Stoff oder Gewebe, verdreckt. Die Wade war aufgedunsen und sah aus wie ein gelber Butterklumpen.
„Wie ist das denn passiert?“
„Ick lieje neben eem Kameradn, da drückt der ne Panzerfaust ab. Der Rückstrahl aus dem Rohr varbrennt mir det Been. Lagen denn unta Beschuss, er tödlich jetroffen, ick bin de Steene runtajerutscht und bis uffn Vabandsplatz jehumpelt. Da hats bloss so jewimmelt, war allet in Ufflösung. Hab noch jans schnell den Verband jekricht. Det war vor fünf Tage. Da hab ick och Eispickel jetroffn.“
Das Sprechen fiel Egon schwer, aber er wollte unbedingt noch etwas loswerden.
„Übrigens Rudi, dein Bruder Ernst war ooch uffn Hermannplatz. Da issa den Russen in de Hände jefalln. Hab jesehn, wie sen zusamm mit valleicht zehn Mann abjeführt ham in Richtung Britz.“
„Na, ist ja zumindest gut zu hören, dass die überhaupt Gefangene gemacht haben.“
Später wurde berichtet, man hätte Ernst in einer Kolonne von Gefangenen an Hand seiner Prothese ausmachen können, als diese durch den Ort in Richtung Buckow geführt wurden. Mehr hat man nie über seinen Verbleib in Erfahrung bringen können.
Opa Rudolf, alter Sanitätshase, wusste über Egons Zustand genug:
„Egon, jetzt gebe ich dir eine Spritze, und wenn Eispickel wieder da ist, rühren wir dir nachher noch Tabletten an. Die Wunde verbinde ich jetzt nicht. Decke sie nur mit Mullstreifen ab, damit Luft ran kommt. Wenn alles gut geht, machen wir heute Nacht rüber.“
„Sicha, ick werd loofen, hab kaum noch Schmerzen.“
Egon wusste nicht, dass er gleich in Träume versinken würde.
Er dämmerte vor sich hin, als Eispickel wieder da war.
Mit einem seitlichen Kopfnicken deutete Opa Rudolf dem neben ihm stehenden Eispickel, dass er ihn draußen sprechen müsste. Sie flüsterten.
„Eispickel, wäre ein Wunder, wenn Egon das schafft! Klassische Blutvergiftung – Endstadium, müssen wir hinnehmen. Hat jetzt Opium gekriegt. Wenn er klar werden sollte, rühre ich noch zwei Tabletten an. Tut mir leid!“
„Wat für ne Tragik, in Sichtweite von seine Irmgard so zu krepieren!“
Sie saßen stundenlang neben dem mit dem Tode ringenden Kameraden und lauschten. Das unregelmäßige Aufbäumen seiner Atmung ließ sie immer auf der Hut sein einzugreifen, wenn die in Stöhnen übergehende Atmung laut zu werden drohte. Dabei horchten sie auch auf jedes Geräusch neben dem Unterstand. Opa Rudolf fühlte immer wieder einmal den Puls, und Eispickel wechselte wie in Trance ständig die nassen Mulllappen auf Egons Stirn und betupfte dessen trockene, fieberrissige Lippen. Es war noch nicht dunkel, als Egons Kopf zur Seite kippte und Opa Rudolf dessen Tod feststellte.
Eispickel nahm Egons Erkennungsmarke, Soldbuch, Armbanduhr und den Ehering an sich.
„Kannste wat mit seine Pistole anfangen?,“ fragte er Opa Rudolf „Nein, habe ich selber!“
„Is ejal, dann hab ick eben zwee.“
Sie legten Egons Leichnam, mit den Zeltplanen bedeckt, mitten in den Unterstand. Es sah aus, als läge er in seiner eigenen Gruft. In Anbetracht dieses Bildes summten sie die Melodie:
„Ich hat einen Kameraden - einen bessren findst du nicht…..“
„Wenn seine Irmgard lebt, sagen wa ihr, wo Egon liecht, vielleicht kann`sen holen“, meinte Eispickel
Bis zu dieser abschließenden Bemerkung hatten sich Eispickel und Opa Rudolf nur in Gedanken mit Egon beschäftigt. Jetzt ging es um die vor ihnen liegende Kanalüberquerung.
„Den Kahn hamwa umjedreht, und ick hab jedn Tach wat oben druff geschmissen. Ob der dicht is, wees ick nich. Paddel jibt it in Form von zwee Feldspaten. Hab ick ooch jefundn!“
Sie warteten, bis es richtig dunkel war.
„Los, Eispickel, Sprung auf Marsch, Marsch – du zuerst, ich sichere.“
Er bemerkte zunächst gar nicht, dass sie schon vor dem umgedrehten Kahn angekommen waren. Opa Rudolf legte seinen Rucksack ab – hell, allzu hell leuchtete das Rote Kreuz – und trug ihn zusammen mit den Klappspaten ans Ufer. Geräuschlos war die Abdeckung des kleinen Bootes nicht möglich. Als sie im Begriff waren, sie anzuheben, stand wie aus dem Nichts die Silhouette einer Person zwischen ihnen. Ein Mann, beide Hände in den Taschen eines schwarzen Ledermantels, der ohne Schulterstücke war. Der Kragen war hochgeschlagen, die Schirmmütze ließ den Offizier erkennen.
„Kameraden, kein Theater, ich will mit!“
Egon hatte die Situation sofort erfasst:
„Fass an! Wenn der Kahn dicht is, kannste mit.“
„Keine Sorge, Kamerad, die zwanzig Meter schafft der Kahn auch mit Wasser!“
Opa Rudolf sah, wie der Neue seine in dunklen Handschuhen steckenden Hände herausnahm. Ohne weiteres bückte der sich und sagte:
„Bei Drei - Eins Zwei Drei!“
Den Kahn mit den Händen krallend, rannten sie ans Wasser. Jetzt musste es schnell gehen. Egon hielt den Kahn in der Balance. Ohne zu zögern sprang der Offizier zuerst in den Kahn, dann Opa Rudolf. Egon stieß, zwei Schritte ins Wasser laufend, den Kahn ab, bevor er sich, bis zu den Knien nass, von seitwärts hinten über die Bordkante herein drehte. Der Offizier saß im Bug des Bootes, mit wachem Blick auf das gegenüberliegende Ufer. In der am Bootsrand aufgelegten