Fakten« erfand. Mithilfe der sozialen Medien können sie nun gezielt Lügen streuen, um genau solch eine Kultur des »Bullshits« zu fördern. Mit »Bullshit« bezeichnet der Philosoph Harry G. Frankfurt eine substanzlose Geisteshaltung, welcher der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge grundsätzlich egal sei – und die deshalb eine größere Gefahr für die Wahrheit darstelle als die Lüge selbst.10
Wo Wahrheit beliebig wird, wo sie allein als Frage der subjektiven Meinung empfunden wird, geht das verloren, was der Sozialanthropologe Richard Reich als eine »extrakonstitutionelle Voraussetzung« der Demokratie erkannt hat.11 Diese steht und fällt mit der Fähigkeit zur gegenseitigen Verständigung und lebt somit von gemeinsam geteilten Wahrheiten, zumindest aber von gemeinsamen Kriterien der Wahrheitsfindung. Andernfalls droht das Band der sozialen Übereinkunft von den Fliehkräften der Polarisierung zerrissen zu werden. Wohl wissend, dass es ein Leichtes ist, dieses Band zu strapazieren, verbreiten extremistische Akteure zweifelhafte Informationen im Dauerfeuer, um demokratische Prozesse per se zu delegitimieren. Das ließ sich besonders gut zu Beginn der Corona-Krise beobachten, als sich Teile der extremen Rechten als Retter des Grundgesetzes aufspielten – wobei sie mit ihren Parolen doch deutlich machten, dass sie die dort verbrieften Rechte wohl kaum jemandem außerhalb der eigenen Denkweise zugestehen. Denn frei – und damit schützenswert – ist für sie stets nur die eigene Meinung, während andere Ansichten Teil der Meinungsdiktatur seien. Verstärkt wurden solche Tendenzen dadurch, dass sich viele Menschen über die sozialen Medien ihr eigenes Expertenwissen über das Virus zusammenreimten. Nicht selten war dieses »Wissen« dann von den dort kursierenden Verschwörungstheorien zur Pandemie beeinflusst, wie die Digitalexpertin Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty in ihrem viel beachteten Buch Fake Facts genauer aufzeigen.12
Die postfaktischen Informationen, die sich über die digitale Vernetzung breitmachen, wirken also toxisch auf den demokratischen Zusammenhalt. Insofern hat gerade das digitale Zeitalter, das als Krönung der Informationsgesellschaft angekündigt wurde, eine »epistemische Krise« der Demokratie hervorgerufen.13 Immerhin hat es selbst Verschwörungstheorien Auftrieb gegeben, die wie im Fall der »Theorie« der flachen Erde geradezu mittelalterlich erscheinen. Indem sie in der Regel die Welt in Gut und Böse einteilen, leisten sie der gesellschaftlichen Polarisierung Vorschub. Dabei werden die eigenen Meinungen und Weltanschauungen zum Maßstab für die Überprüfung von Fakten erhoben, während alles, was die »gefühlten Wahrheiten« nicht bestätigt, als Verschwörung gegen den »gesunden Menschenverstand« empfunden wird. Eine solche Grundhaltung, die Widersprüche nicht mehr reflektiert, verbindet die hermetisch geschlossenen Weltbilder von Verschwörungstheoretikern seit jeher mit denen der extremen Rechten. In beiden Denkweisen braucht es nämlich Sündenböcke, mit denen sich erklären lässt, warum die Welt nicht so funktioniert, wie man meint, dass sie es sollte. Oder wie es der Amerikanist Michael Butter zusammenfasst: »Alles ist geplant« und »nichts ist, wie es scheint«.14
Damit haben wir nun ausgewählte Aspekte der digitalen Transformation benannt, vor deren Hintergrund sich ein politischer Kulturwandel vollzieht. Sie finden in unterschiedlichem Maße Beachtung in der mittlerweile breit gefächerten Literatur zu der Frage, wie die sozialen Medien die Demokratie verändern und zur Radikalisierung beitragen. Insbesondere die Forschung zur extremen Rechten – einem offensichtlichen Profiteur der Digitalisierung – sieht sich mit der Frage konfrontiert, inwiefern die virtuellen Formen politischen Engagements den Gegnern der offenen Gesellschaft nutzen. Dabei machen rechtsextreme Akteure nicht erst seit gestern von digitalen Mitteln Gebrauch, um ihre politische Botschaft zu verbreiten und neue Anhänger zu rekrutieren. Tatsächlich gehörten sie zu den Ersten, die mit Webseiten, Foren und Diskussionsplattformen technologisch versierte Aktivisten hervorbrachten. Aus diesen zunächst randständigen Communities sollten sie schon bald ausbrechen, um sich die »partizipative Architektur des Internets« zunutze zu machen.15 Sie verzichteten dabei – zumindest nach außen hin – häufig auf das einschlägige, von Rassismus und Ultranationalismus getränkte Vokabular und machten so rechtsextreme Inhalte einem breiteren Publikum zugänglich.
Diesen Imagewandel darf man sich allerdings nicht als einen von oben gesteuerten Prozess vorstellen. Denn nicht nur veränderte die extreme Rechte mit dem Marsch durch die Plattformen die Diskussionskultur im Internet; die inhärente Logik der Online-Kommunikation veränderte auch den Rechtsextremismus selbst. Als Bewegung, die sich zunehmend globalisierte, schließt sie nun schon eine Weile verschiedene Sprachmuster und kulturelle Milieus ein, deren Dynamiken sich nicht einfach von formalen Organisationen kanalisieren lassen. Vielmehr haben diese digitalen Subkulturen neue Gegenöffentlichkeiten hervorgebracht, die nicht nach der hergebrachten Logik rechtsextremer Organisationen funktionieren. Sie bilden einen Flickenteppich an Überzeugungen, die in der niedrigschwelligen Propaganda von rechts außen einen gemeinsamen Nenner finden, und erweitern durch ihr interaktives Wirken in den digitalen Netzwerken den Resonanzraum auch für rechtsextreme Organisationen. Insofern sind die Erneuerung des Rechtsextremismus und seine Raumgewinne nicht ohne die Bedeutung der sozialen Medien zu verstehen.
Ein erstes Gespür für dieses Verhältnis bekommen wir, wenn wir die digitalen Aneignungsstrategien des Rechtsextremismus betrachten. So wies die Soziologin Jessie Daniels bereits 2009 darauf hin, dass sich das Internet zum wichtigsten Betätigungsfeld der extremen Rechten entwickle, die das Ziel verfolge, dort einen Meinungsumschwung in rechtsextremen Kernfragen – etwa im Umgang mit Minderheiten – zu bewirken. Dieser »Cyberrassismus« verschleierte schon damals seine eigentliche Agenda hinter einer ambivalenten Rhetorik und modernen Darstellungsformen, mit denen sich rechtsextreme Propaganda ansprechend präsentieren ließ.16 Dazu zählte auch, unverdächtige Pseudonyme zu verwenden, mit denen man in Foren die politische Ideologie als persönliche Meinung tarnte. Jedenfalls fand die extreme Rechte im Internet eine neue Möglichkeit des Aktivismus, mit dem sich Menschen aus ihrer Lebenswelt abholen und schrittweise an die rechtsextreme Denkweise heranführen lassen. Diese unverblümt auszudrücken, war wiederum den Szeneforen vorbehalten, in denen man sich offen über Gewaltfantasien und rassistische Verschwörungstheorien austauschte. Das berüchtigte Internetforum Stormfront etwa wurde im Jahr 1995 gegründet und dient seither militanten Rechtsextremen als globaler Umschlagplatz für Informationen und Materialien.
Tatsächlich haben viele Rechtsextreme schon bald das Potenzial eines digitalen Aktivismus erkannt. Insbesondere US-amerikanische Neonazis zogen sich deswegen nach dem Jahrtausendwechsel zunehmend aus »realen« politischen Gruppen zurück, um sich in der virtuellen Parallelwelt neu zusammenzufinden. Die Möglichkeiten, die sie dort vorfanden, waren vielfältig. Wie die Journalistin Karolin Schwarz ausführlich beschreibt, bauten sich auch deutsche Rechtsextreme schon früh ein eigenes System von Webseiten, Online-Versandhandel und Diskussionsforen auf, das nicht nur dem Zusammenhalt und der internationalen Vernetzung diente, sondern auch der Planung von Angriffen auf politische Gegner.17 Mit dem Siegeszug sozialer Medien erreichten die Hassbotschaften aus diesen randständigen Foren dann schlagartig ein größeres Publikum, konnten sie doch jetzt durch Verlinkungen in digitalen Öffentlichkeiten weithin sichtbar gemacht werden. Zugleich ergriff der Rechtsextremismus die Möglichkeit, seine zuvor von den Medien ausgeschlossenen Botschaften ungefiltert in der Öffentlichkeit verbreiten zu können. Indem er nun mit eigenen Nachrichtenformaten eine Gegenöffentlichkeit zu den verhassten »Systemmedien« aufzubauen versuchte, erfand er sich gar als Medienaktivismus neu. Rechtsextreme von heute inszenieren sich daher häufig als politische Influencer, die sich der Verbreitungslogik aller ihnen zugänglichen Plattformen anpassen, um politisch sichtbar und attraktiv zu werden.
Ein weiterer Aspekt im Verhältnis des Rechtsextremismus zu den sozialen Medien ist seine Verschmelzung mit digitalen Gaming- und Trolling-Kulturen. Sie machen es zunehmend schwierig, zwischen kollektivem und individuellem Handeln, zwischen privater Äußerung und politischer Botschaft, zwischen Spaß und Ernst zu unterscheiden. Hier trifft eine Netzkultur, die rassistisch, homophob und antifeministisch geprägt ist, auf politische Vorstellungen von kultureller Überlegenheit und autoritären Sozialstrukturen, die nun in spielerischer Weise neu formuliert werden. Aus diesem politisch-kulturellen Amalgam ging etwa die US-amerikanische Alt-Right-Bewegung hervor, die weltweit Einfluss auf die extreme Rechte nahm. Als wichtigste Zutat in ihrem Erfolgsrezept kann, wie der Journalist David Neiwert betont, insbesondere das profane Mittel der Ironie gelten.18