Kind aus dieser Verbindung war wohl auch schon unterwegs. Unterhalt zahlte Vater Karl für Roland keinen.
Die Situation in der Britzer Wohnung: Opa Rudolf, der Familienpatriarch, hatte das Heft fest in der Hand. Mutter Margot war mit Roland in ihre vormalige Mädchenrolle zurückgestuft, und Oma Else fungierte in diesem Sinne als der verlängerte Arm von Opa Rudolf.
Mutter Margot nahm wieder Kontakt zum Jugendfreund Grundmann-Bruder Alfred aus der alten Jugendgruppe in Berlin-Friedrichshagen auf. Von den fünf Grundmann-Brüdern waren drei im Krieg gefallen. Ein Grundmann-Bruder, Kurt, befand sich in russischer Kriegsgefangenschaft. Alfred arbeitete als Mechaniker in der Firma Hecker, einem Friedrichshagener Metallbetrieb. Die Segeljolle vom Bruder hatte er unbeschädigt über den Krieg gerettet. So konnten Alfred und Margot wie zu Vorkriegszeiten Törns auf dem Müggelsee unternehmen.
Als inzwischen Neunzehnjähriger konnte Onkel Horst etwas von der fehlenden Jugendzeit aufholen, die ihm durch die Kriegsjahre verloren gegangen war. Er besuchte in Berlin-Britz eine Tanzschule, die sich in den Räumlichkeiten des Vereinszimmers einer Britzer Kneipe eingerichtet hatte. Seine Tanzpartnerin war das sehr schöne Mädchen namens Traudchen. Onkel Horst war vom Tanzen aber mehr noch von Traudchen begeistert. Einander zugetan, bildeten beide ein Tanzpaar bei den Turnieren, die in Berlin-Britz und Berlin-Neukölln stattfanden. Die Tanz- und Ballkleider wurden von den Witwen und Müttern aus den Vorkriegs-Garderoben, mitunter auch aus Gardinenvorhängen genäht. Einmal geriet Traudchen mit ihren Tanzfreundinnen in eine abendliche Polizeirazzia. Solche Aktionen, die nur der Ergreifung junger Frauen galten, waren häufig, weil das Fraternisieren mit den amerikanischen Soldaten verhindert werden beziehungsweise sich für die Sieger nicht gesundheits-schädigend auswirken sollte. Die Frauen wurden auf einem Lastwagen in ein Polizeigebäude gebracht. Dort untersuchten Ärzte, von weiblichen Hilfskräften assistiert, rigoros und ohne Rücksicht auf Verluste die aufgegriffene Weiblichkeit auf Geschlechtskrankheiten. Bei dieser Prozedur verlor Traudchen ihre Jungfräulichkeit, noch bevor sie ihr von Onkel Horst genommen werden konnte.
Der Winter 1946/47 war der bislang kälteste des 20. Jahrhunderts. Mitte November 1946 kam die erste große Kältewelle nach Berlin. Dass hohe Frosttemperaturen und Schneemassen bis in den März 1947 hinein so überdurchschnittlich kalte Winterlandschaften erzeugte, hatte keiner geahnt. In Britz fällte man die letzten Bäume und machte selbst vor den Obstbäumen nicht halt. Die Menschen waren so verzweifelt, dass sie mit der letzten Kraft, die sie noch aufbieten konnten, aus dem vereisten Boden sogar die Baumstümpfe herauszubrechen versuchten. Von den ehemals etwa 200tausend Bäumen im Tiergarten sind gerade noch ca. 700 stehengeblieben. Auch aus den Ruinen trug man Brennmaterial in Form von Balken und Brettern zusammen. Das waren durchaus gefährliche Unternehmungen. Die Ruinen waren fragile Hausreste, die durch Wind und Wetter ihre ohnehin schwache Standsicherheit weiter einbüßten, beziehungsweise plötzlich auch in sich zusammenfielen. Beim Herausziehen der Balken, durch Gewichtsverlagerung auf irgendwelchen Überständen oder einfach nur infolge einer Erschütterung gab es dabei auch Tote und Verletzte. Demgegenüber ungefährlich, aber anderweitig auch mit Schmerzen verbunden war es, entbehrliche Regale und Schränke zu verheizen. Wenn dieser Fundus nichts Brennbares mehr hergab, ging es ans Herz - dann wurde der Buchbestand nach verzichtbaren Titeln durchforstet. Dabei sank von Mal zu Mal die Schmerzgrenze, liebgewonnene Literatur dem Wunsch nach Wärme zu opfern. In Rolands Familie traf die Auswahl Onkel Robert. Diesem Bücherwurm waren seine großen Bücherschränke im „Berliner Zimmer” und in den anderen Räumlichkeiten der Wohnung schon vor dem Krieg zu groß geworden. Er hortete deswegen seine Bücher auf dem Giebeldach-Boden. Während der Kriegsjahre hatte er deswegen Ärger mit dem Luftschutzwart. Onkel Robert rettete deshalb seinen Bücherschatz stapelweise zwischen die Pflanzen im Gewächshaus auf dem Hof, wo sie der Feuchtigkeit Tribut zahlten. Bei Kriegsende kamen die Bücher deshalb sofort wieder auf den Dachboden. Der Buchbestand lichtete sich dort wider Willen schneller, als er es je erahnt hätte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er im Zimmer lieber seinen Atem gefrieren lassen, als seine Bücher brennen zu sehen, um nicht vor Kälte zu zittern. Es bedurften aber seine Mutter - Ur-Großoma Anna - sein Vater – Ur-Groß-Opa Georg - seine Ehefrau Herta, schwanger mit Tochter Christel, Rolands späterer Cousine, und, nicht ganz unwichtig, die Ladenkundschaft, der Wärme! Er litt wie ein geprügelter Hund. Apropos Hund, wenn in der einen oder anderen Familie der Hund oder die Katze die Kriegswirren (mit-)überlebt hatten, konnten sie kaum noch durchgefüttert werden. Folgerichtig waren solche Vierbeiner in der Stadt selten. Sie wurden entweder von ihren Haltern, oder schlimmer noch, von darauf spezialisierten Einfängern, durch Schlachtung dem Überlebenswillen der Menschen geopfert. Trefflich und pietätvoll sprachen die Berliner bei Tisch im Angesicht angerichteter Katzen beim Verzehr von "Dachhasen".
