Gabriele Keiser

Versehrte Seelen


Скачать книгу

vielen anderen als Streber abgeurteilt. Über Nayla wunderte sie sich oft. Ausgesprochen klugen Beiträgen ihrerseits konnten manchmal höchst dümmliche Aussagen folgen, die verdeutlichten, dass sie irgendetwas Provokantes nachplapperte, das sie irgendwo gelesen hatte. Zu Woyzeck hatte sie bis jetzt noch nichts Differenziertes beitragen können.

      Henrike war sich sicher, dass die meisten ihrer Schüler noch nicht einmal das Stück gelesen hatten. Obwohl das ihre Hausaufgabe gewesen war. Und obwohl es ziemlich kurz war.

      Gut, Büchners Drama war 180 Jahre alt. Aber gleichzeitig hochmodern, weil es so viel über soziale Konstellationen und zwischenmenschliche Kommunikation aussagte. Und über das Wesen des Menschen. Büchner, der wie viele gute Schriftsteller, seiner Zeit voraus gewesen war, hat den Finger in offene Wunden gelegt. Natürlich ist die Sprache altbacken und gewöhnungsbedürftig. Aber es ist ein Stück Literaturwissenschaft. Ein wichtiges Stück Literaturwissenschaft. Und das Fragmentarische setzt viel Phantasie frei. Darauf hatte sie eigentlich gesetzt.

      »Wer kann was über den Inhalt wiedergeben?«, forschte sie weiter.

      Stille. Nur ihre beiden Lieblingsschüler hoben wieder die Hände.

      »Ich bin sicher, Denise und Sebastian können das. Was ist mit euch anderen?«

      Wie sie da saßen. Coolness vortäuschend. Sich vor lauter demonstrierter Lässigkeit auf ihren Stühlen fläzten, das Gesicht in die Hände gestützt. Dabei blasiert in die Gegend schauen. Langeweile aussendend. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich die Pädagogik früherer Jahre zurück. Als man einfach nach einem Stock griff und sich dadurch Respekt verschaffte. Wer nicht hören will, muss fühlen. Damals hatte man gehört!

      Was denk ich bloß für einen Blödsinn, ging es ihr durch den Kopf. Als ob man die Zeit zurückdrehen könnte.

      »Gut, dann lesen wir jetzt einige Dialoge. Vielleicht wird euch da manches klarer. Tobias, du bist der Tambourmajor. Sven ist der Hauptmann, Nayla liest die Marie. Und du, Sebastian, bist der Woyzeck.« Sie verteilte sämtliche Rollen aus dem Stück.

      Die meisten der angesprochenen Schüler murrten. Schließlich begannen sie, auf äußerst gelangweilte Weise ihren jeweiligen Text herunterzuleiern.

      Henrike hörte der Litanei eine Weile zu. Als Sven den Satz des Hauptmanns stotterte: »Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke«, reichte es ihr.

      »Och, Leute!«, rief sie genervt aus. »Das klingt ja grauenhaft.« Sie wiederholte den Absatz in einer angemessenen Intonation. »So, und jetzt erzählt euch Denise, worum es in diesem Stück geht.«

      Nachdem Denise den Inhalt strukturiert und treffend wiedergegeben hatte, entspann sich eine lebhafte Diskussion.

      »Der Woyzeck ist eifersüchtig auf den Tambourmajor«, sagte jemand. »Deshalb ermordet der später die Marie.« – »Der ist doch nicht ganz klar im Kopf, das merkt man daran, dass der Stimmen hört.« – »Auf dem trampeln alle herum.« – »Was soll das eigentlich mit den Erbsen? Hab ich nicht verstanden.« – »Na, der gibt sich doch als Versuchskaninchen her. Auf so ne blöde Idee muss man erst mal kommen.« – »Vielleicht kommt man auf solche Ideen, wenn man arm ist und kein Geld hat!« – »Also ich hab immer noch nicht richtig verstanden, warum der die Marie umgebracht hat. Und nicht den Tambourmajor oder den Doktor.«

      Henrike war erstaunt. Sogar Maik und Luis hatten sich an der lebhaften Diskussion beteiligt. Auch Vanessa, das Alphaweibchen mit der honigblonden Mähne und dem lässigen Outfit, die gern im Schulhof die lautstarke Anführerin herauskehrte, aber im Unterricht eher mit Schweigsamkeit glänzte, hatte einen Beitrag geleistet, der noch nicht mal so verkehrt war.

      Mit einem Mal war es still. Alle Augen waren auf Henrike gerichtet.

      »Sehr gut!«, nickte sie anerkennend. »Ich glaube, ihr habt verstanden, dass Woyzeck nicht einfach mal so die Marie umgebracht hat, sondern dass seiner Tat ein vielschichtiger Prozess vorausgegangen ist.«

      »Sie meinen also, ein Mord sei zu entschuldigen? Weil die anderen dran schuld sind?« Nayla hatte diese Frage gestellt. So wie sie sie anschaute, war sie wirklich an ihrer Antwort interessiert.

