K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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stichprobenartigen Kontrollen der „Bahnpolizei“ dar, die das gehamsterte Gut auch in Beschlag nehmen konnte, denn Hamstern war offiziell verboten! Nach Auffassung der Kontrolleure würden die an den derzeit bestehenden Bewirtschaftungsmaßnahmen des Alliierten Kontrollrates vorbei gehamsterten Güter die allgemeine Versorgungslage noch verschlimmern. Dabei verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der Kontrolleure stetig.

      Die Hamsterfahrten von Opa Rudolf und Mutter Margot waren relativ erfolgreich. Das lag weniger an ihrem Tauschangebot, sondern eher an ihrer speziellen Suche. Im Unterschied zu den übrigen Hamsterern waren sie nicht schwerpunktmäßig auf der Suche nach Butter, Fleisch, Wurst, Käse und Kartoffeln, ganz abgesehen vom eigenen schmalen Tauschangebot. Sie tauschten Samen ein. Da Samen nicht einfach in der Küche gepresst werden konnten, sondern dies nur unter großem Druck in einer eigens hierfür konstruierten Presse erfolgen konnte, war die Zahl ihrer Tauschinteressenten begrenzt. Opa Rudolf brachte die erworbenen Samen in die Neuköllner Ölpresse, zu der noch guter alter Geschäftskontakt aus der Vorkriegszeit bestand. An und für sich standen Samen ja unisono unter dem Bewirtschaftungsgesetz, aber Opa Rudolf erklärte die eingetauschten Samen für nicht mehr keimfähig. Mit dieser fachmännischen Klassifizierung fielen sie nicht unter die Bewirtschaftungsrichtlinien und durften gepresst werden. Die Samenanlieferung in die Neuköllner Ölpresse, an den Kontrollen auf Land und Schiene vorbei, war stets eine logistische Meisterleistung. Rolands Familie erhielt ein stattliches flüssiges Öl-Deputat für sich und den kleinen Handel nebenbei. Zuhause wurde meistens trockenes Brot in das Öl getunkt – eine wunderbare Hauptmahlzeit.

      Abwechselnd gingen Oma Else und Mutter Margot mit Roland auf den in der Nähe gelegenen Spielplatz, der einen Sandkasten mit fester Ummauerung hatte. Diese eignete sich vortrefflich, um auf ihr mit metallenen Kuchenformen sandige Nachbildungen auszuklopfen. Im August 1945 bekam er dort mit, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Die Frauen sprachen leise und bedrückt davon. Roland erzählte und fragte zu Hause bei Opa Rudolf nach. Der erklärte Roland vor dem Zubettgehen, dass die Erde eine Kugel sei. Roland verstand soviel: Würde man in sie hineinbohren, käme zuerst Wasser, dann würde es immer wärmer, und im Erdinneren wäre alles flüssig vor Hitze:

      „Eine Bombe, die in einem weit entfernten Land von den Amerikanern abgeworfen worden ist, hat solch eine Hitze ausgelöst.“

      Mit diesem Wissen kam Roland auf den Spielplatz. Er buddelte mit der Handschaufel ein Loch, in das er seinen Arm so tief hineinstecken konnte, dass seine Schulter von den Ohren bis zum Mund im Sand steckte. Der Sand war feucht. Er sorgte unter seinen Spielkameraden für große Neugier als er behauptete:

      „Da ist schon warmes Wasser!“

      Alle Spielkameraden wollten in das Loch greifen. Später, in der Schulzeit, hat Roland diese Episode zuordnen können:

      Am 6. August 1945 wurden auf Hiroschima und am 9. August 1945 auf Nagasaki die Atombomben abgeworfen!

      Die Sowjets verließen Berlin-Britz in Richtung ihres Ostberliner Sektors, die Amerikaner rückten nach. Britz war jetzt amerikanischer Sektor. Das Zeitfenster zwischen dem Russen-Abzug und dem Ami-Einzug ergab einen großen Schub im Projekt „Ladenbau“, das ins Stocken gekommen war. Das fehlende Glas für die Schaufenster konnte besorgt werden. Es stammte aus einem verwaisten Materiallager in der Barackenstadt, die von den Sowjets geräumt worden war. Auf einmal gab es so viel Glas, dass auch die Fenster der Wohnungen noch vor Weihnachten wieder verglast werden konnten. Es war fast unvorstellbar, wie im zerstörten Berlin und in der größtenteils unzerstörten Gartenstadt Berlin-Britz bereits zum Winter nach Kriegsende wieder ein Fleckchen Normalität geschaffen worden war.

      Die dreijährige Ausbildung von Onkel Horst zum Flugzeugelektromechaniker zahlte sich aus. Die erworbenen Kenntnisse und seine "goldenen Hände" machten die Hamsterfahrten ab Herbst 1945 unnötig. Er hatte sich darauf spezialisiert, die häufig defekten Sprechund Funkgeräte der Amerikaner zu reparieren. Hierfür bekam er als Lohn die Erstwährung – Zigaretten - und mehr Material, als er von Fall zu Fall benötigte.

