fielen harte Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und anderen totalitären Systemen. Allein in Deutschland gingen während der Hitler-Diktatur ca. 6.000 Wachtturm-Anhänger für ihre Überzeugung in die Gefängnisse und Konzentrationslager. Etwa 1.000 von ihnen fanden dort den Tod (vgl. „Wachtturm“ vom 1.7.1979, S. 8).Trotz dieser bewundernswert konsequenten Haltung der einzelnen Zeugen Jehovas darf nicht übersehen werden, dass das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft anfangs ambivalent war. In einem Schreiben der deutschen Wachtturm-Zentrale an den „sehr verehrten“ Reichskanzler Adolf Hitler vom Juni 1933, der 1994 im deutschen und amerikanischen „Jahrbuch“ der Wachtturm-Gesellschaft abgedruckt wurde und somit offiziellen Charakter besaß (vgl. ACV 4/94, S. 16), hatte es u.a. geheißen:
„Das Brooklyner Präsidium der Watch Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen. Diese zwei Zeitschriften ´The Watch Tower` und ´Bible Student` waren die beiden einzigen Zeitschriften Amerikas, die eine Kriegspropaganda gegen Deutschland verweigerten und darum während des Krieges in Amerika auch verboten und unterdrückt wurden. In gleicher Weise hat sich das Präsidium unserer Gesellschaft in den letzten Monaten nicht nur geweigert, an der Gräuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen, sondern hat sogar dagegen Stellung genommen, wie dies auch in der beigefügten Erklärung unterstrichen wird durch den Hinweis, dass die Kreise, welche diese Gräuelpropaganda in Amerika leiteten (Geschäftsjuden und Katholiken), dort auch die rigorosesten Verfolger der Arbeit unserer Gesellschaft und ihres Präsidiums sind. Durch diese und andere in der Erklärung enthaltenen Feststellungen soll die Zurückweisung der Verleumdung, Bibelforscher würden durch die Juden unterstützt, erfolgen…
Weiter wurde auf dieser Konferenz der fünftausend Delegierten – wie in der Erklärung ausgedrückt – festgestellt, dass die Bibelforscher Deutschlands für dieselben hohen ethischen Ziele und Ideale kämpfen, welche die nationale Regierung des Deutschen Reiches bezüglich des Verhältnisses des Menschen zu Gott proklamierte, nämlich: Ehrlichkeit des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer! Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass in dem Verhältnis der Bibelforscher Deutschlands zur nationalen Regierung des Deutschen Reiches keinerlei Gegensätze vorliegen, sondern dass im Gegenteil – bezüglich der rein religiösen, unpolitischen Ziele und Bestrebungen der Bibelforscher – zu sagen ist, dass diese in völliger Übereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung des Deutschen Reiches sind“ (zitiert nach dem bei Twisselmann 1995, S. 276 ff., abgedruckten Faksimile des Original-Briefes).
Die Abgrenzung gegen „die Juden“ fällt zeitlich auffallenderweise mit deren Substitution durch die Zeugen Jehovas als dem“neuen Heilsvolk“ in den Jahren ab 1931 zusammen. Erst nachdem der Versuch, sich mit der nationalsozialistischen Regierung einvernehmlich zu arrangieren, fehlgeschlagen war und die Schikanen und Verfolgungen der Zeugen Jehovas nicht aufhörten, schlug die Brooklyner Zentrale härtere Töne an. So stellte Rutherford der deutschen Reichsregierung 1934 ein Ultimatum:
„Falls bis zum 24. März 1934 auf dieses ernstliche Begehren keine Antwort erfolgt und von Seiten Ihrer Regierung nichts getan wird, um den oben erwähnten Zeugen Jehovas in Deutschland Erleichterung zu gewähren, dann wird Gottes Volk in anderen Ländern, unter allen Nationen der Erde, mit der Veröffentlichung der Tatsachen über Deutschlands ungerechte Behandlung von Christen beginnen“ (ebd., S. 148).
Ein halbes Jahr später schloss sich eine noch härtere Drohung, an Hitlers Adresse gerichtet, an:
„Sie und Ihre Regierung haben sich der schlimmsten Verfolgungen an Gottes geweihtem Volk in Deutschland schuldig gemacht und werden deshalb, bei verharrendem pharaonischen Trotzen, das Gericht des Allmächtigen über sich bringen“ (zit. nach Garbe 1993, S. 122).
