Lothar Gassmann

Die Lehren der Zeugen Jehovas


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      Welches waren welche die falschen Lehren, welche die „Leitende Körperschaft“ unter Führung seines Onkels Frederick Franz ihm zur Last legte? Es handelt sich um folgende Punkte:

      „1. Jehova hat heute keine Organisation auf Erden, und die leitende Körperschaft wird nicht von Jehova geleitet.

      2. Jeder, der seit den Tagen Christi (33 u. Z.) getauft wurde und bis zum Ende noch getauft werden wird, soll auch himmlische Hoffnung haben …

      3. Die Vorkehrung der Klasse eines ´treuen und verständigen Sklaven`, bestehend aus den Gesalbten und der leitenden Körperschaft aus ihren Reihen, zur Leitung von Jehovas Volk hat keine biblische Grundlage…

      4. Es gibt heute keine zwei Klassen, eine himmlische und eine irdische…

      5. Die in Offb. 7:14 und 14:1 genannte Zahl von 144.000 ist symbolisch zu verstehen und darf nicht buchstäblich genommen werden…

      6. Wir leben heute nicht in einer besonderen Zeit der ´letzten Tage`, sondern die ´letzten Tage` begannen vor 1900 Jahren im Jahre 33 u. Z. …

      7. Bei 1914 handelt es sich nicht um ein gesichertes Datum. Jesus Christus wurde damals nicht inthronisiert, sondern herrscht seit 33 u. Z. in seinem Königreich. Die Gegenwart Christi (parousia) hat noch nicht begonnen, sondern liegt in der Zukunft…“ (Franz 1991, S. 254).

      Auf viele der hier angesprochenen Lehren werde ich im weiteren Verlauf der Darstellung ausführlicher eingehen.

      Am 22. Dezember 1992 starb Frederick William Franz hochbetagt im Alter von 99 Jahren. Er hatte sich von seinem Neffen nicht korrigieren lassen. Im Geschichtswerk der Zeugen Jehovas heißt es über ihn:

      „Sein Ruf als bedeutender Bibelgelehrter und seine unermüdliche Arbeit zur Förderung der Königreichsinteressen haben ihm das Vertrauen und die loyale Unterstützung der Zeugen Jehovas überall eingetragen“ (JZ, S. 109).

      Zum neuen Präsidenten wurde nach Franz` Tod Milton G. Henschel gewählt. Henschel gehörte vorher schon mehrere Jahrzehnte lang zum Vorstand der Wachtturm-Gesellschaft und hatte bereits Knorr als dessen Sekretär auf Dienstreisen begleitet, sich jedoch zeitweise mit ihm überworfen. Mit Henschel wurde erstmals ein Mann zum Präsidenten berufen, der (zwangsläufig) nach 1914 geboren ist.

      Milton G. Henschel kam am 9. August 1920 in Ponoma/New Jersey zur Welt. Seine Eltern und Großeltern gehörten den „Ernsten Bibelforschern“ an, so dass er in deren Tradition „hineingeboren“ wurde. 1934 wurde er „getauft“ und trat bald darauf in das Brooklyner Bethel ein. Dort übernahm er – außer der zeitweiligen Tätigkeit als Knorrs Sekretär – Aufgaben in der Verwaltung sowie im Dienst- und Veröffentlichungs-Komitee. Bevor er 1992 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er die Oberaufsicht über die zahlreichen Druckereien der Wachtturm-Gesellschaft inne.

      In die Präsidentschaft Henschels fällt die Notwendigkeit gravierender Veränderungen, insbesondere im Blick auf das Datum 1914 und das Aussterben der damals lebenden Generation. Diese Änderung, die im Jahre 1995 erfolgte (vgl. den Teil „Letzte Dinge“), dürfte Henschel, der bei Abstimmungen in der „Leitenden Körperschaft“ immer als Bewahrer des Status quo galt (vgl. Franz 1991, S. 105), nicht leicht gefallen sein, aber sie war unausweichlich.

      In den Jahren 2000-2014 war Don Alden Adams Präsident der Wachtturm-Gesellschaft. Er gehörte nicht der Leitenden Körperschaft an, sondern praktizierte überwiegend Verwaltungsaufgaben. An das Charisma seiner Vorgänger kam er nicht heran.

      2014 wurde Robert Ciranko neuer Präsident der Wachtturm-Gesellschaft. Auch er gehört nicht der Leitenden Körperschaft an.

      Zur leitenden Körperschaft gehören im Jahr 2019: Kenneth Cook jr., Samuel Herd, Geoffrey Jackson, Stephen Lett, Gerrit Lösch, Anthony Morris III., Mark Sanderson und David Splane (Stand: Januar 2018). Die leitende Körperschaft hat ihren Sitz in der ZJ-Weltzentrale in Warwick (New York, USA) (laut der Homepage von Jehovah`Witnesses 2019).