Opa Rudolf bekam im schlimmsten Kälte-Monat, und das war der Januar 1947, wieder ein CARE-Paket von seinem Freund Dr. Levi, der Stoffe und Decken schickte. Nach den schlimmen Wintermonaten war aber die Not noch nicht vorbei. Die Schäden an der vor dem Winter gerade wieder etwas in Gang gekommenen Infrastruktur der Ver- und Entsorgung mussten erneut überwunden werden. Straßen- und sonstigen Bahnen fuhren in unregelmäßigen Abständen. Durch die lang anhaltenden sehr frostigen Temperaturen waren die meisten mehrjährigen Pflanzen im Boden erfroren. Eingelagerte Saatkartoffeln waren größtenteils unbrauchbar.
Bei Beobachtung der Freiheiten, wie sie Onkel Horst genießen durfte, und wie sie Opa Rudolf andererseits gegenüber Mutter Margot an den Tag legte, war deren Auszug aus der Britzer Wohnung absehbar. Sie zog mit Roland in den Ostsektor nach Friedrichshagen zu ihrem Jugendfreund, dem Grundmann-Bruder Alfred. Durch Scheidung und erneute Heirat wurde diese Neuorientierung zum Jahreswechsel 1946/47 legalisiert. Grundmann Bruder Alfred fand kurz darauf ein Zuhause für seine neue Familie – eine Zwei-Zimmerwohnung zur Miete in Berlin Friedrichshagen, direkt am Wasser gelegen. In der Nachbarschaft zur Rechten befand sich ein Segelverein mit Werkstatt und Vereinskneipe und zur Linken der Anlegesteg einer Dampfschifffahrtunternehmung. Der kleine Dampfer schipperte Pendler und Ausflügler zu den Ausflugslokalen am Müggelsee bis nach Neu-Helgoland und zurück. Das Spielparadies für Roland war perfekt. Mutter Margots Auszug aus der elterlichen Wohnung bedeutete hingegen für Opa Rudolf und Oma Else, dass ihnen nunmehr eine Untermieterin zugewiesen wurde. Hierbei handelte es sich um eine Kriegswitwe namens Clawitter aus Schlesien. Die Witwe verdiente sich ein paar Mark durch das Kochen von Sirup und Kohlsuppe. Aus Mutter Margots ehemaligem Zimmer kam infolge dieser Kocherei ein Geruch, der aufdringlich durch Wohnung und Hausflur zog.
Im Frühjahr 1947 wurde Opa Rudolf zum Bezirksobmann gewählt. Hierbei handelte es sich zwar um ein Ehrenamt, aber ein Besucher- bzw. Arbeitszimmer wurde ihm dennoch zugestanden. Somit fand das kurze Koch-Intermezzo in der Etage sein Ende.
Opa Rudolfs Geschäfte liefen gedeihlich. Ein sehr nachgefragter Artikel war der Tabaksamen. Den verkaufte er in Mengen (1000 Tabaksamenkörner wiegen 0,1 Gramm), kaufte aber für manufakturelle Kleinstfertigung für den Eigenbedarf und Freunde der Skatrunde die geernteten Tabakblätter wieder zurück. Diese Tabakblätter wurden zum Trocknen auf Schnüre gezogen und quer durch den Laden aufgehängt. Die verschiedenen Samen, besonders aber die Tabakblätter, ergaben zusammen einen einzigartigen Duft im gesamten Laden. Ladenbesucher und Kunden honorierten diesen Geruch durch tiefes Durchatmen. Die getrockneten Tabakblätter wurden fermentiert, entrippt und geschnitten. Opa Rudolf rauchte selbstgefertigte Zigarren. Mit der Produktionskette Tabak kam Opa Rudolf deswegen so gut klar, weil er über das Wissen der Rohstoffbehandlung sowie über die Fertigungstechnik verfügte. Besonders die Rezeptur der erforderlichen Fermentiermittel für die Tabakblätter erbrachte so etwas wie einen typischen Geschmack. Das Wickeln, Rollen und Pressen der Zigarren machte aus ihm keineswegs einen autarken Zigarren-Produzenten. Selbst baute er nämlich auf seiner Gartenfläche keinen Tabak an. Andernfalls hätte er auch gleich auf dem Grundstück schlafen müssen. Erntereife Tabakblätter waren begehrtes Diebesgut. Oft waren bei der Ernte die Diebe schneller als die Züchter Das gleiche galt übrigens auch für Kartoffeln. Die Kunden von Opa Rudolf, sofern sie überhaupt über einen Garten verfügten, bauten aus Angst und Vorsicht vor Verlust in den wenigsten Fällen ihren Tabak in den Gärten an. Tabak, Kartoffeln, Tomaten und andere Nutzpflanzen wurden in Balkonkästen oder in eigens für ihre Aufzucht hergestellten Kisten auf dem Balkon oder im übrigen Wohnungsbereich herangezogen.
Roland wohnte nun mit seiner Mutter bei Grundmann-Bruder Alfred. Die Bewältigung des Winters