„Leg mir mal für alle Fälle die Uniform raus. Bügle noch Hemd und Hose über.“
Er war nicht mehr auf das Tragen der Uniform erpicht als die meisten anderen Männer jener Zeit. Tags darauf, es war früh am Tage, aber nicht später als zu normalen Ladenzeiten, legte er als reputierlicher Bürger den vollen Partei-Wichs an. Sein Braunhemd mit Dienstgradabzeichen und Einheitsbezeichnung auf den Kragenspiegeln, die „Kraftfahrer-Raute“ auf dem linken Unterarm - alles musste perfekt sein. Er band den braunen Binder und befestigte Koppelzeug mit Schulterriemen. Die schwarzen Stiefel umschlossen die Reiterhose perfekt. Zufrieden fiel sein Blick auf das gut gepflegte, lackglänzende Stiefelleder. Das „Parteiabzeichen in Gold“ nahm er aus der Schatulle und steckte es in Brusthöhe auf die linke Hemdbrusttasche. Komplett wurde alles mit der olivbraunen, steifen Schaftmütze, auf deren Deckel der schwarze Ledersturmriemen aufliegt. Der mit Metallfaden gestickte Hutadler gab dem Ganzen etwas Hoheitliches.
Er besah sich im Spiegel und sah im Geiste den „Hauptmann von Köpenick“. Was er jetzt tat, hatte Ähnlichkeit mit der „Köpenickiade“, die 32 Jahre zurücklag. Der Unterschied zum Schuster Voigt:
Nicht um seinetwegen und nicht mit der Vergangenheit eines kleinkriminellen Außenseiters würde er losgehen - seine Uniform war echt!
Die Kameradentreue in einer Zeit mit verrückter Verschiebung von Sitte und Anstand forderte ihn heraus. Sollte sein Plan scheitern, würde dreiste Fabulierkunst seine Existenz und jetzige Stellung retten. In dieser Situation konnte er Else nicht zur Mitwisserin werden lassen, als diese sich ihm in den Weg stellte:
„Rudi, denke auch an uns - um Himmels Willen, sei nich leichtsinnig, geh nich mitn Kopp durch de Wand!“
Er packte sie fest an beiden Schultern und sah ihr tief in die Augen: „Wird schon schiefgehen….“
Er gab ihr einen spitzen Kuss, so einen wie sie ihn bekam, wenn er für einige Stunden unterwegs zu sein gedachte.
Sich seines geschniegelten Erscheinungsbildes bewusst, begab er sich zur Sammelstelle. Dort, in der Polizeidirektion in der General-Pape-Straße, kannte er ein paar Männer, und andererseits kannten einige ihn als Mitglied der Sanitätskolonne, Geschäftsmann und Parteigenossen. Die Gänge waren voller Bürger, die sich nach Angehörigen erkundigten. Rudolf lief an den Wartenden vorbei, die ihn achtungsvoll passieren ließen. Kurz angeklopft, den Arm zum Deutschen Gruß:
„Heil Hitler, die Herren,“ trat er in ein Geschäftszimmer.
„Seit gestern ist der Doktor Levi eingebuchtet, war selber dabei. Nach dem Mann wird andernorts verlangt. Geht um die Überprüfung von Passangelegenheiten. Ich will den gleich mitnehmen.“
Rudolf war bekannt, sein Goldenes Parteiabzeichen an der Brust legitimierte ihn hinreichend gegenüber denjenigen, die ihn nicht so genau kannten. Sein bestimmender Auftritt ließ keinen Zweifel am Auftrag zu. Ein Wachmann wurde losgeschickt, Dr. Levi vorzuführen. Rudolf wartete im Geschäftszimmer und beobachtete die routinierte Maschinerie der zur Juden-Sammelstelle gewordenen Polizeibehörde. Keine zehn Minuten waren vergangen, als Dr. Levi ins Zimmer geführt wurde. Der, so hatte es den Anschein, traute seinen Augen nicht. Sein Freund Rudi stand da in voller SA-Montur vor ihm.
„Herr Doktor Levi, ich hole Sie zwecks Überprüfung ab, muss nur noch die Überstellung quittieren!,“ begrüßte Rudolf seinen Freund.
Mit Rudolfs „Heil Hitler!“ verließen beide das Geschäftszimmer und entfernten sich aus dem Gebäude.