      In der Geschichte der von Charles Taze Russell herkommenden Bewegung gibt es eine Vielzahl von Abspaltungen und Splittergruppen. Ich habe schon erwähnt, dass die heutigen Zeugen Jehovas eher als materielle denn als geistige Erben Russells zu betrachten sind. Die völlige Umstrukturierung der Bewegung durch Rutherford hat ihr ein weitgehend neues, noch stärker sektiererisches Gepräge gegeben. Gerade zu Rutherfords Zeiten, infolge der Machtkämpfe seiner ersten Amtsjahre und der daraus hervorgehenden zunehmenden Zentralisierung, erfolgte eine Fülle von Protesten und Austritten. Aber auch andere Gründe gab es, welche zu Absplitterungen führten. Dietrich Hellmund zählt in seiner Dissertation „Geschichte der Zeugen Jehovas“ allein 20 Gruppen auf, die einmal mit der Lehre Russells in Verbindung standen und behaupten, diese zu bewahren oder eigenständig weiterzuentwickeln, unter ihnen auch die heutigen Zeugen Jehovas. Hellmund betont:

      „Die alte IVEB (´Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher`) ist – vom Standpunkt der Dogmengeschichte und Lehrentwicklung her gesehen – tot. Trotz der Beibehaltung des alten Namens für einige Zeit können auch die Zeugen Jehovas nur bedingt als Fortsetzung der alten IVEB verstanden werden. Nachfolger der IVEB sind sie nur im soziologischen Sinn. Als direkte Folge der Machtkämpfe von 1917-1919 sind viele Glaubensgemeinschaften neu konstituiert worden, die es so vor 1917 noch nicht gab. Damals ist ein Spaltungsmechanismus in Gang gesetzt worden, der heute noch nicht zur Ruhe gekommen ist… Über die Gesamtzahl dieser Splittergruppen gibt es nur Vermutungen.“

      Im Folgenden seien nur die drei bedeutendsten Gruppen kurz skizziert: die Freie Bibelgemeinde, die Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung und die Kirche des Reiches Gottes.

      Freie Bibelgemeinde

      „Freie Bibelgemeinde“ ist zunächst ein umfassender Begriff für unterschiedliche russellitische Splittergruppen, die ab 1916 entstanden, weil sie Rutherford und seinen Kurs nicht anerkennen wollten. Wesentliche Lehrpunkte Russells wurden beibehalten, etwa der Ganztod des Menschen, die Ablehnung einer ewigen Höllenqual und die Heilserwartung in einem irdischen Tausendjährigen Reich. Hingegen wurde die Vorstellung von einer „Theokratischen Gesellschaft“ als Heilsmittlerin und Kanal der Gnade abgelehnt, wie Rutherford sie propagierte. Nicht einmal ein Kirchenaustritt wurde von den Mitgliedern der meisten Gruppen erwartet. Man wollte nicht eine „heilsnotwendige Organisation“ stiften, sondern eine lose Verbindung der Versammlungen untereinander nach kongregationalistischem Vorbild, wie Russell es vertreten hatte.

      Heute ist „Bibelgemeinde“ oder „Bible Church“ meist eine Bezeichnung für freie Gemeinden (Independisten), die mit den Zeugen Jehovas und ihren Abspaltungen nichts zu tun haben.

      Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung

      Ebenfalls als Hüterin der Lehren Russells betrachtet sich die „Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“. Sie entstand ursprünglich 1917 in der oben beschriebenen Auseinandersetzung zwischen Rutherford und Johnson sowie den mit diesem verbundenen Direktoren. 1929 trennte sich in Pittsburgh, dem frühen Wirkungsort Russells, eine Gruppe von „Ernsten Bibelforschern“ von der Wachtturm-Gesellschaft ab, traf sich in der alten „Bibelhaus-Kapelle“ Russells und propagierte die Rückkehr zu dessen Lehren, die sie bei den „Rutherfordianern“ zum Großteil preisgegeben sahen. Manche enttäuschten Bibelforscher schlossen sich ihnen an und gründeten Versammlungen an vielen Orten und in verschiedenen Ländern. Durch Zeitschriften, Traktate und eigene Rundfunk- und Fernseh-Sendungen besitzt diese Gruppe vor allem in den USA einen gewissen Einfluss. Kennzeichnend ist, dass nicht die heutige (von Russell gegründete!) „Wachtturm-Gesellschaft“, sondern die „Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“ die „Schriftstudien“ Russells (wenn auch mit Änderungen, etwa im Blick auf die Zeitberechnungen) bis heute verlegt.

      Kirche des Reiches Gottes