Wer kann dazu etwas sagen?«, forderte sie die Schüler auf.
Das Gemurmel legte sich. Ein Mädchen mit rötlichen blonden Locken und blasser Haut hob zaghaft die Hand. Sah unsicher nach rechts und nach links in grinsende oder gelangweilte Gesichter.
»Denise, bitte.«
»Das Stück geht auf ein wahres Verbrechen zurück. Der Perückenmacher Woyzeck hat seine ältere Geliebte erstochen. Büchner wollte daraus ein Drama machen, das jedoch ein Fragment geblieben ist«, rezitierte Denise. Die Zahnspange ließ ihre Aussprache ein wenig spuckig und verwaschen klingen. »Büchner hat mehrere Versionen hinterlassen. Die Szenenabfolge variiert in den verschiedenen Fassungen. Was uns heute vorliegt, sind Rekonstruktionsversuche.«
»Sehr schön«, lobte Henrike. »Büchners Woyzeck ist eins der meistgespielten Theaterstücke. Das auch noch heute seine Gültigkeit hat, obwohl es schon so alt ist. Könnt ihr euch vorstellen, warum das so ist?«
Die Tür ging auf, ein Mädchen, deren Kopf von einem weißen Tuch umhüllt war, betrat den Raum. »Entschuldigung. Mein Bus hatte Verspätung«, sagte sie und huschte auf ihren Platz.
Henrike wollte sich ihre Missbilligung nicht anmerken lassen. Dass der Bus Verspätung hatte, glaubte sie nie und nimmer. Dafür kam das viel zu oft vor. Nayla legte es einfach wieder einmal darauf an, zu provozieren. Beide Eltern stammten aus dem Iran, aber Nayla war in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihr Tuch sei keine religiöse Kopfbedeckung, sondern ein zur Schau getragener Protest, das hatten ihre Eltern Henrike gegenüber betont. Beide waren weltoffene und bestens integrierte Menschen und hätten es lieber gesehen, wenn ihre ausgesprochen intelligente Tochter sich ebenfalls mehr den weltlichen Gepflogenheiten anpassen würde. Das hatten sie Henrike bei der letzten Elternsprechstunde unmissverständlich mitgeteilt und sie um entsprechende Unterstützung gebeten. Doch so einfach war das nicht. Zumal Nayla sämtliche Manöver in dieser Hinsicht sofort durchschaute. Insofern zog Henrike es vor, die Schülerin nicht zurechtzuweisen und ignorierte sie einfach.
»Ja, Sebastian, du wolltest was sagen?«
Der schmale, picklige Junge antwortete mit brüchiger Stimme: »Weil es ein universelles Thema beinhaltet. Woyzeck ist ein einfacher Soldat und verdient nicht viel. Um seiner Freundin Marie und seinem Kind Unterhalt zahlen zu können, ist er gezwungen, noch andere Arbeiten anzunehmen. Er rasiert den Hauptmann und er nimmt an einem medizinischen Experiment teil. Doch auch das reicht nicht aus.« Seine Stimmbruchstimme klang wie das Quieken in diesen lächerlichen Zeichentrickfilmen und stand in völligem Kontrast zu der Ernsthaftigkeit des Gesagten. »Im Grunde geht es darin um einen einfachen, aufs Äußerste gedemütigten Menschen, der nur seine Pflicht erfüllen wollte – und scheiterte.«
Henrike horchte auf. Das klang ja fast wie eine Anklage. Wenn man von der comic-haften Tonlage absah, schwang völlige Verzweiflung in dem Gesagten. Sie hatte durchaus mitbekommen, dass Sebastian permanent gehänselt wurde. Wegen seiner schmalen Statur, wegen seiner schlimmen Akne. Wegen seiner altmodischen Kleidung. Und wahrscheinlich auch, weil er ein guter Schüler war. Kinder fanden immer einen Grund zur Ausgrenzung, wenn einer anders war als die Masse. Das war auch zu ihrer Schulzeit so gewesen. Vielleicht sollte sie ihn irgendwann zu einem Gespräch unter vier Augen bitten. Ihn zu mehr Selbstbewusstsein ermuntern.
»Sehr gut, Sebastian«, lobte sie. »Und warum, glaubt ihr, bringt Woyzeck am Ende Marie um?«
Denise hob die Hand. Henrike sah über sie hinweg. »Was ist mit den anderen?« Ihr Blick wanderte in Naylas Richtung, doch die saß apathisch da und hatte den Kopf gesenkt.
Auch die anderen Schüler starrten mit unbeteiligten Mienen vor sich hin, fläzten an ihren Tischen, scharrten mit den Füßen. Maik und Luis, zwei schlaksige Sitzenbleiber, die regelmäßig den Unterricht störten, redeten wieder einmal ungeniert miteinander. Obwohl sie wusste, was folgen würde, musste sie dem Einhalt gebieten.
