Gefängnis von Atlanta/Georgia eingesperrt. Die heutigen Zeugen Jehovas weisen darauf hin, dass damit diese Männer „zu härteren Strafen verurteilt“ wurden „als der Mörder, dessen Schüsse den Ersten Weltkrieg auslösten“ (JZ, S. 653). Warum diese Härte der Strafe? Richter Harland B. Howe sagte vor der Urteilsverkündung:
„Nach Meinung des Gerichts stellt die religiöse Propaganda, für die diese Angeklagten energisch eingetreten sind und die sie im ganzen Land sowie unter unseren Verbündeten betrieben haben, eine größere Gefahr dar als eine ganze deutsche Division … Sie haben nicht nur die Rechtsvertreter der Regierung und den Nachrichtendienst der USA in Frage gestellt, sondern auch alle Diener der Kirchen angegriffen. Die Bestrafung sollte daher sehr streng sein“ (zitiert nach Macmillan 1957, S. 99).
Es war ein großes Glück für die Eingekerkerten, dass der Erste Weltkrieg bald zuende ging. Mit dem Ende des Krieges ließ auch das Kriegsfieber nach. Man dachte nun milder über die Verurteilten und ließ sie bereits am 25. März 1919 gegen eine Kaution frei, noch bevor eine Petition mit 700.000 Unterschriften der Regierung überreicht werden konnte, welche ihre Anhänger gesammelt hatten.
Während der Gefangenschaft Rutherfords hatte am 4. Januar 1919 eine Körperschaftsversammlung der Wachtturm-Gesellschaft in Pittsburgh/Pennsylvania stattgefunden. Dort war Rutherford mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt als Präsident bestätigt worden. Offensichtlich hatte seine Abwesenheit, Gefangenschaft und Opferbereitschaft seine Popularität weiter erhöht. Die Chance, welche seine Gegner gewittert hatten, ihn in seiner Abwesenheit zu entmachten, zerschellte nun vollends an der ständig gewachsenen Zahl seiner Anhänger.
Von den Ernsten Bibelforschern zu den Zeugen Jehovas
Als Rutherford aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, begann er sofort mit der Neustrukturierung der Wachtturm-Bewegung. Ein entscheidender Markstein hierfür war der Kongress im September 1919 in Cedar Point/Ohio. Die Bibelforscher sollten ermutigt und zu Taten angespornt werden. Eine neue Zeitschrift, die bei diesem Kongress vorgestellt wurde, trug den programmatischen Titel The Golden Age („Das Goldene Zeitalter“; ab 1937 „Trost“, seit 1946 „Erwachet!“).
1920 veröffentlichte Rutherford eine Schrift mit dem aufsehenerregenden Titel Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben. In dieser Schrift sagte er für 1925 die „Vollendung aller Dinge“ voraus, insbesondere „die Rückkehr der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie der glaubenstreuen Propheten des Alten Bundes“ auf die Erde (S. 80). Rutherford schrieb:
„Auf das zuvor dargelegte Argument gestützt, dass also die alte Ordnung der Dinge, die alte Welt, zu Ende geht und daher verschwindet, und dass die neue Ordnung hereinbricht, und dass das Jahr 1925 die Auferweckung der treuen Überwinder des alten Bundes und den Beginn der Wiederherstellung markiert, ist es vernünftig zu schließen, dass Millionen jetzt auf Erden lebender Menschen im Jahre 1925 noch auf Erden sein werden. Sodann auf die Verheißungen, die in dem Worte Gottes niedergelegt sind, gestützt, müssen wir zu dem positiven und unbestreitbaren Schluss kommen, dass Millionen jetzt Lebender nie sterben werden“ (S. 88).
Als auch diese Prophezeiung auf das Jahr 1925 nicht eintraf, sagte Rutherford : „Ich habe mich lächerlich gemacht“ (engl. Originaltext: „I know I made an ass of myself“) („Wachtturm“ vom 25.12.1984, S. 26; zitiert nach: Franz 1991, S. 136). 1925 wird in „Wachtturm-Kreisen“ ähnlich wie 1914 als „Jahr der Prüfung“ bezeichnet – aus leicht erkennbaren Gründen. Rutherford selber verzichtete von da an auf ähnliche Festlegungen – was nicht ausschloss, dass seine Nachfolger später seinen Fehler wiederholten.
Unter den zahlreichen Neuerungen, die Rutherford einführte, war die grundlegende Verpflichtung jedes Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Errichtung eigener Rundfunk-Stationen, die Abschaffung vieler als „heidnisch“ geltender Bräuche und Feste (Kreuzsymbol, Weihnachten, Ostern, Geburtstag u.a.) und vor allem die Propagierung der immer sektiererische Züge annehmenden Bibelforscher als das neue Heilsvolk der „Zeugen Jehovas“, das nun an die Stelle des alttestamentlichen Gottesvolkes Israel, aber auch der christlichen Kirchen treten sollte. Unter Rutherford erlangten die Zeugen Jehovas im Wesentlichen ihr heutiges Gepräge.
