zu sprechen:
„Rudolf, dir als Christ und Kamerad empfehle ich meinen Kollegen. Mit Doktor WORONOWSKI erhält deine Familie einen wirklich kompetenten Arzt, wenn ich weg bin. Der Mann war wie wir im Feld. Jetzt braucht er neue Patienten, denn er ist Halbjude. Seine Praxis läuft nicht besonders.“
So wurde Dr. Woronowski neuer Hausarzt für Rudolfs Familie. Irgendwann gab es diesen Halbjuden auch nicht mehr, und an seine Stelle trat Herr ARNHEIM, ein „Vierteljude“, der bis in die Nachkriegsjahre Hausarzt der Familie blieb.
Bei Kriegsausbruch 1939 wurde Rudolf nicht eingezogen. Die Annahme, der Krieg würde kurz und siegreich sein, hielt seinen Jahrgang 1896 nicht vonnöten.
Rolands Mutter Margot hatte die Städtische Handelsschule in Berlin-Neukölln abgeschlossen und erhielt ab 1940 bei den Telefon- und Telegraphenwerken die Ausbildung zur Stenotypistin. Gleichzeitig wurde sie als Fernmeldepersonal für den Luftschutz ausgebildet. In der elterlichen Samenhandlung half sie wochentags, wie es ihre Zeit zuließ oder der Betrieb es erforderte. Die Wochenenden verbrachte sie mit einer Jugendgruppe, die sich überwiegend in Friedrichshagen traf. Ursprünglich hatten sich die Mitglieder in der nationalsozialistischen Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ kennengelernt. Aus diesen meist groß organisierten Zusammenkünften schälte sich die Gruppe heraus, zu der Margot zählte. Sie entsprach dem damals idealisierten Frauenbild einer Marlene Dietrich, mit dem kleinen Unterschied, dass sie blond war. Wenn Marlene sang: „… ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt….“ war Margot eher die sinnlich-herbe Ausgabe. Sie trug eine Brille, die mehr der Vorsorge galt, dass eine festgestellte Sehschwäche sich nicht verschlechtern möge. Die Gläser waren kaum geschliffen, und zusammen mit dem Gestell wurden dadurch ihre blaugrauen Augen betont. In der Komposition mit ihren blonden Haaren bekam ihr Gesichtsausdruck etwas vornehm Unnahbares.
Die Gemeinschaft machte Ausflüge, damals natürlich zeitlich streng limitiert, ohne außerhäusliche Übernachtungen. Sie feierten Geburtstage, besuchten Filmvorführungen, Varieté, Theater und segelten mit einem Kajütboot und mit einer Jolle auf dem Müggelsee. Besondere Freundschaft schloss Margot in der Gruppe mit den Grundmann-Brüdern, von denen Kurt ein guter Segler war. Er hatte vor Kriegsausbruch Podiumsplätze bei den Müggelsee-Wettfahrten belegt. Von den fünf Grundmann-Brüdern dienten vier schon in der Wehrmacht. Der fünfte und jüngste, Alfred, wurde als letzter Spross der Familie nicht zu den Waffen gerufen. Es war zu erwarten, dass Margot sich in einen aus dieser Gruppe verlieben und heiraten würde. Nichts war verinnerlicht, was einem Grundmann-Bruder den Vorzug vor den anderen gegeben hätte. Mit 19 Jahren war Margot noch nicht volljährig und stand unter der strengen häuslichen Aufsicht von Vater Rudolf und Mutter Else.
Der Kriegsausbruch kam schneller, als die Liebe wachsen konnte. Schnell wandelten sich längere Aufenthalte der Brüder bei der Truppe zum ständigen Kriegseinsatz. Mit keinem von ihnen gab es ein Treue-Warte-Versprechen.
Es kam also anders und ging ganz schnell.
Ein junger Mann in Lufthansa-Uniform erschien als Kunde in Vaters Laden, stellte der Margot einige Wochen formvollendet nach und gewann ihr Herz. Der Kavalier hieß Karl. Er war Funker und Navigator bei der Lufthansa. Von den Eltern akzeptiert, wurde zu Weihnachten 1941 Verlobung gefeiert.
Es begab sich am 20. April 1942 - Karl diente inzwischen in der Luftwaffe - als Margots Eltern bereits nachmittags mit dem Sohn Horst aufbrachen, um "Führers Geburtstag", feiern zu gehen. Die Wohnung war sozusagen „sturmfrei“, und Karl nahm Margot an diesem Tage ihre jugendliche Reinheit. Die galt es damals eigentlich bis zum Ehegelöbnis zu bewahren.
Karl hatte Feindflüge durchlebt. Sie flogen „……gegen Engeland! …. ran an den Feind, ran an den Feind - …Bomben auf Engeland …“, so tönte die Marschmelodie durch die Kanzel, wenn sie sich über sicherem Gebiet befanden. Karl war als Funker und Navigator dabei. Wenn die eigenen Begleitjäger die Bomber verlassen mussten, weil ihre Eindringtiefe nur geringe Spritreserven für einen Luftkampf ließ, erlebte er den Feind, die Royal Air Force (RAF). Die RAF-Piloten, ständig durch freiwillige Tschechen und Polen aufgefüllt, handelten mit todesmutiger Kampfmoral.
