weil es manchmal lustig war, zu beobachten, welcher Deckel auf welchen Topf zu passen glaubte.
Aufbaustundenhefte hatten auch den Charakter einer großen Lotterie. Es wurde propagiert, dass die Leute mit den meisten Aufbaustunden die größten Chancen hätten, später zu Bewohnern der gerade in der Planung befindlichen Stalinallee werden zu können. Wer hundert Halbschichten (100x4Std=400Std) leistete, erhielt ein Los der Aufbaulotterie. In dieser Allee in Friedrichshain sollten Wohnungen entstehen, deren architektonische Ansicht, vor allem aber ihre Grundrissgestaltung und Ausstattung in ihrer Gesamtheit den Fortschritt eines sozialistischen Wohnungsbaus für Jedermann verkörpern sollten. Nach einem Losverfahren sollten die Aufbauhelfer Berücksichtigung finden. Bereits im Mai 1952 zogen Mieter in die Wohnungen des ersten Hochhauses an der Weberwiese ein. Dreißig Arbeiterfamilien, darunter auch Trümmerfrauen und Bauarbeiter, waren unter den Erstbeziehern. Die neuen Bewohner hatten zu ertragen, dass noch Wochen nach ihrem Einzug tausende Neugieriger aus Ost und West durch ihre Wohnung zogen, um sich ein Bild von der Vision des neu entstehenden Berlin machen zu können. Roland war mit Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt dabei. Die Wanderungen durch die neu bezogenen Wohnungen wurden nach Wochen von einem Ausstellungspavillon neben dem Hochhaus abgefangen. Die Durchmischung der Erstbezieher stärkte anfangs propagandistisch zwar das Vertrauen auf das Losverfahren, aber auf die später vollendete Stalinallee bezogen, war das nur die halbe Wahrheit. Neben den Losen existierten feste Kontingente für Günstlinge des Systems, von denen keiner je eine Aufbaustunde geleistet hatte.
Roland hatte für sich eine neue Freizeitbeschäftigung entdeckt, die auch bei Grundmann-Bruder Kurt auf Interesse stieß. Es ging um Zierfisch-Zucht. Die mit ihr einhergehenden Pflichten teilten sie sich. Roland ging nachmittags Wasserflöhe kaufen, und die Reinigung des Aquariums einschließlich der Sauerstoffversorgungsanlage bewerkstelligten sie gemeinsam. Stolz präsentierten sie Mutter Margot und dem Besuch die Zunahme der Population. Bei der Aufzucht der Spezies Guppys hatten sie ein glückliches Händchen. Die Guppys hatten so lange fächerartige, bunte Schwänze, dass sie beim Schwimmen schwanzlastig waren. Weil die Guppys so besonders wirkten, ließ sich die Tierhandlung, bei der sie Wasserflöhe und allerlei Zubehör erwarben, aus dieser Züchtung versorgen. Kaufmännisch betrachtet versorgten sich die Fische also selber
Stalin, als größte Statue auf deutschem Boden, etwa 5m hoch, und in Bronze gegossen, stand seit 1951 in der Allee, die seinen Namen trug. Er starb im März 1953. Die Schulklassen kondolieren. Dabei ging es nicht darum, mit Papierfahnen bestückt am Straßenrand der Stalinallee, in noblen schwarzen Karossen vorbeifahrenden Kommunistenführern zuzuwinken, wie es des Öfteren im Schuljahr statt Unterrichts geschah. Die gesamte Wegstrecke betrug rund 4 Kilometer. Auf den letzten hundert Metern hatten sie zu schweigen. Am Sockel, auf dem Stalin stand, angekommen, war aus dem Normalschritt ein schlurfendes Schleichen geworden, welches sie den Erwachsenen gleichtaten. Weinende Menschen, Tränen überströmte Gesichter, mit Gestik tiefster Trauer und Anteilnahme - so schlich die von ihren Arbeitsplätzen abkommandierte Masse, komplette Arbeitskollektive, Brigaden und Abteilungen, an der Stalin-Büste vorüber. Jahre später konnte Roland aus den Erfahrungen anderer Begebenheiten nachvollziehen, dass es in dieser Gemeinschaft durchaus Sinn machte, ein paar Tränen, sichtbar für die nahe stehenden Kollegen, zu vergießen. Man beobachtete sich gegenseitig, um den Grad der sozialistisch-sowjetischen Durchdringung einander abzuschauen. Stalin war tot, aber der dumm-platte sowjetische Stalinismus als die angestrebte deutsche Lebensform lebte weiter. Der Ritus, jedem Substantiv das Wort „sozialistisch“ voranzustellen, wurde bis zum Zusammenbruch der DDR zelebriert und geheuchelt.
