K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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oder nie vom Klassenlehrer durchwühlt, weil bei ihm als „Jungem Pionier“ und Sohn aus einer Funktionärsfamilie solche Spielsachen und „Schundliteratur“ nicht zu vermuten waren. Das führte dazu, dass die Klassenkameraden ihre Habe bei ihm deponierten, bis die Kontrolle abgeschlossen war. Durch Lehrerwechsel ging ihm das Privileg, „nicht kontrolliert zu werden“, verloren. Der Fund von West-Literatur in seiner Schulmappe schlug zu Hause ein wie eine Bombe.

      Die Eltern waren zwischenzeitlich über die Schulleistungen zumindest beruhigt, wenn er ihnen ein neues Abzeichen „Für gutes Wissen“ vorlegte. Roland wartete mit Silber auf. Die Organisation der „Jungen Pioniere“ vergab diese Anerkennungen in Bronze, Silber und Gold für Abfragen den Sozialismus betreffender Zusammenhänge. Es war ein ganz kleiner, dem schulischen Lehrplan zuzuordnender Stoff, der in diese spezielle Abzeichenvergabe einging. Die erste Fremdsprache war Russisch. Es zu lehren war nicht einem ausgebildeten Pädagogen, sondern einem Altkommunisten übertragen worden. Der hatte die Sprache bei den „Sowjetischen Freunden“ im Exil erlernt. Ihm machte Rolands Klasse die Unterrichtsstunden sehr schwer. Neudeutsch, er wurde „gemobbt“. Die Vorbehalte gegen die Sprache gingen einher mit der allgemeinen Einstellung gegenüber allem Russischen.

      Rolands Eltern haben gerne daran geglaubt, dass er zu den leistungsstärkeren Schülern in der Klasse zählte, weil es sich bei denen, die die Auszeichnungen zuerkannten, u.a. auch um seine Klassenlehrerin handelte. Dass er immer wieder am Kurs „Für gutes Wissen“ teilnahm, hing in Wahrheit mit der Verehrung zusammen, die er für seine Klassenlehrerin empfand, die auch gleichzeitig die Pionierleiterin an der Schule war. Die von ihm Verehrte roch nach seinem Dafürhalten gut und sah, egal was sie anhatte, immer schick aus. Selbst das FDJ-Hemd betonte ihre Figur.

      Als einmal ein gemeinsamer Theaterbesuch geplant war, hatte Roland irgend etwas mit einem Jungen getauscht, nur um die nummerierte Platzkarte neben seiner Lehrerin zu ergattern. Er war ganz aufgeregt in seiner Vorfreude. Für Männer gab es damals eine Duftcreme, mit der das Haar durchkämmt wurde. Roland kaufte eine solche Tube 'GLÄTT'. Fast die ganze Tube setze er für seine Vorbereitung auf den Theaterbesuch ein. Stolz saß er abends neben ihr. Zwei Jahre später im Abschlussferienlager seiner Klasse am Lagerfeuer erfuhr er dann:

      „Roland, du hast im Theater so penetrant gerochen, dass mich in der großen Pause die hinter uns sitzende Frau vor dem Frisierspiegel in der Toilette auf den Geruch angesprochen hat.“

      Sie lachten beide bei der Erinnerung, und Roland, ganz der galante Kavalier:

      „Ich weiß, es ist besser dezent zu duften als aufdringlich zu riechen. Hätte ich es besser gekonnt, Sie sind es mir wert.“

      Lehrerwechsel waren nicht gerade selten, weil viele Lehrer nach West-Berlin übersiedelten.

      Allgemein war der Flüchtlingsstrom von Ost-Berlin in den Westen bei weitem nicht so stark, wie es der Flüchtlingsstrom aus den übrigen DDR-Provinzen gewesen ist. Die Berliner hatten im Gegensatz zu den Landsleuten von außerhalb Berlins die Möglichkeit, sich täglich der jeweils besseren Variante der zwei Welten zu bedienen. Deshalb siedelte der Berliner ausnahmsweise spontan in den Westen über, wenn er politische Verfolgung oder Benachteiligung befürchten musste. So mancher Ost-Berliner arbeitete in West-Berlin und bereitete sich in aller Ruhe auf den Umzug nach Westberlin nach dem Motto vor: Erst eine Wohnung dann - der Wechsel.

      Viele ehemalige Schulkameraden von Roland gingen nach der vierten Klasse in West-Berliner Gymnasien, wohnten aber weiter mit den Eltern in Ost-Berlin. In West-Berlin wurde keine politische Einstellung, weder die des Schüler noch die seiner Eltern, für den Besuch des Gymnasiums abgefragt. Der Nachweis proletarischer Herkunft erübrigte sich.

      Rolands Status in der Klasse war gut. Die Interessen begannen sich zu verlagern. Die Auswahl der Freundschaften fand nicht mehr nach der politischen Orientierung der Elternhäuser statt. Der Freundeskreis unterlag anderen Maßstäben. Mädels rückten in das Blickfeld der Begierde. Beurteilt wurden die von den Jungen figürlich nach dem Entwicklungsstand ihrer weiblichen Proportionen und nach ihrer Garderobe.