      Das Wohn-und Geschäftshaus, in dem sich das Unternehmen von UrOpa Georg befand, hatte den Krieg ohne große Beschädigungen überstanden. Das Geld war nichts mehr wert, aber es konnte getauscht werden. Die alten Geschäftskontakte wurden reaktiviert. Die „Samenhandlung Robert Beist“ war wieder eröffnet und ernährte die gesamte Ur-Großvater-Familie überwiegend aus der Veräußerung noch vorrätiger Vorkriegsware.

      Anfang 1946 wollten Opa Rudolf und Onkel Horst ihren Laden eröffnen. Das Warensortiment, zusammengehamstert, eingetauscht und durch Auffüllung aus dem Lager der „Samenhandlung Robert Beist“ war präsentabel. Die Anmietung der Ladenerweiterung war mit der Bau-Genossenschaft geregelt. Die beiden hatten aber in ihre Vorbereitung nicht die in Berlin-Neukölln sehr aktive ANTIFA einbezogen. In der Antifa hatten sich Verfolgte des Naziregimes zusammengetan. Sie trat in den Nachkriegsmonaten als Mittler auf, um die durcheinander geratene gesellschaftliche Struktur neu zu organisieren. An den echten Verfolgten, Sozialdemokraten und Kommunisten, klebten natürlich sofort vermeintliche Gegner des NS-Systems, die sich eingeredet hatten, eigentlich schon immer dagegen gewesen zu sein. Diese zusammengewürfelten Menschen in der Antifa hatten keine Skrupel bei Legalitätserwägungen gegenüber Nazis oder Leuten, die, aus welchen Gründen auch immer, den Nazis zugerechnet wurden. Die Antifa beschlagnahmte Wohnungen, verfügte Neueinweisungen, konfiszierte Eigentum und andere Vermögenswerte, vorbei an eigentlich bestehenden Gesetzen. Es war die Zeit der Denunziation. Alte Rechnungen, sowohl politischer als auch privater Art, wurden beglichen. So mancher wollte sich einen Startvorteil bei den Siegern sichern. Antifa-Leute erinnerten sich an die NSDAP-Aktivitäten von Opa Rudolf oder wurden von jemandem daran erinnert. Jedenfalls verbot man ihm die Eröffnung seines Ladens. Onkel Horst kam, als 18-Jähriger noch nicht volljährig, als neuer Ladeninhaber nicht in Betracht. Nach der Ablehnung gab es ein zermürbendes Hin und Her von Widerspruch, Genehmigung und wieder erneutem Verbot. Der Ortsbürgermeister von Britz war ein besonderer Aktivposten bei der Verfolgung ehemaliger Mitglieder der NSDAP. Den regte es sogar auf, dass bei der Vergabe der Hunger-Lebensmittelkarten angebliche Nazis gleichberechtigt seien gegenüber den sich als Nicht-Nazis bezeichnenden Bewohnern, und dass die Besatzungsorgane bei der Requirierung von Wohnraum auch keinen Unterschied zwischen vermeintlichen Faschisten und selbsternannten Antifaschisten machten. Trotz dieser bestehenden Querelen erhielt die altbekannte Kundschaft bei Opa Rudolf schon Ware.

      Während noch die undurchsichtigen ANTIFA-Verhältnisse andauerten, kamen in den West-Sektoren Berlins die ersten CARE-Pakete aus den USA an. Es gab zwei Sorten von CARE-Paketen. Bei der einen handelte es sich um anonyme Pakete, die durch Geldspenden von Bürgern in den USA bei der Organisation CARE-Paket gekauft wurden und ihren Weg nach Berlin nahmen. Diese Pakete wurden in Westberlin besonders bedürftigen Familien ausgehändigt. Bei der zweiten Sorte CARE-Pakete handelte es sich um Sendungen, die mit Absender und Adresse versehen waren, und so dem zugedachten Empfänger übergeben werden konnten. Opa Rudolf bekam ein CARE-Paket der zweiten Sorte von seinem alten Freund Dr. Levi aus New York. Seine Freude war riesengroß:

      „Da siehst Du, was wirkliche Freundschaft ist“, richtete er sich an Onkel Horst. Das erste CARE-Paket enthielt Dinge, nach denen sich Rolands Familienmitglieder sehnten – Cornad-Beaf und Pumpernickel in Dosen, Kondensmilch, Lebertran und Zigarren für Opa Rudolf. Die Bedarfsbefriedigung war aber nur die eine Funktion des ersten CARE Paketes. Es entsprach seiner Auffassung von Loyalität, als er kommentierte:

      „Werde ihm berichten, wie sie mir Steine in den Weg legen, den Laden zu eröffnen.“

      Sodann schrieb er also seinem Freund Dr. Levi nach New York an die nun bekannte Absenderadresse. Bald darauf konnte er sich seine Gewerbegenehmigung von der Behörde abholen. Der Laden wurde im November 1946 eröffnet.

       Neue Orientierungen

      Rolands Vater Karl hatte den Krieg unversehrt überstanden und sich bei seiner Familie im Schwarzwald eingefunden. Er hatte jedoch zu große Angst, durch die damalige Sowjetzone zu seiner Frau nach Berlin zu kommen. Mutter Margot wollte aber, selbst wenn sie eine Reisemöglichkeit gefunden hätte, mit dem kleinen Roland nicht aus dem zusammenstehenden Familienverband weg von Berlin. Womöglich hätte sie in den dörflichen Schwarzwald übersiedeln müssen und wäre gar bei ihr fremden Menschen gelandet.