Homer Knorr wurde am 23. April 1905 in Bethlehem/Pennsylvanien geboren. Mit 16 Jahren, noch während seiner Schulzeit in Allentown, kam er mit den „Ernsten Bibelforschern“ in Berührung und schloss sich deren dortiger Versammlung an. 1923 beendete er seine Schulausbildung. Am 4. Juli desselben Jahres empfing er die „Taufe“ der Bibelforscher und trat am 6. September in die Brooklyner Bethelfamilie, die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft, ein.
Damit war sein Lebensweg vorgezeichnet. Stufe um Stufe arbeitete er sich bis zur Präsidentschaft empor.
Zunächst wirkte er neun Jahre lang in der Versand-Abteilung und Druckerei. Dort entdeckte man sein großes Organisationstalent. 1932 wurde der erst 27jährige Knorr zum Generaldirektor der Druckerei und des Verlags ernannt. 1935 wurde er zum Vizepräsidenten der Watchtower Bible and Tract Society of New York, 1940 zudem zum Vizepräsidenten der Watchtower Bible and Tract Society of Pennsylvania berufen. Nach Rutherfords Tod wählte ihn das Direktorium im Januar 1942 einstimmig zum Präsidenten beider amerikanischer Körperschaften sowie zum Präsidenten der International Bible Students Association in England.
Aus der Präsidentenzeit Knorrs gibt es weniger Spektakuläres zu berichten als aus der Zeit seiner beiden Vorgänger. Galt Russell als Pastor und Rutherford als Richter, so galt Knorr als Geschäftsmann und Organisator der Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft. Er war es, der nach den erfochtenen Siegen Rutherfords sich nun in aller Ruhe dem Ausbau und der Breitenwirkung der Sekte widmen konnte. 35 Jahre lang stand er an ihrer Spitze. Knorr leitete den Wachtturm-Konzern nach den Prinzipien moderner Wirtschaftsunternehmen. Er bemühte sich um neue Absatzmärkte (z. B. Länderorganisationen) und eine Steigerung der Buch- und Zeitschriftenproduktion nach Qualität und Quantität. Hans-Jürgen Twisselmann (1995, S. 167) erzählt eine typische Episode aus dem Leben Knorrs:
„Als er mit dem früheren Leiter des Wiener Zweigbüros, Walter Voigt, über die Frage der Herausgabe eines eigenen Jahrbuches der Zeugen Jehovas für den deutschen Raum verhandelt, zieht er gelassen sein Notizbuch hervor, stellt seinem Gesprächspartner die Frage, wie viele deutschsprachige Zeugen Jehovas insgesamt als Leser infrage kommen, und nach einem Augenblick des Rechnens und Nachdenkens gibt er seine Zustimmung zu dem Projekt mit den Worten kund: ´Well, we can make much money…`(´Gut, wir können viel Geld machen…`). Seither wird Knorr dort liebevoll-ironisch ´Mr. Money-Maker`(´Herr Geldmacher`) genannt. Auch der damalige Zweigaufseher für Belgien und Luxemburg, Maurice Fleury, schildert Knorr als einen in Geldangelegenheiten – auch vor seiner Präsidentschaft – äußerst versierten Fachmann. Fleury über Knorr: Er trägt das Dollarzeichen schon in seiner Brille.“
Nur wenige Marksteine aus Knorrs Präsidentenzeit möchte ich erwähnen. 1943 eröffnete Knorr die Gileadschule in South Lansing/New York. Dort sollten Missionare für die weltweite Ausdehnung der Zeugen Jehovas ausgebildet werden. Um die globale Verbreitung der Sekte zu fördern, setzte sich Knorr auch mit seiner eigenen Person ein. So unternahm er beispielsweise in den Jahren 1947 und 1948 eine Weltreise, die ihn nach Wachtturm-Angaben 76.916 Kilometer um die Erde führte. Dabei besuchte er sämtliche Stationen der Zeugen Jehovas und hielt oftmals Vorträge vor einer großen Zuhörerschaft. Mitte der 50er Jahre war die Sekte so gewachsen, dass die Erde in zehn Zonen eingeteilt werden musste, die jeweils eine Anzahl von Zweigbüros umschlossen. Allein von 1947 bis 1952 war die Zahl der „Königreichsverkündiger“ von 207.552 auf 456.265 angestiegen.
1950 wurde auf dem Kongress „Mehrung der Theokratie“ in New York die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften (die Wachtturm-Bezeichnung für das Neue Testament) in englischer Sprache fertiggestellt und freigegeben. Die auffallendste Besonderheit war, dass an 237 Stellen (meist für das griech. kyrios) der „Gottesname Jehova“ eingesetzt wurde (dazu unten mehr). 1960 lag dann die komplette Bibel als „Neue-Welt-Übersetzung“ auf Englisch vor. Die deutsche Ausgabe erschien im Jahre 1963.
