K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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Waffen.

      So ging für Opa Rudolf der Krieg noch vor dem am 8. Mai 1945 unterzeichneten Waffenstillstand zu Ende.

      Getreu seinem Eid hatte er dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes und Oberbefehlshaber der Wehrmacht bis zu dessen Tod Gehorsam geleistet.

      Wie viele Millionen andere Deutsche auch war er einer politischideologischen Verführung aufgesessen und würde dafür noch weitere Rechnungen als die bisherigen Menschenopfer und Kriegsschäden bezahlen müssen.

       Als der Pulverdampf verflogen war,

      galt es sich zurechtzufinden in dem, was noch verblieben war. Dann ging es um die Trümmerbeseitigung. Zu den Ersten, die sich allerdings befohlenermaßen verdient machten, zählten Onkel Horst und Opa Rudolf.

      Durch Bekanntmachung des sowjetrussischen Bezirkskommandanten von Berlin-Britz, der sich im Haus gegenüber Rolands Wohnhaus einquartiert hatte, waren alle Männer aufgerufen, sich am 12. Mai 1945 zur Trümmerbeseitigung an der Kreuzung Chausseestraße/Ecke Gradestraße einzufinden. Die Schmach, dass der Sieger die Befehle gab, trat zurück hinter der Einsicht, überhaupt in dem Chaos geführt zu werden. Onkel Horst hatte an diesem Tag seinen 18. Geburtstag. Ausgerechnet ihm und Opa Rudolf wurde befohlen, die Steine des Pissoirs, welches ja bei den Kampfhandlungen komplett zerlegt worden war, zu beseitigen. Horst sah in Gedanken noch die in Stiefeln steckenden Beine des Soldaten darunter vorragen. Der Leichnam war inzwischen abtransportiert, und von den anderen Helfern interessierte sich keiner für Horstens Erinnerung.

      In der Umgebung gab es in der Folgezeit keine weiteren Übergriffe durch die Soldaten der Roten Armee, wofür wohl auch der Kommandanten-Stab auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesorgt hatte. In Rolands Wohnhaus, in dem Licht und Wasser wieder funktionierten, wenn nicht gerade Stromsperre war, hatten sich in der Zahnarztwohnung sowjetrussische Verkehrspolizisten einquartiert.

      Mit der Bestandsaufnahme der Schäden in der Samenhandlung hatten Opa Rudolf und Horst in den vergangenen Tagen begonnen. Trostlos das Ganze, die Samenhandlung war besonders in Mitleidenschaft gezogen. Im Nachbarladen, der Filiale der ehemaligen jüdischen Ladenkette Selle, später arisiert in Meyer-Melchers, waren Spirituosen gebunkert. Den Sowjets war dieser Fund die Quelle nicht versiegenden Alkohols. In der Samenhandlung sah es auf den ersten Blick so aus, als sei jeder Gedanke an ein Wiederherrichten vertan. Das Inventar war zertrümmert. Die geplünderte Ware ergab eine Art Fußboden-Schicht. Flaschen und Scherben übersäten den Boden, der von kahlen Wänden mit unzähligen Einschusslöchern umstanden war. Stinkende Nebenräume voller menschlicher Exkremente, verkohltes Holz in einer Feuerstelle mitten in der Ladenfläche, die Decken rußgeschwärzt. Die ehemals schönen hölzernen Regalwände mit ihren Messinggriff-beschlagenen Schubladen waren aus ihren Fächern gerissen. Sie hatten wohl als Schemel gedient und lagen zerstreut und kaputt überall herum. Die Holz-Regalkonstruktion an der Wand war von Gewehrsalven zersplittert. Die treffendste Beschreibung des Ladenzustandes lieferte das Gerippe der einst mehrarmigen Deckenlampe. Nur kleinste Glasringe an den Birnenfassungen gaben den Hinweis auf vormalig vorhandene Glasschalen. Die Löcher in der Decke erklärten:

      Hier hat Zielschießen stattgefunden. Das zerfetzte Metallgebilde hing an der Decke wie ein Skelett.

      Opa Rudolf blickte auf sein zerstörtes Lebenswerk.

      „Lass uns 'mal nachsehen, ob es unsere Utensilien in der Zwischendecke im Klo noch gibt“, versuchte Onkel Horst ihn abzulenken. Sie hatten nämlich die Präzisionswaage und das Schmuckstück der Ladentheke, eine eiserne Registrierkasse zusammen mit allerlei Ladenzubehör, wie auch das Telefon, in Höhe des Wasserkastens in der Toilette mit Brettern verschalt. Als sie diese Bastelei zu Jahresbeginn durchgeführt hatten, dachten sie nicht an Eroberung durch die Russen. Sie wollten verhindern, dass, wenn nur die Scheiben zu Bruch gingen und nicht alles durch Volltreffer zerbombt werde, sie nicht noch beklaut würden. Auf Plünderung stand zwar Erschießen, aber der Nimbus einer heilen Volksgemeinschaft war im Wandel. Es gab zu viele, die gar nichts mehr hatten.

      Sie gingen nochmals ins Klo, an dem sie beim ersten Durchgang wegen des Gestanks nur flüchtig durch die offene Tür das abgerissene Handwaschbecken wahrgenommen hatten. Jetzt stellten sie fest:

      Alles war, wie sie es gerichtet hatten. Es erschien ihnen wie eine Aufforderung, mit dem Anpacken zu beginnen.

      Mit der Schubkarre aus dem Garten konnte der Unrat herausgebracht werden. Das Verschließen der Schaufensteröffnungen erfolgte mit Ziegelsteinen aus den Trümmern in der Straße. So kam Stein auf Stein. Von diesen musste zuvor aber vor seiner Verwendung der alte Putz abgeklopft werden, und zwar mit einem einfachen Hammer. Damit der Wand in der Schaufensteröffnung ohne Mörtel halbwegs Stabilität verliehen wurde, war die doppelte Ziegelbreite als verzahnter Verbund erforderlich.

      So hatten sie ein paar Tage geschafft, als Eispickel durch die Tür in den Laden trat. Die Schaufensteröffnung war bis zum oberen Rahmen mit Ziegelsteinen fertig verschlossen. Opa Rudolf und Eispickel freuten sich des Wiedersehens. Mit Horst tauschten sie zu dritt Neuigkeiten aus:

      „Meene Famijie is komplett. Erna hamse verjewaltigt. Egons Leichnam hamwa jeholt und unta de Erde jebracht. Jetzt hamwa imma noch Übergriffe von de Russen inne Siedlung.“

      Der Grund seines Besuches war ein ganz praktischer:

      „Ick hab meen alten Eiswagen entdeckt. Der war in eene Straßenbarrikade vabaut. Den Uffbau hat et versiebt, denn det Zinkblech is durch. Nu will ick mal kieken, ob wat von det Blech im Kühlraum von de Meyer-Melchers zu jebrauchen is. Habt doch nischt dajegen. oder?“

      „Komm Eispickel, schauen wir nach! Ich habe da sowieso eine Idee. Jetzt haben wir unsere Räume soweit entrümpelt und gesichert, da stellt sich doch die Frage, was machen wir mit dem Ladenteil von Meyer-Melchers ?“

      Opa Rudolf war baff über die Logik, die er so von seinem Sohn nicht kannte. Der Genossenschaft, die Eigentümerin der Ladenpassage war, vorzuschlagen, Meyer-Melchers Ladenteil mit zu übernehmen, bot sich förmlich an. Geschäftsbetreiber würden Meyer-Melchers wohl nicht mehr sein wollen, und die Selle-Juden sind weg. Der Eigentümerin konnte doch gar nichts Besseres geboten werden….

      Onkel Horst brachte maßstabsgetreu die Vision „Aus zwei mach eins“ auf's Papier Die beiden Läden zusammengelegt, brächte für die „Samenhandlung Anders“ vier Schaufenster - zwei zur Hauptstraße, und die anderen zwei lägen um 90 Grad zum Hauseingang versetzt. So könnte eine Ladenfläche von gut 120 Quadratmetern entstehen. Für die Verwirklichung dieser schönen Vision machten sie sich an die Arbeit, nach dem Opa Rudolf die Zustimmung von der Genossenschaft beigebracht hatte.

      Alle Erwachsenen der Familie brachten über Monate körperlich zehrende Opfer. Die für die Reparaturen erforderlichen Materialien und die üblichen Waren für das noch zu gründende Verkaufssortiment konnten nur durch Tausch besorgt werden. Zum Tauschen musste man aber auch erst einmal etwas zu bieten haben. Mutter Margot und Opa Rudolf fuhren "hamstern". Der Terminus HAMSTERN umschreibt den täglichen Aufbruch von zigtausend Stadtmenschen mit Rucksäcken und Taschen in die Vororte Berlins. Mitgenommen wurden Habseligkeiten, die nach Zerstörung, Diebstahl und Plünderung noch vorhanden waren: Silber-Bestecke, wertvolles Porzellan, Schmuck und andere wertvolle kleine Einzelstücke des Hausrats, zum Beispiel Bilder und Teppiche. Wenige, von den Russen nicht beschlagnahmte, noch fahrbereite Waggons der Deutschen Reichsbahn waren total überfüllt. Die von den hungernden Stadtbewohnern aufgesuchte Bauern im Umland verhielten sich nach dem Gesetz eines mangelhaften Angebots gegenüber einer exorbitanten Nachfrage. Man erzählte sich unter anderem von Bauern, die ihre Viehställe mit teuren Teppichen ausgelegt hatten. Selbst Opa Rudolfs aufgesuchte ehemalige Geschäftspartner machten da, bis auf eine Ausnahme, keinen Unterschied. War der Hamster-Tausch-Besuch bei den Bauern abgeschlossen, begann mit den mehr oder weniger erfolgreich getauschten Habseligkeiten im Gepäck die Rückfahrt. Dabei standen die Menschen teilweise während der Fahrt auf den durchlaufenden Trittbrettern unterhalb der Waggontüren. Man hielt sich an den Tür- und Fensterbeschlägen oder aneinander fest. Das gleiche Bild bot sich auf den Plattformen zwischen den Waggons. Die Waghalsigsten unter den Hamsterern stellten sich auf die Puffer zwischen den Waggons, und die Kräftigsten unter ihnen saßen auf den Dächern der Personenwaggons. In diesem Gedrängel kam