Rudolf erklärte auf dem Weg in Doktor Levis Wohnung die Situation:
„Jetzt muss eure Ausreise klargehen. Nur wenn du die offiziell machst, bin ich auch aus dem Schneider! Dann behaupte ich, deine Verhaftung war ein Irrtum der Behörde. Wie du das machen musst, weißt du besser als ich, aber schnell muss das gehen.“
„Die Liste mit unserem Namen ist doch schon in der amerikanische Botschaft, die Visa-Eintragung ist nur noch Formsache. Unser Sohn ist Bürge in Amerika. Ich und meine Frau sind bereits in die Liste der zur Einreise berechtigten Personen eingetragen. Die Zustimmung der USA zur Einreise liegt also vor.“
„Das hatte ich letztens auch so verstanden - wollte doch eben kein Harakiri begehen.“
„Rudi, ohne deinen Einsatz wäre unsere Bemühung womöglich im Sande verlaufen. Gar nicht auszudenken, wenn ich nicht mehr in Berlin auffindbar gewesen wäre!“
Frau Levi war des Dankes voll. Rudolf wehrte alles burschikos als „Sanitäter-Hilfe“ ab, obwohl ihm schwante, dass noch etwas nachkomme.
„Jetzt bleibst du solange in der Wohnung, bis ihr einen offiziellen Bescheid von der Botschaft in den Händen habt. Darum soll sich gleich deine Frau persönlich kümmern. Dann lässt du dich in der Öffentlichkeit sehen, gehst zum Einkaufen in die Geschäfte, um jedermann zu zeigen - ich bin legal!,“ beschwor er nochmals den Freund.
Soweit, so gut! Rudolf war zufrieden mit sich und eigentlich auch damit, dass in Berlins Behörden Ordnung herrschte. Das Gefühl, als Mann rechtschaffend etwas erreicht zu haben, wollte er schleunigst mit Else teilen:
„Na siehste, Else, war allet nich so schlimm, hab unsern Doktor wieder abjeholt! Der ist zu Hause und ordnet Papiere. Wird uns wohl bald Richtung Amerika verlassen.“
„Haste aba fein jemacht, dachte schon, jetz komm's dicke.“
nd für Rudi kam es dicke. In der Kameradschaft gab es Rabatz.
Er war am Freitagabend noch in das Vereinslokal seiner Kameradschaft gegangen - hochoffizieller Termin, war ja genug los gewesen.
Seine Parteigenossen beschimpften ihn auf das Übelste:
„Rudolf, sich so vehement für einen Juden einzusetzen ist undeutsch!“
„Ich finde es falsch, alle Juden über einen Kamm zu scheren. Das kann nicht rechtens sein, denn im Feld spielte es überhaupt keine Rolle, ob der Kamerad Christ oder Jude war.“
„Du heißt doch „Anders“! Klingt ja auch nicht gerade arisch!
Das war zu viel. Er geriet in Rage!
In dieser Verfassung argumentierte er nicht, er polterte und wurde persönlich! Aus der ihn ehrenden Position eines „alten Kämpfers“ (so wurden die Mitglieder genannt, die vor 1933 der NSDAP beigetreten waren) selektierte er:
„August, du, Erich, Kasper und Arnhold habt hier die große Klappe, denkt Wunder wat und wer ihr seid. Ick sage euch wat ihr seid! - Jans kleene „Märzveilchen“ seid ihr! Oder soll ick lieber „Märzgefallene“ sagen? Erst nach Januar 33 eingetreten, aber heute so tun, als gehöre euch die „Bewegung“!
Mit lautem Knall fiel die Tür zu, als er das Vereinslokal verließ.
Am Samstagmorgen leuchtete ihn ein weißer Davidstern auf seiner Schaufensterscheibe an. Er bestellte die Polizei vor den Laden und argumentierte im Tonfall, als sei der Laden ausgeraubt worden:
„Man soll sofort folgende Verdächtige vorladen!“
Er nannte Namen und Adressen aus der Auseinandersetzung abends zuvor. Als erstes veranlassten die Polizisten, denen Rudolf als honoriger Geschäftsmann bekannt war, dass der Judenstern sofort von der Britzer Feuerwehr abgewaschen wurde. Die befand sich direkt gegenüber seinem Laden in der Hannemannstraße.
Mit der Namensnennung der Verdächtigen hatte Rudolf ins Schwarze getroffen. Recht schnell trafen die Beschuldigten auf dem Revier mit Rudolf aufeinander. Bittersüß erklärten die Übeltäter, „irrtümlich“ den Judenstern auf die Fensterscheibe seines Ladens gemalt zu haben. Die Aktion mit der Schaufensterscheibe wäre eigentlich seinem Ladennachbarn zugedacht gewesen. Damit war der Sache aus Sicht der Polizei Genüge getan.
Bereits am Montag der folgenden Woche konnte Dr. Levi seine Legitimation zur Ausreise belegen. Das Ehepaar Levi verließ Wochen später Deutschland legal mit seiner gesamten Habe, wozu auch die von Rudolf in Verwahrung genommenen zwei Handkoffer gehörten. Wegen Amtsmissbrauchs wurde Rudolf nicht belangt. Das konnte auch nicht sein, denn