Ein neuer Endzeittermin
Ein besonderes Datum war das Jahr 1966. Damals wurde das Buch Ewiges Leben – in der Freiheit der Söhne Gottes veröffentlicht. In diesem Buch tauchte zum ersten Mal die Jahreszahl 1975 auf – als Zeitpunkt, an welchem die Tausendjahrherrschaft Christi anbrechen sollte. Allerdings war man nach den vorausgegangenen Enttäuschungen vorsichtiger und sprach häufiger von einem Eintreffen dieses Ereignisses „etwa um die Mitte der siebziger Jahre“. Wichtigster Verfechter dieser Datierung war der damalige Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, Frederick W. Franz (Vizepräsident seit Oktober 1945 – und ab 1977 Knorrs Nachfolger; siehe unten). Typisch für die vorsichtigere, aber dennoch spekulative Haltung ist folgendes Ereignis:
„Auf dem Kongress in Baltimore (Maryland) hielt F. W. Franz die Schlussansprache. Er begann mit den Worten: ´Kurz bevor ich das Podium betrat, kam ein junger Mann zu mir und meinte: ´Sag` mal, was hat es eigentlich mit 1975 auf sich?`` Dann sprach Bruder Franz die Fragen an, die aufgekommen waren, nämlich ob der Inhalt des neuen Buches darauf hinausliefe, dass 1975 Harmagedon vorbei wäre und Satan gebunden werde. Er erklärte in etwa: ´Es könnte sein. Aber wir sagen nichts. Bei Gott ist alles möglich. Aber wir sagen nichts. Und keiner von euch sollte etwas Definitives darüber sagen, was zwischen der Gegenwart und 1975 geschehen wird. Doch der wichtige Gedanke bei alldem, liebe Brüder, ist der: Die Zeit ist kurz. Die Zeit läuft ab, darüber besteht kein Zweifel“ (JZ, S. 104).
Dennoch haben sich in dieser Zeit viele Zeugen Jehovas definitiv auf dieses Datum festgelegt. So heißt es an der zitierten Stelle weiter: „Viele Zeugen Jehovas handelten in den Jahren nach 1966 mit dem Geist, der in diesem Rat zum Ausdruck kam. Allerdings wurden noch andere Erklärungen über dieses Thema veröffentlicht, und einige waren wahrscheinlich etwas zu definitiv. Das wurde im Wachtturm vom 15. Juni 1980 (S. 17) zugegeben. Aber Jehovas Zeugen wurden auch ermahnt, sich hauptsächlich darauf zu konzentrieren, den Willen Jehovas zu tun, und sich nicht übermäßig Gedanken über ein Datum oder eine frühzeitige Errettung zu machen“ (JZ, S. 104).
Es fällt auf, dass der Irrtum erst mehrere Jahre nach der wieder einmal nicht eingetroffenen Voraussage zugegeben wurde. Der Mann, der den oben erwähnten Wachtturm-Artikel schrieb, war der Neffe von Frederick W. Franz, Raymond Franz, Mitglied der „Leitenden Körperschaft“ der Zeugen Jehovas, der einige Monate später die Sekte verließ.
In seinem Buch Der Gewissenskonflikt berichtet er über die Blamage von 1975:
„Das Jahr 1975 ging vorüber, genau wie 1881, 1914, 1918, 1920, 1925 und die vierziger Jahre.“ Jahrelang schwieg die „Leitende Körperschaft“ der Wachtturm-Gesellschaft unter ihrem Präsidenten Knorr und dessen Nachfolger F. W. Franz darüber, doch als die Mitgliederzahlen nach dem rasanten Anstieg vor 1975 nun – nach 1975 – immer mehr zurückgingen, sah sie sich 1979 endlich gezwungen, eine Stellungnahme herauszugeben. „Mit 15 gegen 3 Stimmen wurde beschlossen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, in der wenigstens andeutungsweise eingeräumt wird, dass die Organisation für den Irrtum mitverantwortlich ist. Sie erschien im Wachtturm vom 15. Juni 1980. Fast vier Jahre hatte die Organisation gebraucht, um durch ihre ausführenden Organe einzugestehen, dass sie falsch gehandelt und ein volles Jahrzehnt hindurch falsche Erwartungen geweckt hatte. So offen allerdings konnte das in der Verlautbarung nicht gesagt werden, auch wenn es die Wahrheit war. Jeder Entwurf musste für die Körperschaft als Ganzes akzeptabel sein, damit er gedruckt werden konnte. Ich weiß das, denn mir wurde aufgetragen, die Stellungnahme abzufassen“ (Franz 1991, S. 201 ff.).
Doch wir sind weit vorausgeeilt. 1968 wurde das Buch herausgebracht, das in der „missionarischen“ Tätigkeit der Zeugen Jehovas die weiteste Verbreitung erleben sollte: Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt. Schon bis 1974 waren 63 Millionen Exemplare in 81 Sprachen gedruckt. Von der Wachtturm-Gesellschaft wurde es als das am weitesten verbreitete Buch nach der Bibel gepriesen. Das „Wahrheits“-Buch war für neu interessierte Personen gedacht und wurde daher besonders gern an den Haustüren verteilt. Die wesentlichen Lehren der Zeugen Jehovas sind hier in leicht verständlicher Form dargestellt. Wie andere Bücher seit der Präsidentschaft Knorrs ist auch dieses Bändchen anonym erschienen. Das war zu Zeiten Russells und Rutherfords noch nicht der Fall.
Stärkung der Leitenden Körperschaft
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