K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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Insel Hiddensee.

      Ein Klassenausflug zu Beginn des Schuljahres 1956 führte Roland in das Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen, einem Ortsteil von Oranienburg. Über die KZ der Nazizeit hatte er in jedem der Schuljahre gehört und gelesen. Im Vordergrund standen hierbei stets die inhaftierten kommunistischen Arbeiterführer. Der Roman “Das siebte Kreuz“ spielte in dieser Geschichtsdarstellung eine hervorgehobene Rolle. Diesem Roman von Anna Seghers liegt eine Schilderung des KZ Osthofen in der Nähe von Worms zugrunde, wo sich das Lager auf einem damals stillgelegten Fabrikgelände befand.

      So ein Lager war auch das zur Gedenkstätte ausgebaute KZ Buchenwald, bei Weimar gelegen, welches sie im Jahr zuvor besucht hatten. In Buchenwald wurde ihnen das Lagersystem nach Anna Seghers erklärt. Diesmal, im KZ Sachsenhausen, wurde ihm und seinen Mitschülern erstmals eine Gaskammer gezeigt, in denen sowjetische Kriegsgefangene durch die Nazis vergast worden sein sollten. Die Besichtigung der Gaskammer beeindruckte ihn sehr und verschwand über Wochen nicht aus seiner Phantasie.

      Im Oktober gab es einen Volksaufstand im sozialistischen Ungarn. Fotos von verstümmelten Leichen, bei denen es sich um Kommunisten gehandelt haben soll, erschienen auf den Titelseiten der Ostberliner Zeitungen. Im Unterricht wurden sie als Beweise für faschistische Vorgehensweisen vorgelegt. Die geschilderten Verbrechen der Nazis in Sachsenhausen im Kopf, ergriff Rolands Klasse Partei für die „sowjetischen Freunde“, die den Ungarnaufstand brachial niederwarfen. Etwa 12 Jahre später las Roland, dass die Gaskammer in Sachsenhausen eine Konstruktion der Sowjets gewesen ist. In einer eidesstattlichen Erklärung beschreibt ein ehemaliger Nachkriegs-Internierter der Sowjets, die im ehemaligen KZ Sachsenhausen eines ihrer Sonderlager errichtet hatten, seine Mitarbeit an der Bauausführung der „Gaskammer“. Erst in diesem Jahrtausend ist die „Gaskammer“ in Sachsenhausen abgerissen und aus dem jahrzehntelang gepflegten Horrorszenario "Deutsche Faschisten" in Sachsenhausen entfernt worden.

      Einige Hausaufgänge neben dem Rolands befand sich der größte und wohl am besten belieferte Laden „Wild und Geflügel“ in Ostberlin. Die Gänse wurden in dünnwandigen Sperrholzkisten aus Polen angeliefert. Die leeren Kisten wanderten auf einen riesigen Haufen hinter dem Hausblock. Hier besorgten sich alle Interessenten aus der Umgebung Bastel- und Brennholz, bevor die von der HO (Handelsorganisation) geplante Sammelabholung zum Zuge kam. Roland fertigte aus dem Sperrholz einige anspruchsvolle Laubsägearbeiten als Weihnachtsgeschenke für Eltern und Verwandte. Mit Peter bastelte er aus diesem Material ein schönes großes Kasperle-Theater. Als sie dieses Vorhaben angingen war es die Begeisterung, durch spätere Vorstellungen vielleicht ihren Geldbedarf für Kinobesuche decken zu können. Sie ahnten nicht, wie zeitnah sich ihre Mühe auszahlen würde. Das Kasperle-Theater, schön anzusehen, stellten sie unten im Kinderwagenraum auf. Dann klingelten sie, auch an Wochenenden, bei Familien mit Kindern, die noch nicht zur Schule gingen. Den Müttern sagten sie, dass in Kürze eine Kasperle-Vorführung begänne. Die Kinder sollten einen Groschen mitbringen. Zehn und mehr Kinder kamen zusammen, die dann erwartungsvoll vor der kleinen Theaterbühne auf Kasperle warteten. Von ihren Müttern und Vätern, glücklich darüber, dass ihnen für etwa 2 Stunden die Kinder abgenommen waren, hatten diese mehr als nur einen Groschen mitbekommen. Bei den ersten Vorspielstücken orientierten sie sich an bekannten Märchen. Weil den Kinder-Kunden aber nicht viele Male dieselben Stücke vorgespielt werden konnten, trugen Roland und Peter Stegreif-Geschichten vor. Ihre Vorführungen dauerten manchmal gerade so lange, um es anschließend noch zum Beginn einer Nachmittags-Kinovorstellung zu schaffen. Die freudige Erwartung auf den Besuch einer Filmvorstellung wurde öfters enttäuscht, weil entweder beide nicht oder nur einer von ihnen eingelassen wurde. Es gab Filme, die waren ab 14, 16 oder erst ab 18 Jahren zugelassen. Nicht immer glaubte der Kartenverkäufer das ihm gegenüber behauptete Alter.

