Lothar Gassmann

Die Lehren der Zeugen Jehovas


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diesem Zusammenhang wird folgende Selbstaussage Russells zitiert:

      „Ich bekenne … dass ich sowohl den Adventisten als auch anderen Denominationen Dank schulde … obgleich mir der Adventismus keine bestimmte Wahrheit erschloss, so war er mir doch behilflich, Irrtümer zu verlernen und mich so für die Wahrheit vorzubereiten“ (ebd., S. 44).

      Russells Testament

      Wie es nach Russells Tod weitergehen sollte, hatte er 1908 in einem Testament festgelegt, welches nach seinem Tod im Wachtturm vom Februar 1917 erschien. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, dass dieses Testament so viele Lücken enthielt, dass es von seinem (nicht von ihm bestimmten oder eingesetzten!) Nachfolger Rutherford bequem umfunktioniert werden konnte. Russell hatte folgendes als seinen letzten Willen bestimmt:

      „Ich treffe die Anordnung, dass das ganze Werk der Herausgabe des Wachtturms sich in Händen eines Komitees von fünf Brüdern befinden soll, die ich zu großer Sorgfalt und zur Treue gegen die Wahrheit ermahne … Die unten als Mitglieder des Herausgeber-Komitees genannten Brüder (ihre Annahme vorausgesetzt) sind, wie ich annehme, den Lehren der Heiligen Schrift völlig treu, besonders der Lehre vom Lösegeld, der Lehre, dass es keine Annahme bei Gott und keine Errettung zum ewigen Leben gibt, außer durch den Glauben an Christum und Gehorsam gegen sein Wort und den Geist desselben. Wenn einige von den Bestimmten zu irgend einer Zeit sich nicht mehr in Harmonie mit dieser Vorkehrung befinden sollten, so würden sie ihr Gewissen verletzen und darum Sünde begehen, wenn sie trotzdem noch Mitglieder des Herausgeber-Komitees bleiben würden…

      Die Namen des Herausgeber-Komitees sind folgende: William E. Page, William E. Van Amburgh, Henry Clay Rockwell, E. W. Brenneisen, F. H. Robison. Die Namen der fünf Brüder, von denen ich annehme, dass sie am besten dazu passen, um freigewordene Stellen beim Herausgeber-Komitee wieder auszufüllen, sind: A. E. Burgeß, Robert Hirsh, Isaak Hoskins, Geo H. Fisher (Scranton), J. F. Rutherford, Dr. John Edgar …

      Ich habe schon die Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft mit allen meinen Stimmanteilen begabt, und ich lege diese nun in die Hände von fünf Bevollmächtigten. Es sind folgende: Schwester E. Louise Hamilton, Schwester Almeta M. Nation Robison, Schwester J. G. Herr, Schwester C. Tomlins, Schwester Alice G. James. Diese Bevollmächtigten sollen für Lebenszeit dienen. Im Falle ihres Todes oder von Verzichtleistung sollen Nachfolger gewählt werden von den Direktoren der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft, dem Herausgeber-Komitee und dem Rest der Bevollmächtigten, nachdem sie um göttliche Leitung gebetet haben.“

      Der Weg zur Macht

      Joseph Franklin Rutherford wurde der zweite Präsident der Ernsten Bibelforscher. Der Weg dorthin war allerdings nicht einfach. Wie es dazu kam und welche Neuerungen Rutherford einführte, wollen wir in diesem Kapitel betrachten. Wie ging es nach dem Tod von Charles Taze Russell weiter?

      In Russells Testament waren verschiedene Gruppierungen erwähnt worden, welche die Nachfolge Russells gemeinsam antreten sollten. Die Machtfülle, die vorher im Wesentlichen in seiner Person vereinigt war, sollte sich auf drei Gremien aufteilen. Leider waren die Kompetenzen dieser drei Gremien nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Um welche Gremien handelte es sich?

      Da war zunächst das siebenköpfige Direktorium der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Aber in Konkurrenz zu diesem Direktorium setzte Russell in seinem Testament ein fünfköpfiges Herausgeber-Komitee für die Zeitschrift „Zions Wachtturm“ ein. Mindestens drei der fünf Herausgeber mussten den Artikeln zustimmen, damit sie in „Zions Wachtturm“ erscheinen konnten. Dieses Komitee stand zunächst unabhängig neben dem Direktorium. Hinzu kam als drittes das Gremium der fünf Aktien-Bevollmächtigten, allesamt Damen, die Russell als Verwalterinnen seines Vermögens eingesetzt hatte. Auffallend ist, dass Russell nicht einen Nachfolger eingesetzt hat, sondern immer Gruppen von Nachfolgern, um die Macht und Finanzen möglichst demokratisch zu verteilen. Es sollte also keiner die Alleinherrschaft besitzen.

