Die gesprengte Chaussee-Straßen-Brücke hielt den weiteren Vormarsch der Sowjetrussen in Richtung Zentrum für kurze Zeit auf. Von der Kreuzung weg wurde der Russen-Tross direkt hinter die erste, nur noch teilweise stehende Häuserzeile gegenüber Rolands Haus auf das Gelände des zentralen Straßenbahnhofs geleitet. Die Hallen und ihre Dächer waren zerschossen. Hier, Schutz suchend zwischen den Waggon-Gerippen, hatten die Verteidiger den Sturmeinheiten Mann gegen Mann Widerstand geleistet.
Die russische Walze stoppte vor der gesprengten Chaussee-Brücke. Es mussten Übersetzmittel (Pontons) herangeführt werden, um den Kanal zu überqueren. Bataillone, die die Kreuzung und die sie umgebenden Wohnblöcke schon passiert hatten, fluteten zurück und weitere Einheiten rückten ein. Die nun zum Stehen gekommene Sowjet-Truppe tobte sich in Britz aus.
In Rolands Luftschutzkeller hatten inzwischen der Zahnarzt, dessen Mutter, seine Frau und die Hausangestellte aus Angst vor den bekannt gewordenen Exzessen der Roten Armee in den von ihnen eingenommenen Gebieten mittels Tabletten Selbstmord begangen. Ihre Leichen sind von Hausbewohnern die Kellertreppe hinaufgetragen und im Hof abgelegt worden. Die Männer hatten, in den Keller zurückgekehrt, noch nicht wieder ihre Plätze eingenommen, als asiatisch aussehende Soldaten die Kellertür aufbrachen. Sie leuchteten die Räume aus, schrien nach möglicherweise anwesenden Soldaten und forderten auf, sich zu zeigen und zu ergeben. Sie stöberten unter den Metallbetten, zerrten Vorhänge weg, brachen Truhen und Kisten auf und verstreuten ihren Inhalt. In Rolands Keller gab es keine deutschen Soldaten. Nach diesem Intermezzo suchten die Sowjets hastig jede Person nach Wertgegenständen ab. „Uhri, Uhri“ - alle wurden ihre Uhren los. Halsketten wurden einfach abgerissen, Ringe schmerzhaft von den Fingern gezerrt. Im Nachhinein stellten einige der ausgeraubten und gedemütigten Kellerinsassen fest, dass ihnen schlichte Eheringe belassen worden waren. Der ersten Gruppe folgten weitere. Während die einen noch ihre Gier nach Gold und Pretiosen befriedigten, stießen andere mehrere Frauen die Kellertreppe hinauf. Widerstrebende begleiteten Gebrüll und Schläge mit dem Gewehrkolben. Die anwesenden alten Männer der ehemaligen Luftschutztruppe hatten auch ihre Helme bei den Uniformen zuvor auf dem Hof versteckt. Sie hielten ihre Frauen fest, aber ansonsten mussten sie dem Geschehen ohne Widerstand seinen Lauf lassen.
Nachdem erst einmal wieder Ruhe im Haus herrschte, gingen die verbliebenen alten Männer und Onkel Horst zum Nachschauen nach oben. Ihnen bot sich ein grauenvolles Bild. Die Leiche der Ehefrau des Zahnarztes, die zuvor auf den Hof gelegt worden war, lag nunmehr mit hochgeschlagenem Kleid und zerrissener Unterwäsche auf den Treppenstufen des Hausflurs. Die aus dem Keller weggeführten Frauen kauerten geschändet und weinend in den leerstehenden Wohnungen. Von diesen Ereignissen behielt Roland nur die auf der Kellertreppe herunterkommenden Soldaten in Erinnerung.
Es kamen erneut Rotarmisten in den Keller. Neben der Tür saß aus alter Gewohnheit wie zu Luftschutzzeiten zur Beruhigung der Kellerbewohner der ehemalige Luftschutzwart. Da die Tür nicht mehr zu verschließen war, weil die stürmenden Russen den Schlosszapfen aus dem Türrahmen getreten hatten, wurde nun ein Holzkeil als Verriegelung benutzt. Das war für die wieder erschienenen Russen kein Hindernis. Sie hatten es auf die Frauen abgesehen. Mutter Margot mit Roland auf dem Arm hatte sich wie die übrigen Frauen im Keller auch verkleidet, auf hässlich und alt geschminkt und sah dreckig aus. War alles zwecklos! Roland blieb im Kinderbett zurück.
„Frau komm, Frau komm!“
Margot, Else und andere Frauen sind, wie tags zuvor in den leerstehenden Wohnungen im Haus, alle vergewaltigt worden. Für einige von ihnen war das der zweite Exzess!
Es bestand kein Telefonkontakt mehr vom Wohnhaus zu Opa Rudolf. Der kümmerte sich mit Kameraden verschiedener Waffengattungen um verwundete Soldaten und Zivilisten in einer zentralen Sanitätsstelle im zweiten Untergeschoss am Hermannplatz, etwa vier Kilometer Luftlinie vom Wohnhaus entfernt.