Seine Sehnsucht nach Familie im Frieden wurde von den Erlebnissen in aufopfernden Kampfeinsätzen gespeist. Dass Gottvertrauen keine Lebensversicherung ist, zeigte der Blutzoll, den seine Staffel bereits erbringen musste. Der Lebenswille forderte ihm ab, etwas Unauslöschliches zu schaffen bzw. zu hinterlassen. Seine Sehnsucht nach einem eigenen Kind, was in dem gerade werdenden „Tausendjährigen Reich" glücklich würde aufwachsen können – ließ ihn tun, wie er es tat. Er fühlte sich reif und für den Zeugungsakt mit seiner geliebten Margot auserkoren. Den Schritt Margots vom Mädchen zur Frau vollzog Karl „blank“. Ob es gleich der erste Schuss war, oder der zweite, der seine Spermien zielgenau beförderte, mag der Schöpfer wissen. Nach dem Duschen gab es jedenfalls kein langes Verweilen für einen dritten, denn die Führer-Geburtstagsfeier war schließlich keine Nachtveranstaltung – jeden Moment konnten Margots Eltern zurück sein.
Karl entsprach Margots Vorstellung von einem Familienhäuptling. Sie sah sich als eine liebevolle deutsche Frau und Mutter an seiner Seite. Artig, aber auch stolz darauf, eine Frau zu sein, vertraute sie ihrer Mutter an:
„Mutti, ich bin überfällig!“
Vater Rudolf haderte mit dem Unabänderlichen dieser Neuigkeit. Unterschwellig wurmte ihn, von etwas Wichtigem ausgeschlossen gewesen zu sein. Er versuchte noch, das Wann und Wo zu erfragen, aber irgendwie ging ihm ein Licht auf. Er erinnerte sich der Ausflüchte Margots, nicht mit Karl zur Führergeburtstagsfeier mitkommen zu können. Seinem Stande schuldig, reagierte er pragmatisch. Dem Ruf und Schutz seiner Tochter verpflichtet, wurde der Hochzeittermin nach Form und Sitte gerichtet, bevor die "Schande“ sichtbar zu werden drohte. Im Juli 1942 wurde der Bund fürs Leben geschlossen.
Die "Schande“ war so neu in Rolands Familie nicht. Zwei Generationen zuvor, also im 19. Jahrhundert, hatte Rolands Ur-Oma Anna, gerade sieben Monate verheiratet, ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Welch Wunder, ein „Frühchen“! Das war ihr erstgeborener Sohn Hans, der gesund und proper das Licht der Welt erblickte. An ihrem Geburtstag 1967, als sie bereits jenseits der Neunzig war, wurde eher scherzhaft noch einmal nachgerechnet. Man pflegte um diese Zeit allgemein, und das war in Rolands Familie nicht anders, tabulos das offene Wort. Ur-Oma Anna „gestand“, beschämt lachend, den letzten ihrer noch verbliebenen Zähne entblößend (des Gebisses hatte sie sich mit Blick auf ihre bevorstehende Bettruhe bereits entledigt), die voreheliche Lust mit ihrem - Gott hab in selig - Georg.
Als Einziger der Familie stand 1941 der andere Sohn des Ur-Großvaters, Onkel Gerhardt, in der Wehrmacht unter Waffen. Seinen kaufmännischen und organisatorischen Fähigkeiten hatte er die Dienststellung eines "Spießes" zu verdanken. Seine Frau, Rolands Tante Ilse, übernahm zu den häuslichen Aufgaben noch kaufmännische Tätigkeiten, die in Friedenszeiten sonst von ihrem Mann ausgeführt wurden. So konnte die Samenhandlung in den ersten Kriegsjahren fast wie zu Friedenszeiten geführt werden.
Margot schloss ihre Ausbildung zur Stenotypistin im August 1942 ab und half als frisch gekürte Ehefrau, mit Roland unter dem Herzen, weiter im elterlichen Betrieb.
Bis zum Herbst 1942 war der Kriegsverlauf aus deutscher Sicht erfolgreich. Der Feldzug gegen Polen im September 1939 endete durch einen Blitzsieg im Bündnis mit der Roten Armee nach 28 Tagen; die Revanche im Westen war nach vier Wochen geglückt, deutsche Panzer säuberten unter Feldmarschall Rommel Nordafrika von den Engländern, und deutsche Truppen standen tief in sowjetischem Gebiet. Das deutsche Volk erwartete den Endsieg. Diese Hoffnung wurde auch nicht beeinträchtigt, als englische Bomber deutsche Städte angriffen. Das Zerstörungswerk aus der Luft über Berlin begann im Juni 1940 und forderte im August die ersten Todesopfer. „Wenn auch nur ein feindliches Flugzeug unser Reichsgebiet überfliegt, will ich „Meier“ heißen!“, hatte Hermann Göring zu Kriegsbeginn getönt. Im Angesicht der ersten Bombenschäden in der Stadt und zunehmender Luftangriffe hatte der Reichsmarschall bei den Berlinern, sogar im engsten Kreis der ihm Unterstellten, den Namen „Meier“ weg. Im März 1944 begannen dann auch die Tagesangriffe durch Bomberverbände der USA-Air Force.
Margot, inzwischen im sechsten Monat schwanger, wurde allabendlich mit dem Sammelbus von zu hause abgeholt und zum Mutter-Kind-Bunker