      Das Testament war allerdings – und hier sitzt das Problem – so nicht durchführbar. Die erwähnten fünf Damen hatten das Aktienpaket von 25.000 Stimmen unter insgesamt zirka 150.000 Stimmrechten erhalten. Der Rest verteilte sich auf etwa sechshundert Aktionäre. Nach Russells Tod nun wurde behauptet, mit seinem Heimgang seien auch seine Aktienanteile erloschen. Die Damen ließen sich einschüchtern und verzichteten auf ihre Stimmen, die nun unmittelbar der Wachtturm-Gesellschaft bzw. ihrer Leitung zugute kamen. Dietrich Hellmund vermutet, dass hinter diesem „Meisterstück“ einer Entmachtung wahrscheinlich „der Juristenverstand Rutherfords“ steckte.

      Das nächste „Meisterstück“ betraf das Herausgeber-Komitee. Um Mitglied im Herausgeber-Komitee zu werden, musste man in die Bethel-Familie eintreten (das ist die Mitarbeiter-Gemeinschaft in der Brooklyner Wachtturm-Zentrale) und dort für ein Taschengeld arbeiten. Anderweitige berufliche Bindungen waren aufzugeben. Dazu aber war nicht jeder bereit, auch nicht alle von Russell vorgeschlagenen Komitee-Mitglieder. Zwei Kandidaten, William A. Page und E. W. Brenneisen, schieden deshalb von vornherein aus – „Page, weil er seinen Wohnsitz nicht nach Brooklyn verlegen konnte, und Brenneisen … weil er eine weltliche Arbeit annehmen musste, um seine Familie zu ernähren“ (JZ, S. 65). An deren Stelle rückten dann Robert Hirsh und J. F. Rutherford nach. Sie wurden vom Direktorium ausgewählt, das somit eine Vorrangstellung vor dem Herausgeber-Komitee erhielt.

      Nachdem Rutherford dem siebenköpfigen Direktorium und dessen dreiköpfigem Ausschuss bereits angehört hatte, gelangte er nun auch noch beim Herausgeber-Komitee in die erste Reihe der Macht. Bereits seit Jahren hatte er die juristische Arbeit für die Wachtturm-Gesellschaft vorgenommen und dadurch tiefen Einblick in deren Strukturen erlangt. Dies half ihm beim weiteren Aufstieg. Auf Betreiben Rutherfords kam es immer mehr zu einer Zentralisierung der Leitung, und zwar in seiner Person. So war es kein Wunder, dass er bei der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 auf Anraten des Direktoriums-Mitglieds A. N. Pierson zum Nachfolger Russells und Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft gewählt wurde. Diese Wahl wurde aber nicht von allen widerspruchslos hingenommen. Doch bevor wir uns mit den Auseinandersetzungen beschäftigen, werfen wir zuerst einen Blick auf Rutherfords Persönlichkeit.

      Joseph Franklin Rutherford wurde am 8. November 1869 auf einer Farm in Morgan County/Missouri geboren. Seine Eltern waren Baptisten. Mit 16 Jahren besuchte er ein College, um Rechtswissenschaften zu studieren. Mit 20 Jahren fungierte er bereits als Protokollführer für die Gerichte des 14. Gerichtsbezirks in Missouri. 1892 wurde er als Rechtsanwalt in Missouri zugelassen. Er eröffnete eine Praxis in Boonville und wurde Prozessanwalt der Firma Draffen und Wright. Später war er als Staatsanwalt und vertretungsweise auch als Sonderrichter am Gericht des achten Gerichtsbezirks von Missouri tätig. Von dieser Tätigkeit als Sonderrichter her wandte er den Titel „Richter“ auf sich an. Von seinen Anhängern wurde er – nicht ganz korrekt – als „Richter Rutherford“ bezeichnet, ähnlich wie Russell den Titel „Pastor“ für sich in Anspruch nahm. Als Jurist war Rutherford so erfolgreich, dass er ermächtigt wurde, Rechtsfälle vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington D. C. zu führen. Von 1909 bis zu seinem Tod fungierte er als Staatsanwalt in New York, zum Teil noch neben seiner Präsidentschaft der Wachtturm-Gesellschaft her.

      1894 hatte Rutherford von zwei Anhängerinnen Russells an der Haustür drei Bände der „Schriftstudien“ (damals noch „Millennial Dawn“) erhalten, was sein Interesse an dieser Bewegung weckte, doch sollte es bis zu seiner „Taufe“ noch bis zum Jahre 1906 dauern. Seit 1907 schließlich war er als Rechtberater der Wachtturm-Gesellschaft tätig, wobei er den zunehmend kränklicher werdenden Russell auch „theologisch“ bei Auftritten und Disputen vertrat. Als Rechtswahrer aller Angelegenheiten der Wachtturm-Gesellschaft besaß er die höchste juristische Gewalt und war schon längst de facto Vertreter Russells, auch wenn er nachher unter den Komitee-Mitgliedern nur in zweiter Reihe genannt wurde.

      Ein Beispiel, wie skrupellos und gerissen Rutherford vorgehen konnte, macht ein Vorfall aus dem Jahre 1915 deutlich, das Hellmund erwähnt. J. H. Troy war ein baptistischer Prediger aus Südkalifornien. Er forderte Russell zu einer öffentlichen