Kurz dachte sie an das, was oben auf dem Dachboden lagerte. Von solchen Schülern hätte man sich früher nicht auf der Nase herumtanzen lassen, sondern man hätte ihnen drakonische Strafen auferlegt. Doch die Zeiten hatten sich geändert und das war auch gut so. Obwohl ein wenig Disziplin nicht schaden würde, ein Begriff, der in den Ohren dieser Schüler jedoch ein Fremdwort sein dürfte.
»Maik, du unterhältst dich gerade so angeregt mit deinem Nachbarn. Willst du uns nicht an deinen Erkenntnissen teilhaben lassen?«
Der Angesprochene sah sie provozierend mit halb geschlossenen Lidern an. Legte den Arm auf die Tischplatte, stützte sein Kinn auf die Faust. Sein Blick drückte unverhohlen seine Scheiß-drauf-Haltung aus. »We don’t need no education«, rief er theatralisch aus. »We don’t need no thought control.«
Sein Sitznachbar fühlte sich angestachelt. »Hey, teacher, leave them kids alone«, fuhr er fort.
Die Klasse lachte. Die beiden Klassenclowns wandten sich nach rechts und nach links, Triumph in den Augen. Hatten sie es der Alten da vorn mal wieder gezeigt!
In Situationen wie diesen ruhig und gelassen bleiben, kostete furchtbar viel Kraft. Sie dachte an das letzte Gespräch mit Maiks Mutter. Sie hatte mit beiden Eltern sprechen wollen. Doch Maiks Vater, ein viel beschäftigter Geschäftsmann, war wieder einmal unterwegs. Die Mutter, eine künstlich wirkende Frau mit Wespentaille und viel Make-up im Gesicht begann sofort ihr Leid zu klagen. Maik sei nach wie vor renitent, es werde immer schlimmer mit ihm, er gehorche einfach nicht, sie käme nicht an ihn heran. Ob sie, Henrike, als seine Vertrauenslehrerin nicht härter durchgreifen könne?
Ein Gespräch, wie sie schon etliche geführt hatte. Henrike kam es jedes Mal vor, als sei die Mutter so sehr in ihre eigenen Schwierigkeiten verstrickt, dass sie für die Probleme ihres Sohnes kein Gespür mehr hatte. Von ihr als Lehrerin wurde – wie so oft – erwartet, dass sie die Erziehungsdefizite ausgleichen und den Nachwuchs in die richtigen Bahnen lenken sollte. Eines dieser Defizite war unzweifelhaft mangelnder Respekt, doch wenn man solches diesen Kindern nicht unmissverständlich von klein auf beibrachte, hatten es die Pädagogen schwer mit ihnen.
»Ihr wollt mir doch jetzt nicht mit diesem alten Käse kommen?«, trumpfte sie auf. »Das Lied bezieht sich auf eine völlig andere Zeit und völlig andere Lehrmethoden.« Sie hörte selbst, wie lehrerhaft sie klang. So konnte man Typen wie diese beiden Störer nicht beeindrucken, das wusste sie. Zurück provozieren war das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: »Ihr zieht es also vor, dumm zu sterben. Nun, das ist euer Problem, nicht meins. Also haltet jetzt einfach mal die Klappe und stört die anderen nicht.«
Die beiden verzogen die Mundwinkel und rollten genervt mit den Augen. Immerhin blieben sie still.
Sie hatte sich schon manches Mal gefragt, was aus Schülern wie diesen beiden Sitzenbleibern später mal werden würde. Und was sie dagegen tun könnte, damit sie selbst erkannten, wie sehr sie sich mit ihrem Gehabe schadeten. Ihren Einfluss schätzte sie jedoch denkbar gering ein. Learning by doing, diese Methode war noch immer erfolgversprechender als Vorhaltungen zu machen. Ob sie einfach ihre Erfahrungen machen mussten und sehen, wo sie blieben? Erfahrungen kann einem niemand anders abnehmen, klar. Aber man brauchte Menschen, Verbündete, die man respektierte und die einem die richtige Richtung aufzeigten. Lehrer konnten durchaus solche Verbündete sein. Wenn man es denn zuließ. Sie hatte jedoch viel damit zu tun, diese Dinge immer wieder abzufedern.
»Büchner, der sehr jung starb, hätte dieses Stück wahrscheinlich nicht ohne fundiertes Medizinstudium schreiben können. Es geht darin auch um die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der wahre Woyzeck ist aufgrund medizinischer Gutachten für zurechnungsfähig erklärt worden. In seinem Stück jedoch lässt Büchner diese Frage offen«, fuhr sie mit dem Unterrichtsstoff fort.
Äußerlich mimte sie weiterhin die überlegene Lehrerin, innerlich seufzte Henrike. Sie gestand sich – wieder einmal – ein, dass sie sich Deutschunterricht so nicht vorgestellt hatte. So vieles scheiterte an der Interesselosigkeit ihrer Schüler. Gut, sie waren alle mitten in der Pubertät. Und in dieser Phase der heftigen Hormonschübe und der allgemeinen Verunsicherung musste man sich irgendwie auflehnen, auch ihre eigene Pubertät war ihr noch recht lebendig vor Augen. Aber mein Gott, musste das alles so anstrengend sein? Und musste