1931 fand der entscheidende Kongress in Columbus/Ohio statt, der die neue Richtung bestimmen sollte. Auf diesem Kongress wurde die Wachtturm-Gesellschaft von Rutherford zur endzeitlichen Heilsgemeinde erhoben. Hier nahm sie den Namen „Jehovas Zeugen“ an, und zwar in Anlehnung an Jesaja 43, 10-12, wo es heißt:“Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr wisst und mir glaubt und erkennt, dass ich`s bin. Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der Herr, und außer mir ist kein Heiland. Ich habe es verkündigt und habe euch geholfen und hab`s euch sagen lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und ich bin Gott.“
Auf die Einladung zu diesem Kongress hatte Rutherford ohne weitere Erklärung zwei geheimnisvolle Großbuchstaben drucken lassen: JW. Erst auf dem Kongress wurde das Geheimnis gelüftet. In seinem von Zehntausenden mit donnerndem Applaus aufgenommenen Vortrag verkündete er den neuen Namen „Jehovahs Witnesses“ („Jehovas Zeugen“). Nachdem in einer Resolution alle anderen Namen („Ernste Bibelforscher“, „Russelliten“ etc.) als ungenügend bezeichnet worden waren, hieß es weiter:
„… dass wir, erkauft durch das teure Blut unsres Herrn und Erlösers, gerechtfertigt und gezeugt durch Jehova Gott und berufen zu seinem Königreiche, ohne Zaudern erklären, dass wir Jehova Gott und seinem Königreiche untertan und ergeben sind; dass wir Knechte Jehovas sind, beauftragt, in seinem Namen und seinem Gebot gehorchend, ein Werk zu tun, das Zeugnis Jesu Christi zu überbringen und den Menschen bekanntzumachen, dass Jehova der wahre und allmächtige Gott ist; weshalb wir mit Freuden den Namen, den der Mund des Herrn genannt hat, annehmen und wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: Jehovas Zeugen (Jesaja 43:10-12 …)“ (JZ, S. 156).
Und dann wurde mit aller Bestimmtheit ausgeführt:
„Als Jehovas Zeugen ist unser einziger und ausschließlicher Wunsch, seinen Geboten völlig gehorsam zu sein; bekanntzumachen, dass er der allein wahre und allmächtige Gott ist; dass sein Wort wahr und dass sein Name aller Lehre und allen Ruhmes würdig ist; dass Christus Gottes König ist, den er auf seinen Thron der Vollmacht gesetzt hat; dass sein Königreich nun gekommen ist und wir im Gehorsam gegen die Gebote des Herrn diese gute Kunde als Bekenntnis oder Zeugnis den Nationen bekanntmachen müssen und die Herrscher und das Volk über Satans grausame und bedrückende Organisation, besonders unter Hinweis auf die ´Christenheit`, den gräulichsten Teil seiner sichtbaren Organisation, aufklären und ihnen Gottes Vorhaben, die satanische Organisation binnen kurzem zu zermalmen, ankündigen müssen, nach welchem großen Zerstörungswerk Christus, der König, den gehorsamen Menschen der Erde rasch Frieden, Wohlfahrt, Freiheit und Gesundheit, Glück und ewiges Leben bringen wird; dass Gottes Königreich die Hoffnung der Welt ist, außer der es keine andre Hoffnung gibt, und dass diese Botschaft durch die überbracht werden muss, die als Jehovas Zeugen kenntlich gemacht worden sind“ (JZ, S. 157).
Mit dem Kongress von Columbus im Jahre 1931 war die Selbstverabsolutierung der Gruppe um Rutherford zu ihrem Höhepunkt gelangt. Der Sektencharakter, der sich vor allem in der Exklusiv-Setzung der eigenen Gruppe oder Position zeigt, trat spätestens von da an in kaum zu überbietender Deutlichkeit hervor. So gelten die „Zeugen Jehovas“ bis heute als Paradebeispiel einer Sekte. Der Sektenexperte Kurt Hutten schreibt in seinem Standardwerk Seher, Grübler, Enthusiasten:
„Die darin ausgesprochene Selbstverabsolutierung war mit einer schroffen Verwerfung aller anderen christlichen Gemeinschaften verbunden. Zu Russells Zeiten war die Bezeichnung ´Bibelforscher` eingeführt worden als Ausweis dafür, dass man eine überdenominationelle Bewegung sein wolle. Es wurde betont, ´dass wir nicht sektiererisch sind – dass wir alle als Brüder und Glieder der Kirche, der Kirche Christi, der Kirche Gottes anerkennen, welche die volle Weihung zur Selbstaufopferung beweisen und in den Fußstapfen unseres Erlösers nachfolgen`. Rutherford machte Schluss mit solchen gesamtkirchlichen Gefühlen. Er zerriss das Band. So bekam die Organisation die typischen