K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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für eine Pistole 38, deren Magazin er überprüfte. Sich schon auf dem Weg zum Versteck glaubend, hielt ihn ein „Halt“ auf. Bei der Stimme und dem Platz, von dem aus er das Kommando vernahm, tippte er auf einen vor Tagen Operierten. Dieser lag in einem Metallbett - ein Waffen-SS-Mann aus Graz. Ihm musste er die Pistole laden und entsichern, weil der Mann es nicht selber tun konnte. Ihm fehlte ein Arm und der andere steckte bis zu den Fingern im Verband.

      Als letzter erreichte er endlich das Versteck.

      Den zweiten Tag verbrachten die drei „Zivilisten“ in ihrem dunklen Unterschlupf. Kurze Feuersalven aus der Richtung, in der die Verbandssäle der Verwundeten lagen, ließen eine ungefähre Lage dessen, was sich dort abspielte, erahnen. Durch sparsame Taschenlampenbeleuchtung oder beim Umgang mit dem Feuerzeug und ihren glimmenden Zigaretten war in ihrer Räumlichkeit spärlich etwas zu erkennen. Gelegentlich versuchte einer von ihnen, die Lage zu erkunden. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Entdeckung beim Verlassen des Verstecks konnte nur aus der Art des Umgebungslärms abgeschätzt werden. Geschützdonner verorteten sie neuerdings Kilometer entfernt, im Stadtzentrum.

      Sie wollten los.

      Opa Rudolf, bekleidet mit einem zivilen dunkelgrauen Mantel, mit Rot-Kreuz-Binde auf dem linken Arm, darunter die Uniform, in weichen Stiefeln, aber ohne Kopfbedeckung. Die Pistole steckte in der rechten, eine dynamo-betriebene mechanische Taschenlampe in der linken Manteltasche. Zwei Sanitätstaschen, mehr als doppelt so groß als die normale Patronentasche und eine Feldflasche trug er am Sanitäterkreuz-Koppel. Die Sanitätstaschen hatte er mit Bedacht umgeschichtet. Das Verbandsmaterial, bestehend aus verschiedenen Binden, Salben, Sani-Besteck sowie Kaltverpflegung für mehrere Tage, befanden sich im Rucksack. Dieser hatte auf seiner großen Außenlasche das Rote Kreuz auf weißem Grund. Seine Sanitätstaschen beherbergten einen beträchtlichen Schatz: Opium in Röhrchen und Tablettenform, sowie Kreislaufmittel.

      „Gott befohlen, Kameraden, Sprung auf - Marsch, Marsch!“

      Der Belüftungsschacht, durch ein Gitter gesichert, endete in einem Hofpark. Hier hatte sich eine russische Verpflegungsstelle breitgemacht. Der Austritt aus dem Schacht war riskant. Sie passten einen günstig erscheinenden Augenblick ab und lösten den Gitterring. Angenehm die frische Luft - kaum raus - wenige Meter gelaufen:

      „Stoi, stoi!“

      Sie rannten hintereinander durch eine Auffahrt, Schussgarben aus Sturmgewehren peitschten, bevor sie sich aus den Augen verloren. Opa Rudolf rannte allein über die Straße und die Kameraden an der gegenüber liegenden Häuserfront entlang. Sie verloren sich und sahen sich nie wieder.

      Aus der Gruppe der Russen, die hinter ihnen her war, nahm einer die Verfolgung von Opa Rudolf auf. Dass nur einer hinter ihm her war, hörte er aus den Stiefelschritten, aber sicher war er sich dessen in der Schnelligkeit des Geschehens nicht.

      Einschläge der Garben um ihn herum aus der Maschinenpistole machten Opa Rudolf blitzartig klar, dass das Rote Kreuz auf dem Rucksack nicht die erhoffte Schonung, sondern im Gegenteil in der Dunkelheit dem Russen eine bessere Zielerfassung bot. Sich hinzuwerfen schien ihm nur die zweitbeste Lösung, denn dann hätte der Russe ihn gehabt. Ein Torbogen neben ihm erlaubte den Richtungswechsel, raus aus der Schussrichtung. Da, mitten auf dem Hinterhof, ein Loch. Ein schweres Geschoss hatte die Kellerdecke durchschlagen. Egal wie tief und wohin - er sprang.

      Eine Ebene tiefer aufgeschlagen, rappelte er sich auf, ohne Zeit für die Überprüfung seiner Glieder. Weiterlaufen konnte er nicht, weil über ihm bereits die Stiefelschritte seines Verfolgers zum Stehen gekommen waren.

      Der Russe stand direkt, nur durch die Betondecke getrennt, über ihm: „Ittler kaputt!“

      Als sich nichts rührte, schoss er aufs Geratewohl ins dunkle Loch. Sein Schusswinkel gefährdete Opa Rudolf nicht. Hätte der Russe auf der anderen Seite des Lochs über ihm gestanden, hätte es ihn voll erwischt. Sollte der Russe jetzt nachspringen, wäre das sein Tod – Rudolfs Hand umklammerte die entsicherte Pistole.