Ein großes Labyrinth verband das dortige Karstadt-Kaufhaus mit der U-Bahn. Jetzt lagen zwischen ihm und der Familie die Russen. Hätte ihn das Schicksal die Gewalt gegenüber den Frauen mitansehen lassen, wäre er aufopfernd vor Frau und Tochter getreten. Vielleicht hätte er einen oder zwei von diesen enthemmten Untermenschen in den Tod geschickt, bevor ihn selbst eine Garbe aus dem Trommelgewehr niedergestreckt hätte. Else und Margot wären danach trotzdem vergewaltigt worden, und der Exzess hätte sicher noch weitere Opfer unter den Kellerinsassen gefordert.
Opa Rudolfs Überblick der Lage ergab sich aus den Berichten der Eingelieferten. Es musste ihm wie ein Film aus einem anderen Leben vorgekommen sein, wenn er daran dachte, was für ein Gaudi es gewesen war, mit der Familie Ausflug und Einkaufen im Kaufhaus Karstadt miteinander zu verbinden. Wie war das schön, Bruder Ernst hatte den Laden offen gehalten und ermöglichte der Familie das Einkaufserlebnis im modernsten Kaufhaus Europas. Die Karstadt-Silhouette, das war Amerika-Architektur im Art-Deko-Stil in Neukölln. Zwei riesige Türme, 32 Meter hoch, mit einem Dachgarten für hunderte Menschen, die dort nachmittags bei Musik schwofen konnten….
Jetzt sah er schreckliches Leid, dem er inzwischen mehr funktionierend als anteilnehmend gegenüberstand. Diejenigen, die man ins zweite Untergeschoss bugsierte, hatten Überlebenschancen, weil sie bereits erstversorgt waren. Es gab zu wenig Tragen und Betten. Neuzugänge legte man dicht nebeneinander auf dünnen Matratzen oder Planen ab. Platz gab es kaum, Hygiene gab es eigentlich keine. Verstorbene wurden wieder nach oben in den hinteren Hof gebracht, wenn der mal nicht unter Beschuss stand. Verpflegung und Hilfsmittel für die Erstversorgung der Verwundeten gab es genug. Die Ärzte und Schwestern handelten, genau wie er und seine Kameraden, hart an ihrer physischen Grenze.
Am Vormittag des 27. April ging der Kampf in der Nachbarschaft zum Haupt-Verbandsplatz zu Ende. Das Rathaus Neukölln war gefallen. Nach dreitägigem Kampf, verteidigt von Waffen-SS, Volkssturm und von der französischen Waffen-SS-Division „Charlemagne“, noch jahrzehntelang von den Einheimischen heroisiert, war es von den Russen eingenommen worden. Die Verteidiger hatten noch Karstadt samt seiner Türme gesprengt, weil sie die riesigen im Komplex gelagerten Lebensmittel nicht in die Hände der Eroberer fallen lassen wollten. Das zuvor das Stadtbild prägende Kaufhaus war eine Ruine. Der unmittelbare schwere Kampflärm hatte sich in einzelne MP-Salven und Einzelfeuer gewandelt.
Opa Rudolf wollte, so nahe an Zuhause, weder den Heldentod sterben, noch in Gefangenschaft geraten. Mit drei Kameraden, die auch aus Berlin und Umgebung stammten, hatte er Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass sie nicht, wie über Radio aus dem Oberkommando der Wehrmacht hoffnungsvoll gemeldet, von der Armee Wenck entsetzt werden sollten. Sich früher abzusetzen wäre Desertieren gewesen. Das wollten sie nicht. Sollten sie von den Russen überrollt werden, hatten sie vor, zunächst auf Tauchstation zu gehen. In den Katakomben des unterkellerten Hermannplatzes hatten sie einen kleinen Raum, von dem ein Lüftungsschacht mit Leitereisen an die Oberfläche führte und der von Fremden kaum entdeckt werden dürfte, für einen Aufenthalt von zwei bis drei Tagen vorbereitet. Kaltverpflegung, Decken, Planen, Metallkübel als Toilette sowie die persönliche Fluchtausrüstung, wozu auch Zigaretten gehörten, hatte jeder von ihnen in einem Rotkreuz-Rucksack zusammen mit Zivilkleidung deponiert.
„Die sind oben drin, lass uns verschwinden!“, zischte einer der Eingeweihten.
Bis hierhin hatten sie sich um die Verwundeten gekümmert. Die letzten Minuten waren Opa Rudolfs schwerste Prüfung seines Lebens. Er hatte reichlich Medikamente und Verbandsmaterial an die Leidenden verteilt. Mit den Empfängern war er sich bewusst, dass dies der letzte Dienst war, bevor der Feind da sein würde. Ein Wlassow-Russe in schwarzer Uniformhose bat, er möge ihm doch unbedingt eine Pistole besorgen, er dürfe nicht lebend in die Hände der Bolschewiken fallen. Opa Rudolf gab ihm seine eigene. Diese Geste brachte den Beschenkten zum Weinen.
„Neben dem Kopf liegt meine zusammengerollte Uniformjacke, greif in die Brusttasche!“
Opa Rudolf zog eine goldene Kette mit einem Amulett „Jesus am Kreuz“ aus der Jacke. Der Verwundete führte es zum Mund und küsste es. Durch seinen Brustverband gehindert, deutete er an, Opa Rudolf mit dem Kreuz zu segnen.
„Nimm das, möge es dich schützen, Kamerad!“
Er nahm das Kreuz. Nur einen kurzen Händedruck und ein „Gott mit dir, Kamerad“ brachte er fertig - mehr nicht.
Schnell lief er im Saal zur Nische