Das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft in der Anfangszeit der Hitler-Diktatur kommentiert Klaus-Dieter Pape wie folgt:
„Die WTG … hat in einer Konfliktsituation mit einem totalitären Regime versucht, durch Anpassung an dieses Regime das Funktionieren der Organisation zu ermöglichen. Allein diese Tatsache ist aus heutiger Sicht nicht unbedingt zu kritisieren. Dies ist menschlich verständlich. Auf jeden Fall muss aber kritisiert werden, dass die WTG, um dieses Ziel zu erreichen, andere Menschen übel diffamiert hat. Die ´Erklärung` und der Brief an Hitler zeigen dies ausführlich. Hinzu kommt noch der Umstand, dass die WTG heute so tut, als ob sie so etwas nie getan hätte und sie die am meisten Verfolgten unter Hitler waren. Dass die ZJ unter dem Regime zu leiden hatten und auch ZJ in Konzentrationslagern gestorben sind – darunter mein Großvater – darf nicht geleugnet werden. Jedoch muss der Umgang mit der Geschichte ehrlich sein, wenn man sich moralisch auf ein so hohes Ross setzt, wie es die WTG tut. Vor allem ist es allerhöchste Zeit, sich bei den jüdischen Opfern des Hitler-Regimes wegen den üblen Verleumdungen von 1933 … zu entschuldigen“ (ACV 4/94, S. 17).
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Zeugen Jehovas auch in zahlreichen anderen totalitären Statten Verfolgungen erleiden mussten, nach dem Zweiten Weltkrieg besonders in der damaligen Sowjetunion und anderen Ostblock-Staaten (z. B. in der „DDR“) sowie in dem afrikanischen Staat Malawi. In mehreren Ländern dauern die Verfolgungen heute noch an. Aber auch unter demokratischen Regierungen stehen die Wachtturm-Anhänger- etwa wegen ihrer Verweigerung des Wehr- und Zivildienstes, des Fahnengrußes und von Bluttransfusionen – in mancherlei Konflikten (vgl. JZ, S. 678 ff.; Hutten 1982, S. 121 ff.).
Resümee eines Lebens
1938 gilt als das Jahr, in dem Rutherford seine „Reformen“ abgeschlossen hat: „Das kongregationalistische Prinzip war endgültig überwunden, der Einfluss der Ältesten beseitigt, die Organisation war straff ´theokratisch` durchgebildet. Es wurde offiziell der Grundsatz angenommen, ´dass die Gesellschaft der sichtbare Vertreter des Herrn auf Erden ist`. Der Zentralismus war nun perfekt“ (Obst o. J., S. 276). „Die Theokratische Organisation gleicht einer riesigen Propagandamaschine, die so konstruiert ist, dass alle Energien einheitlich und rationell auf die ´Verkündigung` konzentriert sind. Ein Rad greift ins andere, und alle Räder sind durch Transmissionen mit der Spitze verbunden, so dass sie sich drehen, wie die Spitze es will“ (Hutten 1982, S. 114).
Doch allzu lange konnte sich Rutherford über seinen Erfolg nicht freuen. Am 8. Januar 1942 starb er im Alter von 72 Jahren an Dickdarmkrebs, und zwar in seinem Haus „Beth Sharim“ („Haus der Fürsten“) in San Diego/Kalifornien, das er für die erwarteten Erzväter Abraham, Isaak und Jakob erworben hatte. Einige Jahre nach Rutherfords Tod hat die Wachtturm-Gesellschaft „Beth Sharim“ verkauft. Was Rutherfords Familienverhältnisse betrifft, so schweigen die Quellen zumeist. Der Grund könnte darin liegen, was der ehemalige führende Zeuge Jehovas Raymond Franz mit folgenden dürren Worten erwähnt:
„Seit vielen Jahren war er (Rutherford) von seiner Frau (Mary) getrennt gewesen, die ebenfalls bei den Zeugen war und krank und gebrechlich in Kalifornien lebte. Sein einziger Sohn (Malcolm) zeigte kein Interesse an der Religion des Vaters, als er erwachsen war“ (Franz 1991, S. 22).
Auch Leonard und Marjorie Chretien weisen auf diesen Tatbestand hin:
„Wie seinen Vorgänger, C. T. Russell, verließ auch Richter Rutherford seine Frau. Mary und ihr Sohn Malcolm zogen nach Los Angeles/Kalifornien um… Faktoren für ihre Entfremdung waren ihre schwache Gesundheit, sein cholerisches und selbstgerechtes Temperament und ganz offensichtlich die Tatsache, dass er ein ernster Fall eines Alkoholikers war“ (Chretien 1988, S. 48; Übersetzung: L. G.).
Rutherford hat 18 Bücher und 32 Broschüren geschrieben und dadurch die überholten Schriften Russells „ersetzt“ (vgl. Hutten 1982, S. 89). Die heutige Wachtturm-“Theologie“ hat er wesentlich geprägt. Dennoch erging es ihm schließlich wie seinem Vorgänger: Seine Bücher werden heute von der Wachtturm-Gesellschaft kaum noch gedruckt. Alle Veröffentlichungen, die freilich auf Rutherfords (und zum Teil auch Russells) Gedankengut aufbauen, erscheinen anonym. Verantwortlich für diesen neuen Stil ist Rutherfords Nachfolger: Nathan Homer Knorr.
1942-1977: