Lothar Gassmann

Die Lehren der Zeugen Jehovas


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leitende Bibelforscher (H. J. Shearn und W. Craeford) ab und versuchte, das englische Einflussgebiet von Rutherford und der Brooklyner Führung unabhängig zu machen, etwa indem er das Londoner Bankkonto der Wachtturm-Gesellschaft sperren ließ. Johnson betrachtete sich als Nachfolger Russells. Er behauptete, der Mantel Pastor Russells sei auf ihn gefallen wie zur Zeit des Propheten Elia.

      In dieser schwierigen Lage sah Rutherford – nach dem misslungenen Versuch, Johnson abzusetzen – keinen anderen Ausweg, als diesen nach New York zurückzurufen, um ihn besser unter Kontrolle zu haben. Freilich holte er sich damit die Opposition ins eigene Haus. Ein von der Wachtturm-Gesellschaft einberufener Untersuchungsausschuss kam zum Ergebnis, dass Johnsons Verhalten in England berechtigt war. Innerhalb kurzer Zeit zog er vier der sieben leitenden Direktoren der Wachtturm-Gesellschaft auf seine Seite. Die Macht lag ja seit der Entmachtung der anderen Gremien in der Hand des Direktoriums, zu welchem Rutherford selber gehörte. Somit standen vom führenden Gremium nur zwei Männer auf Rutherfords Seite, nämlich sein Vizepräsident A. N. Pierson und sein Sekretär-Kassierer W. E. Van Amburgh. Die anderen hielten zu Johnson.

      Rutherford war nicht mehr in der Lage, bei Abstimmungen seinen Willen durchzusetzen. Andererseits war er Präsident und konnte nicht abgesetzt werden, weil das Präsidenten-Amt auf Lebenszeit vermittelt worden war. Somit war eine gewisse Patt-Situation eingetreten. Jede Partei versuchte, die andere aus dem „Bethel“ zu drängen oder sie zumindest zu entmachten. Die auf Johnsons Seite stehenden Direktoren verfolgten den Gedanken, die Stellung des Präsidenten dem Direktionsausschuss unterzuordnen. Er sollte nur noch die Befugnisse eines Beraters besitzen. Daraufhin ging Rutherford in die Offensive.

      Er brachte Band 7 der Schriftstudien heraus. Am 17. Juli 1917 wurde im Brooklyner Bethel der Band mit dem Titel The Finished Mystery (Das vollendete Geheimnis) freigegeben. Die Freigabe dieses Buches führte zu einer fünfstündigen heftigen Debatte zwischen den verfeindeten Parteien, deren Konflikt nun offen zutage trat, und schließlich zum Bruch. Johnson und seine Anhänger warfen Rutherford Umdeutungen der Lehre Russells, neue Jahresberechnungen (etwa auf 1918) sowie seinen übergroßen Machtanspruch vor.

      Aus der Sicht der heutigen Zeugen Jehovas stellt sich die Person Johnsons folgendermaßen dar:

      „Da er sich als eine wichtige Persönlichkeit betrachtete, behauptete er in Ansprachen und Briefen, seine Tätigkeit sei in der Bibel von Esra, Nehemia und Mordechai vorgeschattet worden. Er beanspruchte, der in Jesu Gleichnis aus Matthäus 20,8 erwähnte Verwalter (oder Beauftragte) zu sein. Er versuchte, die Verfügungsgewalt über das Geld der Gesellschaft zu bekommen, und strengte deshalb vor dem Hohen Gerichtshof in London einen Prozess an.

      Als dieser Versuch vereitelt wurde, ging er zurück nach New York. Dort buhlte er um die Unterstützung bestimmter Personen, die im Vorstand der Gesellschaft waren. Diejenigen, die er auf seine Seite ziehen konnte, versuchten durch eine Resolution durchzusetzen, dass die Geschäftsordnung der Gesellschaft, die den Präsidenten ermächtigte, alle Angelegenheiten zu regeln, außer Kraft gesetzt würde. Sie wollten, dass alle Entscheidungsgewalt bei ihnen liege. Bruder Rutherford unternahm rechtliche Schritte, um die Interessen der Gesellschaft zu schützen, und alle, die deren Tätigkeit behindern wollten, wurden aufgefordert, das Bethelheim zu verlassen“ (JZ, S. 627). Welche „rechtlichen Schritte“ es waren, die Rutherford vornahm, werden wir weiter unten betrachten.

      Das vollendete Geheimnis

      Hier bewegt uns zunächst die Frage, worum es in dem umstrittenen Band 7 der Schriftstudien mit dem Titel „Das vollendete Geheimnis“ ging. Als erstes springt der Personenkult um Charles Taze Russell ins Auge. Der Band ist als Kommentar zu den biblischen Büchern Hoheslied, Hesekiel und Offenbarung konzipiert. Es handelt sich allerdings nicht um einen Kommentar im üblichen Sinne, sondern um eine Bibeldeutung von der Sicht der „Ernsten Bibelforscher“ her. So wird Russell mit dem Propheten Hesekiel verglichen, der Russell vorbildlich dargestellt habe. Weissagungen Hesekiels werden so ausgelegt, dass sie Hinweise auf die spätere Tätigkeit Russells seien, so etwa die Tempel-Prophezeiungen. Russell hatte zwar ein großes Selbstbewusstsein besessen, aber wenn er dieses selber geschrieben hätte, wie es die fingierte Autorschaft dieses Bandes nahelegt, hätte er größenwahnsinnig sein müssen.

      Zweitens enthält der Band 7 eine grundsätzliche scharfe Polemik gegen das traditionelle Christentum und seine Geistlichen, die sogenannten Religionisten, insbesondere gegen die römisch-katholische Kirche und das Papsttum. Trotz der besonderen Aversion der „Ernsten Bibelforscher“ gegen Rom wird aber das Christentum generell, nicht nur der römische Katholizismus, als „Babylon“ bezeichnet. Alle außer den „Ernsten Bibelforschern“ gelten den Autoren von Band 7 als „Babylon“, als vom Glauben abgefallene Hure.

      Ein typisches Beispiel für die maßlose Polemik liefert die Auslegung von Offenbarung 9,18, wo von apokalyptischen Rossen die Rede ist, „aus deren Mäulern Feuer und Rauch und Schwefel ging“. Die Autoren von Band 7 kommentieren diese Stelle (allegorisch) so:

      „Eine genaue Prüfung des Vorstehenden führt zu dem Schluss, dass die verschiedenen Kirchensysteme von Kahlköpfen gegründet sein müssen, und dass, da der Rauch keinen Ausweg durch die Kopfhaut finden konnte, er natürlicher Weise aus ihrem Munde (´aus ihren Mäulern`, wie es in Vers 17 heißt) hervorkommen musste!“ (S. 215).

      Als weiteres Beispiel zitiere ich die Auslegung von Offenbarung 18,4:

      „Und ich hörte eine andere Stimme aus dem Himmel: Eine andere himmlische Botschaft durch die Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft, die Organisation, welche Pastor Russell persönlich gründete, um das Erntewerk durchzuführen“ (S. 370).

      Im Unterschied zu den traditionellen Kirchen wird die Wachtturm-Gesellschaft in den positivsten Farben völlig unkritisch ausgemalt.

      Das dritte, was auffällt, ist die Einführung neuer Jahreszahlen in Band 7, insbesondere das Datum 1918. Die „vierzigjährige Erntezeit“ bis zum Beginn der „Trübsal“ war von Russell aufgrund sogenannter „Parallelen der Heilszeitordnungen“ zwischen urchristlicher Zeit (ca. 30-70 n. Chr.) und Endzeit (1874-1914) behauptet worden. Nun fügten Rutherford und seine Mitarbeiter im 1917 veröffentlichten Band dreieinhalb Jahre zu diesen 40 Jahren hinzu und gelangten so zum Frühjahr 1918 als neuem, unmittelbar bevorstehendem Termin für das Eintreten der Bedrängnis und des „Falles Babylons“, also der Christenheit außerhalb der „Ernsten Bibelforscher“. Begründet wird dies damit, dass zwar 70 n. Chr. Jerusalem von den Römern zerstört worden sei, aber erst 73 n. Chr. der jüdische Aufstand niedergeschlagen wurde – also mit der parallelen Heilszeitordnung.

      So wird in der Auslegung von Offenbarung 3,14 ausgeführt, die „Laodizäa-Epoche“ reiche „vom Herbst 1874 bis zum Frühling 1918, dreieinhalb Jahre der Vorbereitung und 40 Jahre Erntezeit“. Alles deute darauf hin, „dass der Frühling 1918 ein noch größeres Maß von Bedrängnis über die Christenheit bringen wird, als dies im Herbst des Jahres 1914 der Fall war“ (S. 65 und 69). Das Jahr 1918 brachte allerdings nicht „ein noch größeres Maß von Bedrängnis“, sondern das Ende des Ersten Weltkriegs und – zumindest für einige Jahre – Frieden. Auch hier war eine angemaßte Prophetie in das Gegenteil umgeschlagen.

      Ebenfalls wegen der nicht eingetroffenen Prophezeiungen wurden in einer späteren deutschen Ausgabe von „Das vollendete Geheimnis“ manche Passagen aus dem amerikanischen Original falsch übersetzt. Eckhard von Süsskind hat in seiner sehr gründlichen Quellen-Untersuchung Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit der Wachtturm-Gesellschaft die Änderung oder Relativierung der Jahresangaben nachgewiesen, welche in der deutschen Ausgabe von „The Finished Mystery“ im Jahre 1925 vorgenommen wurde. An einigen Stellen wurde das Jahr 1918 einfach ausgelassen.

      E. v. Süsskind resümiert:

      „Die Passagen, die falsch übersetzt wurden, betreffen ausnahmslos Prophezeiungen, die sich auf das für 1918 erwartete Ende der Christenheit durch Aktionen der Arbeiter und Sozialisten, auf das für 1920 angekündigte Ende der Republiken und der Arbeiterschaft sowie auf die in dieser Zeit angeblich zunehmende Anarchie beziehen“ (S. 73).

      Spaltungen

      Wie kam es