die Schreibtischkante, steckte den Tupfer in das Röhrchen zurück und schraubte es zu. »Kleine Blutantragungen. Vielleicht haben wir Glück und es handelt sich um das Blut des Täters.«
Dann ein Treffer in der bundesweiten Gendatei und der Fall ist gelöst. Tja, schön wär’s.
»Also wenn Sie mich fragen, das sieht schwer nach Affekt aus«, sagte Marco Baumgart, der offensichtlich der Chef war.
Sie fragt aber keiner! Es lag ihr auf der Zunge. Glücklicherweise hatte sie es nicht laut ausgesprochen. Es war nicht gut, wenn sie sich gleich zu Beginn an ihrem neuen Wirkungsort wegen ihrer angeblich schroffen Art Feinde machte. Obwohl sie fand, dass sie lediglich ehrlich war. Oder auch nur gradeheraus. Jedenfalls nicht so verlogen wie manche ihrer Zeitgenossen.
Jetzt schon von einer Affekttat zu sprechen, schien ihr reichlich verfrüht. Das versperrte den Blick. Gerade am Anfang einer Ermittlung hieß es offen bleiben für alle möglichen und vielleicht auch unmöglich erscheinenden Erklärungen.
Sie durchschritt die anderen Räume. Das Schlafzimmer machte einen ebenso gediegenen Eindruck wie Wohn- und Arbeitszimmer. Auf dem schmalen Bett lag eine altmodische Tagesdecke. An der Wand hingen Tierfotos. Ein Panther kurz vor dem Sprung. Eine Elefantenherde mit einem Kleinen, das sich eng an die Mutter drückte.
Auch in der Küche gab es keinerlei Auffälligkeiten. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick.
»Irgend was Verwertbares?«, fragte sie einen weiteren Techniker, der prüfend ein Wasserglas hochhielt, das er zuvor mit Rußpulver bepinselt hatte.
»Das wird sich zeigen«, antwortete er ausweichend.
Sie warf einen letzten Blick auf die Szenerie. Bieder, gutbürgerlich, so würde man eine solche Wohnung beschreiben. Der alte Herr hatte hier offensichtlich alleine gelebt. Jedenfalls gab es keine Anzeichen von einem Mitbewohner oder einer Mitbewohnerin. Im Bad standen einige wenige Toilettenartikel, wie Männer sie benutzten. Und es gab nur eine Zahnbürste. Einige wässrige Blutspritzer im Waschbecken zeugten davon, dass der Täter sich gereinigt haben musste. Das Handtuch hatte er offensichtlich nicht benutzt, es hing sauber und ordentlich über dem Handtuchhalter.
Was war mit den Angehörigen? Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass in der gesamten Wohnung Fotos von Menschen fehlten. Weshalb hatte sich dieser Mann lediglich mit Reproduktionen von Städten, Landschaften und Tieren umgeben? Hatte er keine Familie? Hatte er sich mit ihr überworfen? Oder war sie ihm nicht wichtig genug?
Sie dachte an das Büro ihres Chefs. Auf seinem Schreibtisch standen mehrere Fotos von seiner Familie. Frau, Kinder, Schwiegerkinder, Enkel. Alles so, wie es sich für einen braven deutschen Mann gehörte. In ihrem eigenen Büro gab es kein einziges Foto von Menschen, genau wie in ihrer Wohnung. Aber sie war ja auch keine brave deutsche Frau. Und ihre Familienverhältnisse waren geklärt. Zumindest für sie.
Sie schob die Kapuze nach hinten und öffnete ein wenig den Reißverschluss. Langsam wurde die Hitze unter dem Overall unerträglich. Beim Hinausgehen blieb ihr Blick an dem Ölbild über dem Plüschsofa haften. Das Meer war äußerst naturalistisch gemalt. Das Schiff zwischen den hohen Wellen hatte ordentlich Schlagseite. Als ob es kurz vorm Umkippen wäre. Sie hörte die Wellen heranrollen, spürte die Gischt, sah die Schaumkronen, die Lichtreflexe. Ein Wellenklangbild, das in voller Schönheit den möglichen Untergang zeigte. Beim Betrachten fühlte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde, als sei sie mittendrin im Geschehen.
Schiffe ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht. Gott ist dein Begleiter, er verlässt dich nicht.
Merkwürdig, dass sie jetzt an diesen alten Spruch denken musste. Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie den aufgeschnappt hatte. Und gottesfürchtig war sie schon gar nicht.
Bonn, Hollsteinkolleg
7. Kapitel
»Freu mich auf dich!«
Henrike sah die Buchstaben vor sich. Jeden einzelnen. Dahinter ein Ausrufezeichen und ein pinkfarbenes Herz.
»Freu mich auf dich!« Eigentlich ein harmloser Satz. Der jedoch auf ungebührliche Weise an Bedeutung gewinnt, wenn man ihn auf dem Handy seines Freundes liest. Und nicht weiß, wer sich da auf den Freund freute.