      Der Russe verließ den Hof. Opa Rudolf bewegte sich erst nach einer Weile, um zu erlauschen, ob er allein sei. Dann leuchtete er die Räumlichkeiten aus. Den Weg, den er heruntergekommen war, konnte er nicht nach oben nehmen. Er wollte gerade einen Hof weiter durch den Kelleraufgang wieder an die Luft, als er über sich mitbekam, wie einige Russen zwei Frauen vor sich die Treppen hinunter stießen. Ihm war wichtiger zu erfassen, ob sie bis zu ihm in den Keller kommen würden, als dass er an eine Heldentat dachte. Die Russen prügelten die Frauen in das Vordergebäude und Opa Rudolf schlich zur Straße. Hier war niemand. Seine Augen tasteten in Wegrichtung mögliche Verstecke und weitere Fluchtwege ab. Langsam, immer auf dem Sprung, kam er voran - mal einige hundert Meter hintereinander, mal Haus für Haus. Das Ausweichen in Seitenstraßen wegen unübersichtlicher Feindlage kostete Zeit und ließ ihn Umwege nehmen, die oft nicht ungefährlicher waren, bevor er sich wieder auf direktem Heimatkurs befand. Die nächtliche Ruhe war von fernem Kampflärm aus der Stadtmitte begleitet und wurde immer mal durch Gewehrfeuer in Salven oder Einzelfeuer in der Nähe unterbrochen.

      Er traf auch auf flüchtende und Schutz suchende Leute, wie auch er es war. Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun, aber man mutmaßte, welche Gebäudekomplexe und Straßenseiten womöglich in russischer Hand seien. Immer wieder vernahm er Gewehrfeuer in der Nähe.

      Es war noch dunkel, als er dort angekommen war, wo vor gut einer Woche die Chaussee-Brücke noch die Havel überspannt hatte. Jetzt kletterten Russen an den schräg zueinander liegenden Brückenteilen von der Britzer Seite in Richtung Neukölln. Über eine Ponton-Behelfsbrücke neben den zerbrochenen Brückenelementen rollte, von Pferdegespannen gezogen, der große Tross der Nachhut. Mittenmang russische Soldaten, die an den Brückenrändern im Gänsemarsch liefen. Es wurde langsam hell. Die Umrisse, in denen er auf Überfahrt wartende Fahrzeuge und T-34 Panzer ausgemacht zu haben glaubte, schälten sich als zu Schrott geschossenes Gerät heraus. Sollte ihnen nichts passiert sein, war er jetzt weniger als drei Kilometer von Else, Horst und Margot mit Roland entfernt. Zwischen ihm und der Familie lag nur noch der Havel-Kanal.

      Die Morgendämmerung ausnutzend, lief er am Ufer entlang. Er machte einen auf der schrägen Böschung liegenden ausgebrannten Schützenpanzer aus. Einen Bogen laufend, schlich er sich an. Seitlich zum Fahrzeug tat sich ein Erdtrichter auf. Ein paar Schritte, ein Sprung - und er lag in Deckung im Erdloch. Seine neue Position ließ nun auch die Beobachtung aller Bewegungen von Mensch und Material über den Kanal hinweg zu. Dabei hing er in Gedanken seiner bedauernswerten Entscheidung nach, bei der Gepäckauswahl des Gewichtes wegen auf ein Fernglas verzichtet zu haben. Gerade hatte er ein nahes Geräusch wahrgenommen, als plötzlich jemand von hinten und direkt auf ihn drauf in die Erdkuhle sprang. Er wurde in die Erde gedrückt.

      „Ruhig Kamerad, janz ruhig – ick tu dir nischt!“

      Opa Rudolf ließ geschehen, was in Bauchlage-Position ohnehin nicht zu ändern war. Trotzdem hatte er die Hand an die Pistole bekommen. Langsam löste der Mann auf ihm den Druck der Klammerung. Opa Rudolf konnte sich umdrehen und blickte in das Gesicht von Eispickel. Eispickel (!) – aus der Britzer-Sanitätskolonne! Beide schauten sich an, als wenn der Leibhaftige vor ihnen stünde.

      „Eispickel, was hast du denn vor? Willst mich doch nicht abmurksen?“ „Mensch, Rudi, ick will ooch übert Wassa. Bin aba nich alleene! Een paar Loch weiter liecht Egon – der hat'n verbrannten Unterschenkel. Der Vaband stinkt und seine Schmerzen, sagta, sind firchtalich. Da seh ick een Rot-Kreuz-Sack durch de Jegend hüppen. Ick tu ma denk'n, det is ' ne Schangse uff Hilfe - vastehste?“

      „Verstehe, aber wo kommt ihr denn her?“

      „Egon und ick war´n Volkssturm. Ham uns bis Hermannplatz zurückjezogen. Da war Ende. Bis hierher sind wa mit Ach und Krach jekommen. Jetzt hamwa nen Kahn am Ufer vasteckt. Den hamwa schon seit vorjestern. Zwee Nächte lang wolltn wa rübermachen. Is verschoben, erste Nacht war zu ville Holterdipolter am Ufer und letzte Nacht konnte Egon nich mehr!“

      „Komme auch vom Hermannplatz, den Rest schaffen wir auch noch. Geht doch gar nicht anders, wirst schon sehen!“

      „Nächste Nacht muss det klappen, sonst verhungern wa hier im Jras.“

      „Pass auf, ich gebe dir jetzt