Das vierte Schuljahr war zu Ende. Roland war zwei Tagen zuvor in einem Ferienlager in Neu-Fahrland bei Potsdam angekommen, als sich am 17. Juni 1953 auf dem gesamten Gebiet der DDR der Aufstand entwickelte. An diesem Tag gab es einen lauten Knall aus Richtung der Hauptstraße, und zu sehen war ein hoher dunkler Rauchpilz. Neugierig liefen die Jungen aus dem Ferienlager in dessen Richtung und sahen einen Tankwagen der Sowjets ausbrennen. Zwischen den schaulustigen Erwachsenen stehend wunderte sich Roland, dass niemand Mitleid mit dem verkohlten Leichnam des Fahrers zeigte. Vom 17. Juni und den Unruhen in Berlin bekam Roland nur mit, dass Vieles durcheinander geraten sein musste. Mutter Margot hatte Roland noch bei der Abreise versprochen, ihn in Neu-Fahrland abzuholen, um am kommenden Samstag zur Hochzeit von Onkel Horst und Traudchen zu fahren. Die Reise zur Hochzeitsfeier schien in Frage gestellt. So war es dann auch. Drei Tage später, als Onkel Horst sein Traudchen am 20. Juni heiraten konnte, war die Stimmung wegen der politischen Lage getrübt. Die Zukunft wurde wieder einmal von den Berlinern als höchst unsicher empfunden. Die Sektorenübergänge waren gesperrt und der vom Osten verwaltete S-Bahn-Betrieb war seit dem 17. Juni unterbrochen. Auch die U-Bahn fuhr nicht mehr über die Sektorengrenze. Keiner der im Osten wohnenden Freunde und Verwandten von Horst und Traudchen konnten die Hochzeit besuchen. Niemand wusste, ob und wann diese Einschränkungen aufgehoben würden. Mit dem 22. Juni begann sich der Verkehr zwischen den Sektoren wieder zu normalisieren. Der Betrieb der U-Bahn im Ostsektor und der S-Bahn funktionierten wieder, zunächst jedoch nur bis zur Sektorengrenze. Vom 9. Juli 1953 an konnte man wieder mit den Bahnen durch die Sektoren fahren.
Das Beste für Roland wollend, kam der Gedanke auf, ihn in einem Internat unterzubringen. Das passte ideal zur Karriereplanung vom Grundmann-Bruder Kurt. Das Internat befand sich in Grünheide bei Berlin.
Es war, über alles gesehen, im Internat ein verlockendes Leben. Funktionärs-Kinder aus dem Internat gingen in die am Ort befindliche Schule. Die Gruppenbetreuer kontrollierten die Hausaufgaben nur teilweise. Ansonsten kam es darauf an, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Sportlicher Wettkampf wurde groß geschrieben. Roland war unter seinen Alterskameraden der schnellste Läufer im Internat und in der Schule. Der Sport und seine Persönlichkeit überhaupt brachten ihm Ansehen. An der Tafel im Unterricht spielte er allerdings oft den Klassenclown. Es gab dort einen Freund namens Dirk, mit dem er 12 Jahre später einen Schwur leistete, der diesem letztlich den Weg in die westliche Hemisphäre geebnet hat.
Nach Rolands Geburtstag zogen Mutter und Grundmann-Bruder Kurt im Februar die Notbremse. Sie holten ihn aus dem Internat zurück, weil seine Versetzung von Klasse 5 nach Klasse 6 unmöglich schien. Mutter Margot arbeitete im Sekretariat der Grundschule in Lichtenberg. Dorthin erfolgte auch die Umschulung.
Fünf Minuten Fußweg entfernt lag das Jugendtheater „Theater der Freundschaft“. Es gab keine neue Vorstellung, zu deren Generalprobe nicht für jeden interessierten Schüler seiner Schule Freikarten und für deren Eltern verbilligte Eintrittskarten verteilt wurden. Als Roland erfuhr, am Theater würden Komparsen für die Nachmittagsvorstellungen gesucht, wollte er Komparse sein. Das klappte! In einer sehr bewegten, mit Gesang getragenen Rolle stand er auf der Bühne. In einem Stück, mit Räubern im Walde, gab er einen Hasen! Alle über die Bühne hoppelnden Hasen sangen mit dem Chor. Der Ohrwurm blieb ihm unvergessen.
“Potz, plaus, ei der Daus, Geld und fette Beute,
flix flux keinen Mux, sonst, ihr lieben Leute,
drehn wir euch schrumm schrumm schrumm,
eh ihr´s denkt den Kragen rum,
und dann seid zu aller Nooot –
ihr noch mima mause tooot!“
Zu beobachten wie die Theaterleute miteinander umgingen, ihre Proben, das wuselige Treiben unterschiedlichster Dienste und die Aufregung, bevor sich der Vorhang öffnete, das war eine Welt für sich. Als kleiner Akteur auf der Bühne, Verwandte und Freunde im Publikum wissend, das hatte etwas.
Die Umschulung Rolands erfolgte rechtzeitig und zahlte sich aus. Die Schande des Sitzenbleibens blieb ihm erspart. Besser noch:
Es gab auf dem Jahreszeugnis noch nicht einmal eine Vier.
1954 trat die deutsche Mannschaft zum Turnier der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz an. Roland befand sich, wie alle Jahre in den Sommermonaten, in einem schönen Ferienlager. Die Betreuer fragten:
„Für wen drückt ihr denn die Daumen?“
Wissend, dass es sich um eine rein westdeutsche Besetzung, also ohne einen DDR-Spieler handelt, sagten sie naiv und offen:
„Klar, für die Deutschen!“
Das passte den Erziehern