      »Das ist nicht so einfach zu beantworten. Was wir hier im Unterricht tun, ist die Tat vom Ende her beurteilen. Und das, was dazu führte, herauszuarbeiten. Und da gibt uns Büchner einiges an die Hand.«

      Sie freute sich über die Lebhaftigkeit ihrer vorher so trägen Schüler.

      »Das nächste Mal schauen wir uns genauer die Sache mit dem medizinischen Experiment an.« Sie klappte das gelbe Reclam-Heftchen zu. Wenn die Schüler dann genauso gut mitarbeiteten, konnte sie sich auf die nächste Stunde freuen.

      Ein Gedanke kam plötzlich wie aus dem Nichts angeflogen: Sie ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, wie sich wohl ein Leben ohne Martin anfühlte.

      Bonn, Venusberg

       8. Kapitel

      Bei Schellenbrink auf der anderen Seite des Flurs öffnete niemand. Helena ging ein Stockwerk höher und klingelte bei Beck. Eine junge Frau im luftigen Sommerkleid öffnete sofort und bat sie in die Wohnung, in der ein brummender Ventilator vergeblich versuchte, die warme Luft etwas abzukühlen.

      »Sie hatten uns benachrichtigt.« Helena zückte ihren brandneuen Dienstausweis. Blau und fälschungssicher ausgestattet mit Hologrammfolie. Das Wort »Polizei« neben dem nordrhein-westfälischen Landeswappen hob sich deutlich hervor. Ihr Portrait war das typische Produkt eines nicht besonders talentierten Fotografen, sie war frontal abgelichtet worden, das schmale Gesicht glänzte, die dunklen Haare trug sie zurückgebunden. Ihr halbherziges Lächeln sah immerhin einigermaßen seriös aus. Aber sie glich darauf nicht im Geringsten dem Bild, das sie von sich im Kopf hatte.

      Es gab eine Zeit, da hatte sie ihr Haar in allen möglichen und unmöglichen Farben gefärbt. Rot, blau, grün, rosa. Bis sie irgendwann dahinterkam, dass es nicht auf die Haarfarbe ankam, schon gar nicht auf eine allzu künstliche. Seitdem ließ sie ihr Haar wachsen, wie es ihm gefiel, in seiner Naturfarbe, für die die Friseurbranche keine richtige Bezeichnung hatte, irgendwas zwischen schwarz und braun. Von den vielen kleinen Narben, die die zahlreichen Piercings in ihrem Gesicht hinterlassen hatten, konnte man auf dem Foto nur die in der linken Augenbraue ausmachen. Und das auch nur, wenn man genauer hinsah.

      Marianne Beck warf einen kurzen Blick auf den Ausweis und nickte. »Ich hab den Gestank bemerkt und … Na ja, man vermutet ja nicht gleich das Schlimmste. Aber nachdem der Herr Blankenhain auch nicht auf mein Klingeln und Klopfen hörte, dachte ich, man muss was tun. Und jetzt …« Sie hob den Blick und sah Helena direkt in die Augen. »Sagen Sie, ist er wirklich ermordet worden?«

      »Haben Sie Herrn Blankenhain gut gekannt?«, fragte Helena statt einer Antwort.

      Aber auch die junge Frau antwortete mit einer Gegenfrage: »Kommen Sie aus Berlin? Ich mein, ich bin öfter in Berlin – es ist so schön dort, so ganz anders als …«

      »Ja, ich komme aus Berlin«, fiel Helena ihr ins Wort. »Aber das tut momentan nichts zur Sache. Bitte beantworten Sie meine Frage.« Sie hoffte, dass das nicht allzu barsch klang, aber momentan war absolut keine Zeit für unverbindlichen Smalltalk.

      »Entschuldigen Sie.« Die junge Frau fühlte sich ertappt. Strich sich übers Kleid. Es gab ein leise knisterndes Geräusch. »Also nein, ich hab Herrn Blankenhain nicht gut gekannt. Ich wohne ja erst seit Kurzem hier, ich hab vorher in Tannenbusch gewohnt, nach meiner Scheidung musste ich mir eine andere Bleibe suchen. Wie das so ist.«

      Sie hielt kurz inne. Helena warf ihr einen Blick zu, der ihr hoffentlich deutlich signalisierte, dass sie endlich zur Sache kommen sollte.

      »Ich kenne die Mitbewohner nur von kurzen Begegnungen aus dem Treppenhaus«, fuhr Marianne Beck fort. »Hier wohnen fast nur ältere Leute. Niemand in meinem Alter. Da sagt man sich guten Tag und geht seinen Weg. Ich hab nicht den Eindruck, dass man hier mehr voneinander will. Ist eigentlich schade. Wenn’s nach mir ginge, hätte ich zu allen ein gutes Verhältnis. Man weiß ja nie, was kommt und wie man einander braucht. Die Frau Schellenbrink zum Beispiel, die direkte Nachbarin