K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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fordernde Petitesse.“

      Wölkchen prompt:

      “Wir sind volljährig und nicht nachtragend, lass hören!“

      „Wölkchen, dich hat Roland sehr geliebt. Es klang wie Stolz, wenn er von zwölf gemeinsamen Jahren sprach, in denen er dir immer treu gewesen sei. Eure Trennung haben wir, das weißt du, eigentlich nie verstanden. Der aufmerksame Umgang, den ihr beide nach der Trennung miteinander pflegtet, war eine Demonstration tiefer Freundschaft. Bewunderns- und bedauernswert zugleich, das Ganze.“ “Genug der Ehre, ist ja gut, komm zum Kern,“ meint Wölkchen.

      „Ihr wisst, in den letzten Jahren flog Roland mindestens einmal im Jahr nach Thailand. Franske, du lebst dort seit 30 Jahren. Winfried, du bist wie ein Zugvogel. Wenn es in Berlin kalt wird, fliegst du ab und bleibst, bis der Frühling hier wieder Fuß fasst. Frenzel und Peter, ihr habt dort öfter euren Urlaub verbracht, weil ihr es mit der Flucht vor dem Winter in Deutschland hieltet wie Winfried und Roland. Eure Treffen dort habt ihr genossen. Roland hat sich rundum wohlgefühlt. Zurückgekehrt war er voll des Lobes über die Wirkung einer aus Indien stammenden Viagra-Variante, die nicht nur unserer Generation zeit- und punktgenau die nötige Manneskraft spendet. Darauf angesprochen spendierte er auch schon mal eins von den Tütchen, die aussehen wie eingeschweißte Erfrischungstücher. Mit Ananas- oder Orangengeschmack gehörten sie zu seiner Rundumversorgung wie die Zigarren.

      Als man ihn aus dem Appartement im Wohnpark abholte, sah ich auf der breiten Matratzen-Holzumrandung seiner Schlaflandschaft solch ein geöffnetes Plastiktütchen liegen. Mich hatte nämlich morgens eine Frau angerufen, deren Stimme ich erkannt zu haben glaube. Ihren Namen zu nennen, würde sie kompromittieren – es handelt sich immerhin um eine Dame der Gesellschaft. Sie bat mich als Rolands Freund, nach ihm zu schauen. Sie klang seltsam aufgeregt:

      „Es ist etwas passiert!“

      Das Tütchen auf dem Bettrahmen lässt mich über Rolands letzte Wahrnehmungen auf Erden mutmaßen.

      Ich wünsche ihm, erlebt zu haben, was die Franzosen den "süßen Tod" nennen. Wenn das passiert sein sollte, wäre ihm widerfahren, was Männer sich als "Letztes" wünschen mögen, aber was sich statistisch in nur einem Prozent aller plötzlichen Todesfälle widerspiegelt. Von diesem vielleicht einen Prozent wären dann noch die lustvollen von den tragischen Begebenheiten zu trennen. Ich lebe ja nun auch schon acht Jahrzehnte und denke im Hinblick auf mein Lebensende an Rolands möglichen Abgang. Andere planen in diese Richtung vor. Rolf EDEN, ihr kennt ja noch den ehemaligen Berliner Playboy und Unternehmer, der schwadronierte mit 80 Jahren im Fernsehen, er hätte testamentarisch und notariell verfügt, dass, wenn ihn der Tod beim Akt heimsuchen sollte, der beteiligten Frau 300.000 Euro auszubezahlen seien.“

      Remuss ergreift nochmals das Wort:

      „Diese Geschichte hätte Roland nicht besser ausgemalt! So wie wir hier sitzen, ergötzen wir uns an Rolands Eloquenz. Mitunter beantwortete er Fragen, die im Raum waberten, aber noch nicht gestellt waren. Gewollt, manchmal auch wider Willen, stand er so im Mittelpunkt polarisierender Meinungen. Er wurde nicht nur aus unserem Kreis angesprochen, seine Erlebnisse und Beurteilungen der Schriftform zu übergeben. Er sei schließlich Zeitzeuge und aber auch Akteur. Ihm schien das zu gewaltig. Er tat das als emotionale Augenblickskomplimente ab.“

      Christian wirft ein:

      „Die sich wiederholenden Anregungen formten dann doch die Tat. Er ließ uns ja wissen, dass er sich an die Niederschrift seines Lebens gemacht habe. War leider für ihn und für jene zu spät, die nicht mehr sind, aber die zu ihren Lebzeiten gerne noch einmal nachgelesen hätten.“

      „Na dann komme ich jetzt mal zum ernsten Teil unseres Beisammenseins.“

      Ich stehe auf, nehme einen Schluck aus dem Weinglas und wende mich, rechts neben mir platziert, Wölkchen zu.

      „Du hast mir Rolands Vita-Niederschrift mit dem Titel „Drei Metamorphosen eines Berliners“ gegeben. Ich möge nach meinem Gusto darüber verfügen, sagst du. Natürlich kenne ich den Inhalt in allen Teilen. Oft war er bekümmert, weil er sich in ständiger Umschreibung seiner „jetzt endgültig letzten Fassung“ befand.