      Der Winter 1956/57 brachte Ende Januar Kältegrade von unter 20°. Sogar der Müggelsee war zugefroren. Vielerorts platzten die Wasserrohre, und die Belieferung mit Kohle brach völlig zusammen. In Rolands Schule gab es diese Probleme gleich mehrfach. Im Schulbetrieb gab es einen neuen Begriff "Kälteferien". Morgens pünktlich um 8: 00 Uhr in der Schule, saßen die Schüler in Mantel und Mütze in den Bänken. Der Lehrer gab der Klasse die Hausaufgaben bekannt. Er nannte die Buchseiten und Aufgaben für die einzelnen Fächer, wohl In der Hoffnung, irgendwie würden seine Schüler zu Hause einen warmen Platz zum Lernen finden. Kurz darauf schickte er die Klasse nach Hause. Wenn anschließend die Schüler nicht nach Hause gingen, vermissten die Eltern ihre Kinder nicht, weil sie sie ja in der Schule glaubten. Fast alle Klassen, und die von Roland war nur eine von mehreren im Bezirk, machten sich auf den Weg in Richtung Oberbaum-Brücke. Auf die Straßenbahn konnte man sich nicht verlassen, weil deren Oberleitungen immer wieder abschnittsweise dem Frost zum Opfer fielen. Weiterer Grund für den Fußmarsch war die Relation zwischen Fahrpreis und Kinokarte. Die nur 4 Straßenbahn-Stationen kosteten hin einen Groschen und zurück noch einen - die Kinokarte 1 Mark. Es war also Eile geboten, denn zeitlich versetzt zwischen 8: 30 – 9: 15 Uhr begannen jenseits der Oberbaumbrücke in Westberlin die Kinovorstellungen. Das Kinoprogramm wechselte täglich, und vorweg gab es die "Fox Tönende Wochenschau". Es war aber nicht nur die Zeit, die es einzuhalten galt. Rechtzeitiges Kommen sicherte überhaupt einen Platz, und nur bei frühzeitigem Eintreffen konnte ein guter Sitzplatz ergattert werden. Oft musste gerannt werden, weil die Verteilung der Hausaufgaben länger gedauert hatte. Die Schulranzen auf dem Weg und im Kino waren lästig. Sie wurden deshalb in einem Bäckerladen abgestellt, der auf dem Weg lag. Bei der guten Bäckersfrau stapelten sich die Schulranzen, die erst Stunden später auf dem Nachhauseweg wieder von ihnen abgeholt wurden. Es gab nahe hinter der Sektorengrenze die Film-Theater Lido, Stella, WBT, Oppelner und Casino. Bei Vorlage irgendeiner Ost-Identifikation, das konnte auch ein Pionierausweis sein, zahlte man mit einer Ostmark, egal wie der Kurs gerade stand. Es war möglich, nach einem Film sofort ins nächste Kino zu gehen, da die Anfangszeiten um 15 Minuten versetzt lagen. Wenn das Geld für die zweite oder dritte Vorstellung nicht reichte, begab man sich in eine der zahlreichen kleinen Stehhallen und hörte sich die neuesten Schlager aus den ständig spielenden Musikboxen an. Irgend jemand hatte immer ein Paar Pimperlinge übrig, um eine neue Platte aufzulegen. Wieder zu Hause eingetroffen, fragte Mutter, eher aus Routine denn wissbegierig:

      „Wie war es in der Schule, war was los?“

      Auf dem selben Level kam die Antwort:

      „Alles knorke heute!“

      Unausgesprochen blieb, dass das „Schulprogramm“ des Tages aus ein, zwei, ausnahmsweise sogar drei Western-Filmen bestand. Die Vorfreude galt bereits dem nächsten Kälteferien-Tag. Rolands Eltern blieben die täglichen Ausflüge nicht verborgen. Am Grenzübergang versah nämlich ein Polizist, der in Rolands Wohnhaus in der fünften Etage wohnte, seinen Dienst. Der hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als seinem Genossen, Rolands Vater, zu berichten, dass er täglich seinen Sohn mit den Klassenkameraden in den Westen wandern sehe. Die Kasperle-Einnahmen sprudelten synchron zu den Kälteferien prächtig. Mit dem Ende der Kälteperiode gingen auch die Kasperle-Einnahmen zurück. Womöglich war die Gutgläubigkeit der Mütter ausgenutzt, täglich würde den Kindern ein „neues“ Programm geboten.

      Im achten Schuljahr machte man Roland als „Pionier“ automatisch zum FDJ-ler. Bedeutender in diesem Schuljahr war jedoch, dass die Konfirmations- und Jugendweihefeiern stattfanden. Für Roland war, dem sozialistischen Menschenbild entsprechend, die Jugendweihe vorbestimmt. Seitdem Mutter mit Kurt verheiratet war, gab es abends kein gemeinsames Gebet vor dem Einschlafen mehr, Roland wurde atheistisch erzogen. Gleich ob Einsegnung oder Jugendweihe, in allen Familien legte man Geschenke und Geld zurück, um den Übergang vom Kind zum Erwachsenen unvergesslich werden zu lassen.

      Roland wurde von Kopf bis Fuß als „Mann“ eingekleidet. Sakko, lange Hose, Hemd mit Umschlagmanschetten, Manschettenknöpfe, Krawatte und gerade in Ostberlin in den Verkauf gelangte Kreppschuhe. Die Gesamtkomposition, von Mutter Margot zusammengestellt, spiegelte formvollendeten höchsten Standard. Roland gab mit einer Größe von etwa 1,70m eine gute Figur ab. So stand er dann zwischen den Mädchen seiner Klasse. Wunderschöne Petticoats, dazu Lack-Ballerina-Schuhe, Seidenhandschuhe, Handtäschchen und hochgesteckte Frisuren machten aus ihnen plötzlich kleine Damen. Ab jetzt ging Roland wie ein Erwachsener gekleidet ins Theater, nicht mehr mit gebügelter kurzer Hose über langen Strümpfen. Eine vergoldete Armbanduhr mit Datumsanzeige ersetzte die verchromte Taschenuhr.