Die Nachricht hatte in Martins WhatsApp-Account gestanden. Unter einem Kontakt namens »Lina«. Ohne Foto. Es war die einzige Nachricht von Lina, aber es war ja keine Hexerei, einen Verlauf zu löschen. Vielleicht spielte diese Lina schon länger eine Rolle in Martins Leben und sie, Henrike, hatte das nicht mitbekommen.
»Freu mich auf dich!« Die Buchstaben begannen zu flimmern.
Wer könnte diese Lina bloß sein? Eine Kollegin? Eher nicht. Eine Schülerin? Nein, auf eine solche Stufe würde Martin sich nicht begeben, dafür kannte sie ihn zu gut. Das hoffte sie zumindest.
Vielleicht war sie dieser Lina sogar schon mal begegnet? Halt mal: Wie hieß die Kleine, Dunkelhaarige neulich, die Martin so stürmisch umarmt hatte, als sie sich zufällig in der Stadt begegneten? Und da gab es doch auch die langbeinige Blonde, die Martin in ihrer Stammkneipe hemmungslos angeflirtet hatte, und das in ihrem Beisein. Von der er lachend behauptete, sie noch nie gesehen zu haben. Und süffisant bemerkte: »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
Klar hatte sie das lauthals abgestritten. Sie und eifersüchtig? Niemals! Beziehung hieß, dem anderen seinen Freiraum zu lassen. Ihn bloß nicht einengen. Diese Maxime hatte sie stets propagiert. Und im Grunde genommen auch fest daran geglaubt. Bis sie sich dabei ertappte, wie sie immer öfter Martins Handy checkte. Und siehe da: Wer sucht, der findet.
Mann, wo war sie bloß hingeraten? Machte sich wegen ein paar belangloser Worte einen derartigen Kopf. Dabei gab es doch wahrlich Wichtigeres, um das sie sich Gedanken machen sollte. Als sie Paul Behrends von den Aktenfunden auf dem Speicher berichtet hatte, war er völlig aus dem Häuschen und bat sie inständig, gezielt nach Unterlagen aus den 50er und 60er Jahren zu suchen. Das sei sein Schwerpunkt. Für den er unbedingt authentisches Material brauche.
Daraufhin war sie ein zweites Mal auf dem Dachboden gewesen und hatte nach den genannten Akten gesucht. Die der Nachkriegsjahre befanden sich in einem separaten Winkel des Raumes. Auch sie waren augenscheinlich sehr umfangreich.
In diesen Akten war vornehmlich von »Fürsorgeerziehung« die Rede, ein veralteter Begriff für die heutige Kinder- und Jugendhilfe des Jugendamtes. Als »Fürsorgezöglinge« wurden hauptsächlich Jugendliche ab zwölf Jahren bezeichnet, die in irgendeiner Weise aufgefallen waren und daraufhin ins Heim eingewiesen wurden, wo Erziehungskorrekturen vorgenommen werden sollten, wie es in einer Broschüre hieß. Die Gründe, weshalb die Jungen ins Heim gekommen waren, muteten jedoch fremd und nichtig an. Oftmals war angegeben: Unehelich geboren. Nichts weiter. Offenbar reichte dieser angebliche Makel, von der Gesellschaft ausgeschlossen und weggesperrt zu werden.
Gott sei Dank haben sich die Zeiten geändert, dachte Henrike. Heutzutage regte sich niemand mehr über ein uneheliches Kind oder über ein geschiedenes Paar auf. Höchstens ein paar ewig Gestrige.
Sie hatte dem Studenten versprochen, über ein Schüler-Projekt nachzudenken, denn alleine konnte sie unmöglich diese vielen Akten sichten. Doch jetzt kamen erst mal die Ferien. Zwei Wochen wollte sie zusammen mit Martin auf Lanzarote verbringen. Der Urlaub war bereits gebucht und sie freute sich darauf.
Wahrscheinlich war die Sache mit dieser Lina ganz harmlos und löste sich in Wohlgefallen auf, wenn sie Martin danach fragte. Sie sollte endlich aufhören, die Dinge überzuinterpretieren. Unwillkürlich musste sie lächeln. Das war es doch, was sie ihren Schülern beizubringen versuchte: Die Sätze für sich sprechen lassen. Die Wirkungsabsichten herauslesen. Zusammenhänge erkennen. Sachlich bleiben. Und nicht über das Ziel hinausschießen.
Sie öffnete die Tür zum Klassenraum und trat ein. Aus ihrer Tasche nahm sie die Reclam-Ausgabe von Büchners Woyzeck und lehnte sich gegen ihr Pult. Ihr Blick fiel auf den von ihr angestrichenen Satz »Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.«
Glatt abergläubisch könnte man da werden.
Sie