      Petticoats aus dem Westen zu tragen, war nur wenigen Mädchen möglich. Ihre nähenden Mütter glichen das aus. Die Jungen verglichen untereinander ihre Kleidung und die Mädchen schätzten diese auch ab. Der Unterschied zwischen der Kleidung aus dem Westen und der aus der Ost-Produktion war augenscheinlich. Im Unterschied zur Mädchenkleidung konnte für die Jungs nicht die Nähkunst der Mütter zaubern. Die Jungs trugen, sobald die Sonne wärmte, kurze Lederhosen. Entscheidend war hier das Leder. Die Lederhosen aus dem Westen waren aus steiferem Rindsleder und die aus dem Osten aus etwas schlabbrigem Ziegenleder. In den Taschen hatte ein Junge immer Taschentuch, Kamm und, wenn vorhanden, Uhr. Ein Taschenmesser oder kleinerer Hirschfänger mit Horngriff steckte in der seitlich aufgenähten Scheide der Lederhose, Den größten Unterschied bildete das Schuhwerk. Aus dem Westen kamen die Schuhe mit dicken Kreppsohlen. Die gab es in Ost-Berlin nicht. Den wohl größten Zuspruch erhielt derjenige, der ein Kofferradio hatte. Mit ihm konnte, batteriebetrieben, unabhängig vom Stromnetz empfangen werden. In der Schule war das Mitbringen von Kofferradios verboten. Die Geräte waren auf Grund ihres hohen Westgeld-Preises recht selten. In Rolands Klasse hatte nur ein Junge so ein Radio. Dessen kleinerer Bruder, noch nicht schulpflichtig, wartete auf ihn zum Schulschluss vor dem Haupttor, um ihm das Radio zu übergeben. Er, mit dem Radio auf dem Arm, und alle standen um ihn herum. So wurde RIAS-Schlagermusik gehört.

      Ein weiteres Statussymbol war das Fahrrad. Nicht das Fahrrad an sich, sondern seine Herkunft, seine Form und seine Ausstattung gaben dem Fahrer die Wertigkeit. Ein Fahrrad aus dem Westen war das Maß der Dinge. Die Fahrräder aus dem Westen hatten schmalere Felgen, Felgenbremsen vorn und hinten und Mehrgangschaltung. Wenn die Pedale im Leerlauf standen und die Nabe surrte, ergab das einen Sound, der die Blicke der Passanten wandern ließ. Sollten dem Rad diese Attribute fehlen, konnte über kleines Zubehör der Ostlook gemildert werden. Hierbei half die Montage eines anderen Lenkers. Der nach seiner Form benannte „Ochsenkopf-Lenker“ galt als Mindesteinstand für ein standesgemäßes Fahrrad. Über besondere Gummi- und Plastiküberzieher für die Lenker- und Bremsgriffe und bunte Ölabstrichringe auf den Naben kam man der Norm, wenn auch auf schmerzlich niedrigerem Niveau, näher. Außerhalb jeder normalen Vergleichbarkeit befand sich der Status eines Rennradbesitzers. Ein Rennfahrrad hatte nur jemand, dessen Eltern über richtig gute Westverbindungen verfügten.

      Die Fahrräder von Lehrern und Schülern, die mit dem Rad zur Schule kamen, standen auf dem Schulhof neben dem Heizungskeller. Hier wurde nicht geklaut. Auf dem Schulhof zu klauen oder überhaupt einem Mitschüler etwas wegzunehmen, was man selber gerne haben wollte, widersprach dem als normal empfundenen Grundkodex von Ehre und Anstand. Rennfahrrad fahren und dabei Nietenhosen tragen war die Statusspitze. Nietenhosen waren in der Schule verboten. Die Niethosenträger der Klasse kamen in erlaubten Hosen zum Unterricht und zogen sich nach dem Unterricht in der Toilette für den Heimweg um. So angezogen konnten sie noch einige Straßen weiter mit den Mädels schäkern.

      Gott-sei-Dank wurden Liebesbriefe zwischen den Jungen und Mädchen nicht allein wegen der Summe vorhandener Statussymbole ausgetauscht. Roland war im Kreis der Mädchen ein geschätzter Junge. Sie wussten, Roland ist ein Beschützer. Wenn nämlich Ungerechtigkeit in der Luft lag, ergriff Roland Partei. Da waren auch noch seine beeindruckenden Leistungen im Sport und seine höflichen Umgangsformen. Roland war der Typ eines „burschikosen Charmeurs“. Sein größtes Handikap hingegen waren seine rotblonden Haare. Ein rotblonder Typ entsprach damals so gar nicht dem Ideal der Mädchen. Sängertypen wie Vico Torriani, Freddi Quinn, Bill Haley oder Elvis Presley waren gefragt. Wenn sie also bei einem Jungen nur den Anflug einer Ähnlichkeit zu den Typenmerkmalen ihrer Idole erkannten, fiel die Entscheidung immer zu dessen Gunsten aus. Selbst rabaukenhaftes Benehmen oder allgemeines Doofsein wurde von den Mädchen eher akzeptiert als ein rotblonder Freund. Auch wenn Roland seine Haare so wie Elvis hinten zum Entenschwanz kämmte, änderte das nichts, denn rotblond war nicht schwarz. Das Kämmen der Haare zum Entenschwanz konnte Roland immer erst auf dem Schulweg vornehmen, denn seine Eltern hätten ihm die Haare eher ganz kurz schneiden lassen, als einen Entenschwanz, wie ihn Elvis heimlich trug, zu tolerieren. Und trotzdem, seine Mühe wurde von der höchst umworbenen Schönheit beider Parallelklassen, Sylvia, belohnt. Die während der Unterrichtstunden über mehrere Bankreihen hinweg ausgetauschten Liebeszettel brachten