      „Ich mag ein Erzähler sein“, sagte er, „aber Romanschreiben ist etwas Anderes.“

      Christian dazwischen:

      „Hört sich ja an, als hätte er befürchtet, seine Vita nicht veröffentlichen zu können.“

      „Nicht ganz meine Meinung. Die vorliegende Abfassung ist gut genug, sie der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Das will ich als letzten Dienst für unseren Freund tun. Aus der Ich-Form werde ich sie in die dritte Person umschreiben.“

      Beifall wird mir zuteil und auf gutes Gelingen leeren wir "ex" unsere Gläser.

       Wurzeln, und wie es mit Roland begann

      Das Erscheinungsbild eines Baumes samt seiner Krone begründen Breite und Tiefe seiner Wurzeln

      Der Ur-Großvater Georg führte das Unternehmen gemeinsam mit seiner Frau Anna. Sie hatten drei Söhne, Hans, Robert, Gerhard, und die Tochter Else. Vier Kinder zu haben war im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eher die untere Grenze der Familienplanung, so es diese überhaupt gab. Den Kinderreichtum und das mit ihm einhergehende Wachstum des deutschen Volkes empfand man als göttliche Fügung. Die Geburtsstatistiken der Industrienationen Frankreich und England waren ähnlich. Noch nach dem ersten Weltkrieg gehörten vier oder fünf Kinder zur normalen Familie. Nach dem zweiten Weltkrieg, einhergehend mit dem Wirtschaftswunder, fiel die statistische Kinderzahl von Generation zu Generation bis unter die, die Bevölkerungszahl erhaltende rote Linie, die bei etwa 2,7 Kindern liegt. Eine Familie mit drei Kindern zählt schon als kinderreich. Mathematisch gesehen sterben wir genuine Deutsche aus.

      Den Erstgeborenen, Hans, hat eine Lungenentzündung nicht erwachsen werden lassen. Dadurch war für die spätere Unternehmensführung der nach diesem Schicksalsschlag an die Stelle des Erstgeborenen aufgerückte Robert vorbestimmt. Er litt daran, zu wenig Luft in die Lungen zu bekommen, was seine Wehruntauglichkeit bewirkte. Ihn zeichneten jedoch Wissbegierde und Lerneifer aus. Bücher zu erwerben, sie zu lesen und sich mit den Lesefreudigen unter seinen Kunden auszutauschen machte ihm bis ins hohe Alter Freude. Eigentlich hätte er ein „Studierter“ werden müssen, aber die Familienräson ging vor. Er wurde „Koofmich“ im elterlichen Betrieb.

      Der Hafer, das Futter für die Lastpferde, Gemüse- und Sämereien und die Gewächshauspflanzen wurden über den Güterbahnanschluss Hermannstraße direkt aus dem Brandenburgischen von den Bauern und Gutsverwaltern angeliefert oder aus Biesenthal abgeholt. Größere Bestellungen wurden mit dem Fuhrwerk, aber schon vor der Weltwirtschaftskrise 1929 mit dem Lieferauto zur Kundschaft transportiert. Über den Ladentisch kauften die Leute ihre Schnittblumen, Samen für die Balkonpflanzen, sowie Gartenzwerge aus Ton und allerlei Gartengerät. Rolands Ur-Großvater Georg war ein in der Wolle gefärbter deutsch-nationaler „Kaiserlicher“ und besaß demzufolge mehrere in Silber gefasste gusseiserne Plaketten „Gold gab ich für Eisen“. Er gab aus Patriotismus, wie Millionen Reichsbürger auch, Gold her, um es zu Kruppstahl-Kanonen werden zu lassen.

      Rudolf, ein Berliner Kaufmannsgeselle, hatte die Tochter Else von Rolands späterem Ur-Großvater 1921 geheiratet. Mit ihrer Mitgift hat er die “Samenhandlung Anders“, etwa 3 Kilometer (im geraden Straßenverlauf) von Urgroßvaters Laden entfernt, in der Chausseestraße 111, eröffnen können. Ihre Wohnung befand sich in der Chausseestraße 120/Ecke Gradestraße, gegenüber dem Kino „Filmeck“, in der zweiten Etage. 1923 wurde die Tochter Margot geboren und ihr Brüderchen Horst folgte fünf Jahre später. Margot bekam als junges Mädchen Klavierunterricht und übte im Esszimmer. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, kam sie über die ihr abverlangten Etüden und vielleicht deswegen lustlose Behandlung des Instruments nicht hinaus. In ihrer Wohnung hatten sowohl der jüngere Bruder Horst als auch Margot ein eigenes Zimmer.

      In Rudolfs Filiale versorgten sich die in nachbarschaftlicher Nähe gelegenen Kleingartenbesitzer mit ihren zahlreichen Kleinbetrieben und die Laubenpieper in Britz mit Obst und einem großen Samenangebot, Gemüse und Blumen.

      Rudolf hatte noch